Die grausame Geschichte Äthiopiens

10.01.2013
In ihrem Erstlingswerk erzäht Maaza Mengiste die Geschichte des politischen Umsturzes im Äthiopien der 1970er-Jahre aus der Sicht einer Mittelstandsfamilie. Zeitweilig wirkt der Roman fast didaktisch. Doch sein großes Verdienst ist es, den Lesern ein Stück äthiopischer Geschichte auf sehr persönliche Weise nahezubringen.
Hailu arbeitet als angesehener Arzt in Addis Abeba im Krankenhaus. Sein älterer Sohn Yonas ist Dozent für Philosophie an der Universität, verheiratet mit Sara und hat eine kleine Tochter Tizita. Der jüngere Sohn Dawit studiert und nimmt zum Entsetzen seines Vaters an Demonstrationen gegen das archaische Feudalsystem des Kaisers Haile Selassie teil. Hailu möchte die fast heile Welt seiner Familie bewahren und ist im Wesentlichen mit der Sorge um seine Frau Selam beschäftigt, die unheilbar krank ist, was er jedoch als Ehemann nicht akzeptieren kann. Doch sowohl im Privaten als auch auf politischer Ebene nimmt das Schicksal seinen Lauf. Am Ende des ersten Teils muss sich die Familie mit dem Tod Selams abfinden. Und Kaiser Haile Selassie ist nicht nur gestürzt, sondern wird, wie viele adelige Minister, umgebracht.

Der zweite Teil beginnt drei Jahre später. Die Revolution hat sich zu einer sozialistischen Diktatur unter dem Militärrat, dem "Derg", gewandelt. Ausgangssperren, Enteignungen, Zwangsentsendungen von Studenten aufs Land, öffentliche Hinrichtungen von Oppositionellen und ein Krieg mit Somalia bestimmen den Alltag. Während Hailu und Yonas weitgehend versuchen, sich mit dem Alltag zu arrangieren und möglichst wenig auffallen wollen, geht Dawit in den Untergrund. Als er eines Tages die Leiche einer Nachbarin auf der Straße sieht, bringt er sie ohne viel nachzudenken zu ihrer Familie. Zur Schau gestellte Leichen zu bergen, wird seine Hauptaufgabe in der Untergrundorganisation, Unterstützung erhält er dabei von seiner Schwägerin Sara. Während Yonas weiterhin versucht, die Augen vor den Veränderungen zu verschließen, bezieht auch Hailu Position, als von ihm verlangt wird, ein grausam verstümmeltes Folteropfer am Leben zu erhalten. Hailu "erlöst" die junge Frau und wird dafür mit Gefängnis und Folter bestraft.

Maaza Mengiste beschreibt chronologisch sehr genau und dicht an den Personen die Entwicklung der einzelnen Charaktere. Sie zeigt ihre Verstrickungen und die zunehmende Hoffnungslosigkeit, die aufgrund der vielen Demütigungen entsteht. Ganz gleich, welchen Weg die Protagonisten einschlagen, unter der Willkür des Regimes zerbrechen ihre Persönlichkeiten und letzten Endes zählen alle zu den Verlieren, auch wenn Hailus Familie Bestand hat.

Maaza Mengiste beschreibt die Entwicklung in einer klaren, recht einfachen Sprache. Nur an zwei Stellen macht sie einen fast surrealen Exkurs. Im ersten Buch lässt sie Kaiser Haile Selassie in seiner Zelle in eine Traumwelt entschweben, in der er in Ich-Form seine göttliche Abstammung und die Geschichte seines auserwählten Volkes rekapituliert. Im zweiten Teil beginnt Hailu unter der Folter einen Dialog mit seiner verstorbenen Frau, so dass für kurze Zeit offen bleibt, ob er noch unter den Lebenden weilt.

Zeitweilig wirkt der Roman fast didaktisch, als wolle die Autorin den Lesern mit aller Macht die grausame Geschichte Äthiopiens nahe bringen. Dazu gehören sehr lange und explizite Beschreibungen der verschiedenen Foltermethoden und Grausamkeiten des Regimes. Der große Verdienst des Romans ist es, den Lesern ein Stück äthiopischer Geschichte auf sehr persönliche Weise nahezubringen, zumal es nur sehr wenig Literatur aus und über Äthiopien auf dem deutschen Markt gibt.

Besprochen von Birgit Koß

Maaza Mengiste: Unter den Augen des Löwen
Aus dem Englischen von Andreas Jandl
Afrika Wunderhorn 2012
318 Seiten, 24,80 Euro