Die Gräben sind immer noch tief

Von Peter Pragal · 03.03.2007
Wenn es darum geht, mit grobschlächtigen Witzen übereinander herzuziehen, sind Ostdeutsche und Westdeutsche nicht zimperlich. Im Karneval dieses Jahres haben rheinische Büttenredner manche Spitze gegen die Ossis losgelassen und dafür von einem dankbaren Publikum Beifall bekommen.
An ostdeutschen Stammtischen revanchierten sich die Geschmähten mit gereimten Sprüchen wie "Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm. Die Wessis machen’s andersrum". Und wer im Internet nach einschlägigen und aktuellen Beispielen sucht, wie Altbundesdeutsche und ehemalige DDR-Bürger mit Häme verbal aufeinander losgehen, der staunt über die Fülle boshafter Plattheiten.

Zwei Beispiele mögen genügen. Warum braucht man im Westen 13 Jahre fürs Abitur? Antwort. Weil ein Jahr davon Schauspielunterricht ist. Darüber lacht man in den neuen Ländern. Was sagen Ost-Mütter, bevor sie ins Kinderzimmer gehen? Antwort: Ich muss mal eben nach dem Rechten sehen. Das erzählen Westdeutsche, wenn sie Ostdeutsche wegen ihrer tatsächlichen oder angeblichen Anfälligkeit für rechtsextreme Parolen treffen wollen. Nun könnte man einwenden, Witze über Ostfriesen oder über Bayern und Preußen habe es seit jeher gegeben. Und Klischees über andere zu verbreiten, gehöre nun einmal zum Alltag. Dabei wird allerdings verkannt, dass die Ossi-Wessi-Witze Stimmungen und Denkweisen aufgreifen, die tief im Bewusstsein vieler Deutscher verankert sind.

Auch wenn es die Hüter einer gesamtdeutschen Harmonie nicht wahrhaben wollen: 16 Jahre nach der Vereinigung gibt es noch immer eine mentale Spaltung. Manche Beobachtungen lassen sogar den Schluss zu, dass die Entfremdung zwischen Deutschen mit Ost- und West-Biografie wächst. Die Rede ist nicht von alten SED-Kadern, die ihren Bedeutungsverlust nicht verwunden haben und die untergegangene DDR nostalgisch verklären. Gemeint sind auch nicht jene eingefleischten Ignoranten in Westdeutschland, die immer schon meinten, östlich der Elbe beginne die kulturlose asiatische Steppe. Dass die wechselseitige Wahrnehmung schärfer und kritischer geworden ist, lässt sich – wie Umfragen belegen - bei einer breiten Mehrheit der Bürger feststellen.

Die hohe Arbeitslosigkeit und die Auswirkungen der Arbeitsmarktgesetze, die Ostdeutsche besonders hart treffen, haben bei vielen das Gefühl verstärkt, zu den Verlierern der Einheit zu gehören. Sie wähnen sich nicht auf gleicher Augenhöhe mit den Westdeutschen, klagen über Arroganz und mangelndes Verständnis und haben wenig Hoffnung, vom finanziellen Tropf des Westens loszukommen. Umgekehrt wächst die Zahl der Westdeutschen, die den Osten für ein Fass ohne Boden halten, in dem das gute Geld, das jährlich in Milliarden-Höhe in die neuen Länder fließt, wirkungslos versickert. Sie kritisieren vermeintlichen Undank und eine angebliche Subventions- und Vollkasko-Mentalität, die aus DDR-Zeiten stamme. Und sie regen sich darüber auf, dass in vielen Dörfern zwischen Werra und Oder Gehsteige und Radwege aufwändig gepflastert sind, während Straßen in der alten Bundesrepublik zu Schlaglochpisten verkommen.

Über die Zunahme gegenseitiger Vorwürfe kann sich nur wundern, wer die Glücksbekundungen und Umarmungsszenen aus den Tagen des Mauerfalls als Ausdruck dauerhafter gesamtdeutscher Gefühlslagen missverstanden hat. Und wer nicht begreift, dass der Alltag im kommunistischen Vormundschaftsstaat DDR die Menschen nachhaltiger geprägt hat als das Nazi-Regime mit seiner wesentlich kürzeren Lebensdauer. Jemand, der auf die Obrigkeit fixiert war oder es noch ist, wird schneller enttäuscht, wenn seine persönliche Wohlfahrt hinter den Erwartungen zurückbleibt, als ein Bürger mit gelebter Eigenverantwortung.

Das Vertrauen, Regierungen könnten akute gesellschaftliche Probleme lösen, geht in den neuen Ländern dramatisch zurück. Gleichzeitig wächst das Bedürfnis, sich abzugrenzen von den dominierenden Wessis und ihren fragwürdig gewordenen Erfolgsrezepten. Mit Nostalgie oder erneuter Hinwendung zu sozialistischen Gesellschaftsmodellen hat das nichts zu tun. Die Westdeutschen haben über Jahrzehnte die Demokratie als eine Staatsform erlebt, in der sich ihre Lebenssituation verbesserte. Für Ostdeutsche hingegen war die demokratische Freiheit begleitet von sozialer Unsicherheit. Das macht skeptisch.

Wer auf solche Unterschiede hinweist, zieht sich leicht den Vorwurf zu, er dramatisiere oder schade der inneren Einheit. Das Gegenteil ist richtig. Erst wenn man die mentale Spaltung und ihre Ursachen benennt, besteht die Chance, die Entfremdung zu überwinden. Irgendwann werden die Wessis aufhören, bösartige Witze über die Ostler zu machen. Und diese werden vielleicht ihren Frust überwinden, der sich in einem viel kolportierten Kalauer ausdrückt: Wo geht es hier zum Aufbau Ost? Antwort: "Dahinten, immer den Bach runter."


Peter Pragal, Autor und freier Journalist, 1939 in Breslau geboren. In den 60er und 70er Jahren arbeitete er für die "Süddeutsche Zeitung", zuletzt als Korrespondent in der DDR. 1979 Wechsel zum "STERN", zunächst als Leiter des Bonner Büros, dann als Korrespondent in Ost-Berlin mit Zuständigkeit für mehrer Länder Ost-Mitteleuropas. 1991-2004 politischer Korrespondent der Berliner Zeitung. Mit-Herausgeber des STERN-Buches "40 Jahre DDR".