Die Grenzen der Toleranz

Von Henry Bernhard · 17.10.2013
Als der "Nationalsozialistische Untergrund" aufflog, rückte das auch die Stadt Jena in ein schlechtes Licht: Von dort stammen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Eine Ausstellung und eine Performance auf dem Marktplatz will nun die eigenen Grenzen der Toleranz bewusst machen.
"Ach, da fehlt eins! Ach, du Schande, jetzt fehlt hier auch noch eins! Was ist das denn hier?"

Die Künstlerin Andrea Knobloch ist eine große Frau, 1,80 Meter, blond, offensiv freundlich. Gerade ist sie dabei, die Nerven zu verlieren. Sie wühlt sich durch einen Stapel Blätter. In einer Stunde soll ihre Performance im Jenaer Stadtspeicher laufen - und irgend etwas stimmt nicht.

"Konstantin, ich versteh nix mehr! Bild eins, das ist der Start: 'Sieh mich, wenn ich dich ansehe': Jetzt kommt das zweite: 'Zeig dich, wenn ich dich ansehe'. Also habe ich die erste Aktion, 'zeig', die zweite ist 'dich'. Das stimmt. 'zeig Gesicht', das ist hier die dritte Aktion, 'Gesicht'. Und vier: 'Zeig dein Gesicht'. Ach, hier ist das! Ach, das war durcheinander! Oh! OK, so muss das! Oh, ist das alles kompliziert!"

Entspannung macht sich breit in Andrea Knoblochs Gesicht. Sie koordiniert eine Performance, in der ihre Helfer Buchstaben in die Glasfassade des Stadtspeichers am Jenaer Markt stellen, so dass ganze Sätze, Aussagen entstehen. Das klingt erst mal leicht.

"Also, es ist grundsätzlich so bei solchen Projekten, dass, wenn man wüsste, was es bedeutet, dann würde man vielleicht noch mal drüber nachdenken, ob das jetzt unbedingt sein muss. Aber das Schöne an solchen Sachen ist ja, dass man sich dann immer voller Begeisterung da rein stürzt und diese ganzen Probleme dann doch gelöst kriegt."

Die gut einen halben Meter hohen schwarzen Buchstaben für die Performance stehen noch an den Wänden im Besprechungsraum, jeder anders, manche elegant, manche dilettantisch ausgeschnitten. Die Performer sind eingewiesen, haben ihren Laufplan. Jeder weiß, was er zu tun hat. Ein Dutzend meist junger Leute, Studenten, Kunstvereinsmitglieder, Freunde. Alle haben letzte Woche zusammengesessen und sich - mit der Geschichte des NSU im Hinterkopf - Sätze ausgedacht, die provozieren, die eigenen Grenzen der Toleranz aufzeigen.

"Eine Botschaft als Schluss-Botschaft"
"Wir haben letztes Mal eine Botschaft als Schluss-Botschaft gehabt, das war: 'Sieh mich, wenn ich dich ansehe!' Und dazu gab's halt so eine Geschichte von jemandem, der in der Straßenbahn gefahren ist, gegenüber saß eine Frau, ganz und gar faszinierend in so einem Punk-Dress, mit 'ner wahnsinnigen Frisur. Und er konnte einfach nicht anders als sie angucken die ganze Zeit. Und irgendwann hat sie dann zu ihm gesagt: 'Glotz mich nicht an, Alter!'"

Alle verteilen sich auf den Etagen, gehen an ihren Platz, an die Buchstaben. Andrea Knobloch, die gemeinsam mit Ute Vorkoerper die Lichtinstallation und Performance entwickelt hat, geht nach draußen auf den Marktplatz. Die Marktstände sind verschwunden, die Kehrmaschinen gerade durch, ein einsamer Dudelsackspieler tönt noch durch die Dämmerung. Knapp 20 Zuschauer haben sich versammelt.

"Ähm... Hallo! Jetzt geht's los! Das ist das Startbild der zweiten Performance. Man weiß nicht, was passiert, aber wir gehen's jetzt an. Also, herzlich Willkommen zum 'Raum für grenzwertige Mitteilungen'. Und ich gebe jetzt den Startschuss, Conny! Es geht los! Bild eins: Der dritte Stock ist gefragt. 'Zeig dich' kommt jetzt."

Den Blick nach oben an die Fassade des Hauses gerichtet, spricht sie Anweisungen in ihr Handy. Das Haus des Jenaer Kunstvereins ist komplett verglast und hell erleuchtet, in den Fenstern stehen Buchstaben: "Sieh mich, wenn ich dich ansehe!", "Zeig dich, wenn ich dich ansehe!", "Zeig dein Gesicht, wenn ich dich ansehe!" Nicht alles klappt flüssig, mal ist ein Buchstabe schief, mal zwei vertauscht. Der Charme des Gegenwärtigen.

Wieder draußen. Der Stadtspeicher glüht gelb in die Dunkelheit, die Buchstaben scheinen zu leben: "Frauen wollen Burka tragen", "Frauen sollen Burka tragen", "Frauen wollen nur hier Burka tragen". Der Wechsel geht immer flüssiger. Noch immer stehen 20 Leute auf dem Marktplatz, Blick steil nach oben.

"Ist interessant! Es wechselt ja ständig und man rät ein bisschen mit, was als nächstes kommt."

"... verleiten auf jeden Fall zum Nachdenken! Das war ja eben, 'Frauen sollen nur hier nicht Burka tragen' oder so ähnlich. Das ist ja auch ein bisschen provokativ."

"Ich finde das sehr schön! Zum einen die Dämmerung und diese leuchtende Fassade - ich finde, das hat 'ne wirklich poetische Stimmung, die davon ausgeht. Und auch die Menschen zu sehen, wie sie sich hinter der Fassade bewegen, wie sie sich auch manchmal ein bisschen vertun, wie's manchmal stockt, wie's manchmal schneller geht, wenn man da steht und rätselt. Das finde ich sehr schön."

Erleichtert, beglückt - und verfroren
Die meisten Zuschauer sind stehen geblieben, manche geplant, viele zufällig gekommen. Am Ende kommt das Performer-Team raus und verbeugt sich. Unter ihnen Anne-Kathrin und Georg, Studenten der Kunstgeschichte.

"Und - zufrieden?"

"Ja, sieht doch cool aus! Ist nur schade, dass man nur das letzte Bild sieht und den ganzen Prozess, der sich dahinter verbirgt, nicht mitbekommt."

"Also, man hat nur seine Etage im Kopf und weiß, was man da legen muss, aber alle anderen: Keine Ahnung, was da passiert!"

Performer und Zuschauer unterhalten sich noch eine Weile und verschwinden dann in der kalten Dunkelheit. Andrea Knobloch, die Künstlerin, strahlt, erleichtert, beglückt - und verfroren.

"Und - zufrieden?"

"Ja! Es ist immer total aufregend, ob es klappt und so, und alles. Und was auch toll war, dass das Publikum sich noch vermehrt hat. Wenn sich das jetzt 'rumspricht und alle sagen, 'Ach, da gehen wir wieder hin!', das kann ja auch passieren."
Mehr zum Thema