Die Grass-Debatte und die deutsche Linke

Von Norbert Seitz |
Sein 60-jähriges Schweigen, die Beschönigung, ja Verfälschung der eigenen Biografie wird Günter Grass in diesen Tagen als unverzeihliches Versäumnis zur Last gelegt.
Dass er mit seinem späten Outing auch noch Werbung für sein neues Buch "Beim Häuten der Zwiebel" betrieben haben könnte, käme als potenzielle Geschmacklosigkeit noch hinzu.

Und selbst das verständnisheischende Motiv, es habe endlich "rausgemusst", verblasst angesichts der Vermutung, dass er ohnhehin in Kürze archivarisch entlarvt worden wäre.

Wohlweislich geht es nicht um seine formelle Zugehörigkeit als 17-Jähriger zur verbrecherischen Waffen-SS, wie nahezu alle Kritiker vorausschicken, um genau nicht in die Spur jener moralischen Selbstgerechtigkeit - oder anders gesprochen: in sein bisheriges Fahrwasser - zu geraten.

Über des Nobelpreisträgers liederliche Verschwiegenheit ist im Grunde in den letzten Tagen alles gesagt worden. Reden wir also über den intellektuellen Verlust, den sein erwartbares Ausscheiden aus dem öffentlichen Diskurs für unsere kurzatmige Mediengesellschaft haben könnte.

Günter Grass war streng genommen kein klassischer Linksintellektueller, denn seine Interventionen waren auf Seiten der Linken immer mehr als umstritten, standen sie doch stets unter dem Verdacht einer ziemlich penetranten Parteinahme für die SPD, mit der der Trommler Willy Brandts häufig in eine schiefe apologetische Position geriet und sich den Ruf eines schrecklichen Vereinfachers erwarb.

Insofern sind auch die legendengetränkten Urteile dieser Tage, wonach unserer Republik eine moralische Instanz abhanden käme, fern jeder realistischen Einschätzung seines wahren intellektuellen Einflusses auf die Berliner Politszene.

Schließlich war Günter Grass neben dem Plakatkünstler Staeck der letzte Vorzeigeästhet einer einst von vielen Künstlern umschwirrten SPD. Weshalb die Reaktionen auf seinen moralischen Absturz aus dem sozialdemokratischen Umfeld auch merkwürdig einsilbig ausfallen.

Vor allem muss man dort der bitteren Frage ausweichen, wie ein Kanzler Willy Brandt als früherer Emigrant wohl reagiert hätte, wenn er vom Nazi-Vorleben seines ohnehin schon sehr nervigen Fürstenberaters erfahren hätte.

Stattdessen gefällt man sich im SPD-Milieu nunmehr in Ablenkungsmanövern. Man könne Günter Grass seinen literarischen Rang nicht streitig machen, heißt es da zum Beispiel abwiegelnd.

Aber wer wollte das ernsthaft? Haben wir nicht gerade die Jahrestage des frühen Nazianbeters Gottfried Benn und des stalinistisch verdorbenen Bertolt Brecht begangen und dabei das literarische Werk von politischen Irrtümern zu trennen vermocht?

Andere überdrehen, man wolle Grass zur Unperson erklären, dabei handele es sich um einen Rachefeldzug gegen einen großen Moralisten der deutschen Literatur. Einige Gegner hätten nur darauf gewartet, ihn an den Pranger zu stellen.

Welch eine maßlose Überschätzung der Grass´schen Bedeutung für die deutsche Politik. So stellt etwa die Schriftstellerin Julie Zeh fest, dass ihre Generation den unbequemen Mahner nie als moralische Instanz wahrgenommen habe.

Dennoch legte Hans Mommsen noch eins drauf und klagte an, dass Grassens politisches Vermächtnis offenbar in Stücke geschlagen werden soll. Welches Vermächtnis hier gemeint ist – bleibt das Geheimnis des Historikers.

Henryk M. Broder liegt sicher nicht ganz falsch mit seiner Meinung: Wenn immer Grass sich zur aktuellen Politik zu Wort melde, rede er "wohlfeilen Unsinn".

Erinnern wir uns: In der Historiker-Debatte vor 20 Jahren gelang ihm in atemberaubendem Tempo ein fliegender Wechsel von den inflationären Nazi-Analogien, mit denen auch er die frühe Bundesrepublik überzogen hatte, zur rituell erstarrten These von der historischen Einmaligkeit des Holocaust.

Die letzte große Pose als linker Großkritiker leistete sich Günter Grass in der Frankfurter Paulskirche 1998 in seiner Laudatio auf den Friedenspreisträger Yasar Kemal, als er die Asylpolitik der Bundesregierung "einer demokratisch abgesicherten Barbarei" bezichtigte. Ernst genommen wurde er mit solch maßloser Polemik nicht.
In seinem jüngsten Interview mit Frank Schirrmacher präsentiert uns der krude Raisonneur einen letzten analytischen Querschläger. Im Nachkriegsbiedermeier der Adenauer-Ära soll es danach spießiger zugegangen sein als selbst unter den Nazis.

Da halten wir uns doch lieber an einen politischen Freund und wohlwollenden Kritiker wie Egon Bahr, der Grass nunmehr rät, künftig seinen moralischen Rigorismus zu zügeln, was freilich der kaum zähmbaren Natur des politischen Literaten zuwider sein dürfte.

Weshalb jener Ratschlag auch als freundliche Umschreibung gesehen werden muss, ab sofort besser den Mund zu halten.

Norbert Seitz, geboren 1950 in Wiesbaden, promovierter Politologe, ist verantwortlicher Redakteur der politischen Kulturzeitschrift "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte"; schreibt u.a. für den "Tagesspiegel", die "Frankfurter Rundschau" und verschiedene Magazine. Letzte Buchveröffentlichung: "Die Kanzler und die Künste. Die Geschichte einer schwieri-gen Beziehung" (2005).
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