Die Globalisierung der Musik oder: Karajan Superstar

Von Jürgen Kesting |
Aus einem Traum erwachend, in dem er zum Millionär geworden war, notierte der junge Giuseppe Verdi: "Millionär. Welch erhabenes Wort. Was sind daneben schon Anerkennung, Ehre und Ruhm." Das erhabene Los, Millionär zu werden, wurde den Komponisten seltener zuteil als ihren Platzhaltern auf Erden – den Dirigenten.
In der Geschichte dieser Zunft hat keiner die Fuchtel der Macht, den Taktstock, erfolgreicher geführt als Herbert von Karajan. Die Musikwelt blickt mit zwiespältigen Gefühlen auf diese Epochen-, diese Jahrhundertfigur zurück. Die Bewunderung gilt dem singulären Könner. Die Skepsis dem Erfolg und den Mitteln, mit denen dieser Erfolg erreicht wurde.
Von den ästhetischen Mitteln geht die Rede. Bei einem internationalen Symposium, abgehalten in Salzburg vor zwei Wochen, zeichneten namhafte Musikwissenschaftler und Kritiker das Bild eines Mannes, der eine Doppel-Existenz geführt hat: die des Künstlers und des Großunternehmers, der seine Karriere in den unseligen Zeiten des Dritten Reichs als das "Wunder Karajan" begann und sie als Dirigent des Wirtschaftswunders vollendete. Seine Platten sollen, so wird hochgerechnet, 250 Millionen Mal verkauft worden sein. Dabei wurde in mannigfachen Variationen ein Vorwurf laut: Dass Karajan alles und jedes in den Dienst seines Kultes von Schönheit und Perfektion gestellt habe. Dass er wenig Gespür besessen habe für die Härten und Schroffheiten der Musik von Igor Strawinsky, kein Verständnis für die Musik der Zweiten Wiener Schule.

Der Ruhm hat nun einmal, nach einem Wort von Honoré de Balzac, keine weißen Flügel. Und auf den Flügeln, die Herbert von Karajan empor trugen, gab es den schwarzen Flecken seines Eintritts in die NSDAP. Ohne die Unterschrift wäre er nicht zum Generalmusikdirektor in Aachen ernannt worden. Dass sein Kollege Karl Böhm ohne größere Bedenken die Nachfolge des von den Nazis aus der Dresdner Staatsoper gebrüllten Fritz Busch wurde; dass er 1944 noch Leiter der Wiener Staatsoper und nach dem Kriege wieder zu ihrem Leiter wurde, fiel unter die Amnestie des Vergessens. Hingegen erhielt Herbert von Karajan, der während des Kriegs in Paris eine Aufführung von "Tristan und Isolde" dirigiert hatte, nach 1945 zunächst Auftrittsverbot.
Es war der englische Schallplatten-Produzent Walter Legge, der ihm den Weg in die große Karriere bahnte. Legge hatte sich 1946 nach Wien aufgemacht, um für seine Firma His Master’s Voice – den späteren EMI-Konzern – die besten etablierten Künstler und die größten Nachwuchstalente unter Vertrag zu nehmen. Der Brite wurde zum Geburtshelfer des zweiten Karajan: des Künstlers aus der Konserve.
Der Dirigent war der richtige Mann am richtigen Ort und – dies vor allem – zur richtigen Zeit: der Einführung der Langspielplatte. Es war die Zeit des größten Umbruchs – oder der tiefsten Umwälzung – in der Geschichte der musikalischen Reproduktion wie der Rezeption. Dank des Tonbandes konnten zum ersten Male symphonische Sätze oder ganze Akte einer Oper ohne Unterbrechung aufgenommen werden; und erstmals ließen sich durch den Bandschnitt alle Fehler ausmerzen. Ein unerhörtes Novum war, dass Walter Legge die besten Londoner Musiker engagierte – für ein Orchester, das primär im Schallplatten-Studio arbeiten sollte. Für das Philharmonia Orchestra fand er in Herbert von Karajan, wie er sagte, "den besten Orchester-Bildner, den es je gegeben hat". Der Dirigent nutzte die Chance, die keiner seiner Vorgänger gehabt hatte: Aufnahmen herzustellen, die der technischen Perfektion so nahe kamen, wie es zuvor kaum denkbar gewesen war. "Wir begannen", so sagte Karajan später über die seine Arbeit in den Fünfziger Jahren, "wie im Rausch aufzunehmen."

Die weiteren Stationen seiner von Weltruhmesglanz besonnten – vielleicht auch verstrahlten – Karriere sind bekannt. Längst bevor der Begriff der Globalisierung zu einer Denkfigur wurde, war seine auf den Medien fundierte Macht global geworden. Eben dadurch wurde er Ende der sechziger Jahre zu dem, was – um ein musikalisches Wortspiel zu verwenden – früher der Tritonus gewesen war: der Diabolus in Musica. Die Kritik richtete sich gegen seine perfektionistische Ästhetik, gegen seinen als hedonistisch und kosmetisch empfundenen Schönheitskult. In der Hoch-Zeit seines Ruhms galt er plötzlich als unzeitgemäß, ebenso wie als Gründer und Leiter eines als elitär empfundenen und hassvoll beneideten Festivals: der Salzburger Osterfestspiele.
Sie waren, kein Zweifel, konzipiert als Gegenmodell zu den Bayreuther Festspielen. Er verwirklichte etwas, was für Wagner ein Traum gewesen war: "Mein Taktstock soll die Zeiten lehren, welchen Gang sie zu nehmen haben." Die Geschichte dieser Epochenfigur ist längst noch nicht aufgearbeitet und ihre Wirkung nicht abgegolten.


Jürgen Kesting, einer der renommiertesten deutschen Musik-Kenner und -Autoren, wurde 1940 in Duisburg geboren. Nach dem Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie arbeitete er zunächst für Schallplattenfirmen, wechselte dann aber in den Journalismus. Er schreibt unter anderem für den "Stern" und die "FAZ". Außerdem publiziert er regelmäßig in Fachblättern wie "Opernwelt" und "Musik und Theater" wichtigsten Büchern zählt das dreibändige Standard-Werk "Die großen Sänger", das in diesem Jahr wieder neu aufgelegt wird. Viel Beachtung fanden auch seine Biographie/Monographie über Maria Callas und sein Essay über Luciano Pavarotti.