Die Grenzen des Kollektivs

Von Jürgen Stratmann |
Die Online-Enzyklopädie "Wikipedia" beweist, wie erfolgreich gemeinsames Schreiben und Denken sein kann. Aber ist auch Literatur als Gemeinschaftsprojekt möglich? Der englische Verlag "Penguin Books" hat es drei Monate lang mit dem Internet-Experiment "A Million Penguins" ausprobiert. Das Ergebnis: ein Riesenwerk, bestehend aus sieben Einzelromanen, zahllosen Erzählsträngen, hitzigen Kommentaren. Und die Erkenntnis: Das Web 2.0 hat Grenzen.
Bloß zielloses Gewimmel, Gekrabbel, Geschwirr, so wirkt es, wenn man schwärmendem Geziefer bei der Arbeit zusieht –

Aber die Resultate solch chaotischen Gewusels: beachtlich - zum Beispiel ein Bienennest, ästhetisch überzeugend die sechseckige Wabenstruktur, dabei leicht, stabil, voll klimatisiert - der Schwarm - ein Meister!

"Das trifft unzweifelhaft in ganz vielen Bereichen zu..."

ist auf Seite des Internetliteraturprojekts "A Million Penguins" zu lesen. Das entsprechende Schlag-, pardon, "Buzzword":

"Crowdsourcing – die Weisheit der Masse, Social Networking"."

Längst bewährt in vielen Bereichen, in der Wissenschaft, in der Kunst, dem Film- und Fernsehgeschäft werde "kollaborativ" produziert.

""Aber was ist mit dem Roman? Ist der Roman gegen diese Mode immun?"

Das ist die Frage!

Man wolle erkunden, ob man anstelle eines einzelnen Autors nicht die geballte Kreativität eines Autoren-Kollektivs in Beschlag nehmen könne, verkündete der britische Verlag Penguin Books, nämlich durch die schwer gehypte Web 2.0 Community - der Roman als kreativer Testfall für die Schwarmintelligenz, denn die ist...

"in guten Momenten ist sie für eine Weile mehr als die Summe der einzelnen Teile."

Der Glaube an solcherart Literatur hat allerdings Tradition.
"Seit es das Web gibt, versuchen ja Menschen zusammen auch innerhalb des Webs Literatur zu produzieren."

Enno E. Peters war Mitbegründer des virtuellen Netz-Literatursalons "Berliner Zimmer":

"Das haben wir 1999 entwickelt, insofern ist es ja schon ein echter Dinosaurier. Viele glaubten damals, wir lesen in Zukunft überhaupt keine Bücher mehr, die Euphorie war dann ja auch recht schnell wieder weg vom Fenster."

Mit dem Literatur-Projekt "Tage-Bau" hat das Berliner Zimmer schon damals vieles erprobt, was der Pinguin Verlag dieser Tage als großes Experiment ausgibt:

"Wir haben 'ne ganze Menge Autoren gehabt, die gefragt haben: 'Veröffentlicht ihr nicht mal unsere Gedichte oder Kurzprosa?' Und wir haben gedacht, das ist einerseits was, was man sicherlich mal automatisieren könnte – und letztendlich haben wir dann eine Technologie benutzt, die heute gang und gäbe ist, nämlich das Bloggen."

So konnten die Leser direkt die geposteten Inhalte kommentieren.

"Und jetzt nennt man es Web 2.0, und da macht man einfach mit!"

Mit einem großen Unterschied,

"dass die Autoren gemeinsam an einer Geschichte schreiben. Das hat der Tage-Bau nie versucht."

Aus gutem Grund, erklärt der Lyriker Andreas Humburg, seit Jahren Mitglied der Tage-Bau-Gruppe:
"Die Erfahrung, die ich gemacht habe, gerade mit mehreren Autoren an einer Sache zu schreiben, sogar wenn man sie kennt und sich mit ihnen abspricht, ist es meiner Ansicht nach wahnsinnig schwer, überhaupt irgendetwas Zusammenhängendes zu machen."

Die Strategie des Pinguin Verlags: Wenn jeder Eintrag nach dem Muster der Online-Enzyklopädie "Wikipedia" von anderen Nutzern stetig verbessert werden könne, werde schon etwas Brauchbares entstehen. Der Name dieses Konzepts: "Wikinovel".

"Man kann an den Texten verändern, die ein anderer geschrieben hat? Das wusste ich noch nicht" Ach deswegen ist da immer so ein großer Stress... - das ist super, aber das lassen wenige Autoren mit sich machen, eigentlich."

Dabei geht es ja auch ganz und gar nicht um Autoren, wie die Spielregeln klären:

"'A Million Penguins' ist kein Forum zur Veröffentlichung kompletter Geschichten - Penguin macht das nicht, um neue Talente zu entdecken."

Talente haben sich dann offenbar auch mehrheitlich zurückgehalten – stattdessen sah man sich nach immenser Nonsens-Flut gezwungen, der anarchistisch-ausufernden Kreativität des Schwarms eine redaktionelle Ebene vorzuschalten.

"Da sind ja schon noch so Autoren im Hintergrund tätig, zum Beispiel Kate Bullinger, die macht ja auch so Media-Fiktion, ist auch so ´ne Print-Autorin, da hab ich im Blog gesehen, dass deren Arbeit darin besteht, irgendwelche Spuren von so Porno-Attacken zu beseitigen – die könnte doch auch was Besseres machen, oder?"

Mit ihrem preisgekrönten Hypertext "Zeit für die Bombe" gehört Susanne Berkenheger zu den erfolgreichsten Netz-Autorinnen der Frühzeit. Sie sieht das Pinguin-Experiment zwiespältig:

"An sich freut mich das natürlich, wenn Netzliteratur als Begriff mal wieder fällt."

Auch wenn von so was wie Renaissance des Genres keine Rede sein könne.

"Jetzt kommt halt die Spätphase, wo jeder mal darf. Also ich hab eigentlich total gelacht. Es fällt mir wirklich schwer zu glauben, dass da irgendwer gedacht hat, es kommt wirklich eine interessante Geschichte dabei raus – glaube ich nicht."

Wohlmöglich steckt kluges Kalkül hinter dem vermeintlichen Experiment: Der Verlag hat von Anfang an die Möglichkeit erwogen, das Werk letztendlich zu drucken. Aber wer will so was lesen? Netzliteratur ist Literatur für Schreiber!

"Aber Schreiber lesen natürlich auch gern.".

Vor allem Texte, an denen sie mitgeschrieben haben – im Fall von "A Million Penguins": Abertausende.

"Und das ist letztlich auch die Leserschaft."

Aber vielleicht ist ein wirr wucherndes Konvolut, wie es "A Million Penguins" letztendlich geworden ist, ja die adäquate literarische Repräsentation der netzbasierten Schwarm-Intelligenz. Dazu der Text "Möbiusschleife", Kapitel 16, Roman A, Sektion 5:

"Carlo parkte seinen Rollstuhl neben der Theke und schüttelte verzweifelt den Kopf: Er würde niemals wissen, was Jim ihm sagen wollte. Sein Leben war voll verdrehter Handlungsstränge und halb fertiger Sätze, und das war... Wie bekommt man da Sinn hinein?

Ein großer Mann mit einem großen Buch betrat die Bar – war es das Buch, von dem alle sprachen?

John bemerkte Carlos Interesse: 'Willst du es lesen? Wo möchtest du beginnen?'
'In der Mitte – aber ich habe keine Zeit!'
'Wie endet es? Fragte er John ungeduldig.'
'So!'"