Die globalisierte Öffentlichkeit

03.06.2008
In seinem Buch "Mediapolis" untersucht der britische Kommunikationswissenschaftler Roger Silverstone unter welchen moralischen Bedingungen Massenmedien zu einer Gemeinschaft beitragen können. Silverstone, der 2006 verstarb, entwirft für seine Idee philosophische Konzepte und hält die Werte "Gastfreundschaft und Gerechtigkeit" hoch.
Eingangs berichtet Roger Silverstone von einem BBC-Interview während des Afghanistan-Kriegs. Darin vermutete ein Hufschmied, dass die Bomben, die auf sein Dorf gefallen waren, wohl damit zu tun hätten, dass "Al Qaida viele Amerikaner und ihre Esel getötet und einige ihrer Schlösser zerstört habe". Silverstone nimmt das rührende Hufschmied-Interview vor dem Hintergrund des 11. September 2001 beispielhaft für das "Erscheinen des Anderen" – des Fremden in seiner Fremdheit und gleichzeitig in seiner medialen Nähe zu uns. Um den richtigen Umgang mit diesem Anderen zu skizzieren, leiht sich Silverstone Gedanken Hannah Arendts aus. Dabei ist seine Gegenwartsdiagnose eher pessimistisch: "Die Medien sind ihrer Fähigkeit, ein Bild der Welt zu entwerfen, das von den Interessen des Kapitals und des Staats unabhängig ist, fast vollständig beraubt worden."

Auch für Silverstone hält das Internet nicht, was man sich einst in politisch-emanzipatorischer Hinsicht versprochen hat: "Es beruht in hohem Maße auf Individualität, sie wird betont, nicht [die] Pluralität." Anders als pluralistisch ist laut Silverstone die Mediapolis in erwünschter Form aber nicht zu denken. Als abschreckendes Gegenbeispiel führt er die amerikanische Praxis der Dämonisierung der Welt in Gute und Böse an, wie sie unter Ronald Reagan und George W. Bush Höhepunkte erreicht hat. Die angestrebte Vielzahl der Meinungen stellt sich Silverstone innerhalb eines Polyphonie-Modells und kontrapunktisch vor: Stimmen und Gegenstimmen, vereint. Seine Stichwortgeber sind nun die Literaturkritiker Edward Said und Michail Bachtin.

Für Silverstone ist das Existieren in der Mediapolis, in der die Menschen mit vielen Informationen konfrontiert werden, die nicht Teil der körperlichen Alltagserfahrung sind, ein Problem der "richtigen Distanz" – zumal zum Anderen, der seine Fremdheit nie ganz verliert. Anhand der weltweiten Sichtbarkeit des Kidnappings von Beslan und der Folterungen in Abu Ghraib lasse sich zeigen, dass extreme mediale Nähe ungeheuere Erregungen erzeugt, andererseits aber Abstumpfung. Deshalb gelte: "Das Gefühl für den richtigen Abstand ist ein moralisches Gefühl, bei dem das Verhältnis von Nähe und Distanz durch ein gewisses Maß an Verständnis, Mitgefühl und Verantwortung vermittelt wird."

Zuletzt, als es um Wahrhaftigkeit, Gastfreundschaft und Gerechtigkeit in der Mediapolis geht, wechselt Silverstone ein weiteres Mal die theoretischen Pferde, John Rawls, Jacques Derrida und Hans Jonas kommen ins Spiel. Es bleibt ein Eindruck zurück, den auch andere Werke der Edition Zweite Moderne hinterlassen: Das Programm einer neuen Weltgesellschaft ist noch längst nicht ausbuchstabiert. Roger Silverstone hat die Veröffentlichung von "Mediapolis" nicht mehr erlebt. Sein letztes Buch drückt die Hoffnung aus, dass in der neuen Polis das Politische im emphatischen Sinn und die Gemeinschaft ihre Chance bekommen. Als Diagnose und Entwurf hat es Schwächen, es überzeugt als Appell und durch grundbegrifflichen Ernst.

Rezensiert von Arno Orzessek


Roger Silverstone, "Mediapolis - Die Moral in den Massenmedien",
Übersetzt von Frank Jakubzik
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
296 Seiten, 28,00 Euro