Die Gleichheitskrankheit
Richter am Bundesverfassungsgericht tun gut daran, beim Auftritt in der Öffentlichkeit Zurückhaltung zu üben. Die meisten halten sich daran; weshalb die Deutlichkeit um so auffälliger wirkt, mit der Verfassungsrichter Udo Steiner neulich die Deutschen gleichheitskrank genannt hat – gleichheitskrank, wie gesagt, nicht bloß gleichheitssüchtig.
Das Recht auf Gleichheit, das durchzusetzen die Franzosen seinerzeit auf die Straße gezogen waren und ihren König enthauptet hatten, das zu bewahren und zu fördern allen Deutschen vom Grundgesetzes versprochen wird, dies Recht erscheint einem hohen Richter als Auslöser oder gar Träger einer Krankheit. Und Krankheit als die Endstation der Sucht. Wie kann das sein?
Der Grund liegt in der Unersättlichkeit. Das Gleichheitsversprechen ist dynamisch, es regt, worauf schon die frühen Staatsrechtslehrer mit allen Zeichen der Beunruhigung hingewiesen hatten, es regt den Appetit an, indem es ihn stillt.
Je gleicher die Menschen einander werden – gleich an Rechten, gleich an Ansprüchen, gleich in ihren Lebensverhältnissen, in ihren Vorlieben und in ihren Aversionen -, desto anstößiger, ja unerträglicher empfinden sie die letzten, unausrottbaren Reste der natürlichen Ungleichheit. Am Ende wird man förmlich krank nach Gleichheit; dann ist es mit der Chancengleichheit, gegen die kein Mensch etwas einzuwenden hat, nicht mehr getan. Verlangt wird dann Ergebnisgleichheit, und zwar subito.
Dort, wo der Ruf nach Chancengleichheit zum ersten Mal ertönte, ich meine die Schulpolitik, lässt sich der Vorgang eindrucksvoll studieren. Mit einem Chancenausgleich zu Beginn der Schulzeit war es ja bald nicht mehr getan; "Gleiche Lernziele, gleiche Lernergebnisse" hieß die Parole der Jusos, die schon damals den Ehrgeiz hatten, beim Fortschritt ganz weit vorn zu marschieren.
Ein neuer Schultyp, damals Gesamtschule, heute Gemeinschaftsschule genannt, sollte her, um die letzten, tiefsten und ärgerlichsten aller Unterschiede, Unterschiede in der Höhe und in der Richtung der individuellen Begabung, auszuradieren. Das Ideal war, um es mit den Worten eines betont progressiven Schulreformers zu sagen, die große, gleichmäßig kurz geschorene Rasenfläche.
Von den zwei Wegen, die sich zur Herstellung von Gleichheit anbieten, wählte man den einfacheren und schnelleren. Statt sich darum zu bemühen, die Schwachen stärker zu machen, ließ man sich allerlei einfallen, um die Starken schwach zu machen; auch so ergab sich ja am Ende Gleichheit. Der Preis dafür war freilich hoch, denn bezahlt werden musste mit der Verschleuderung von Talenten und Fähigkeiten.
Das hat die Überzeugungstäter allerdings nie gestört: die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die sich seit jeher als Anwalt der Zukurzgekommenen versteht, bekannte sich zu einer Strategie der gezielten Vernachlässigung, als sie mehr Chancengleichheit bei der Verteilung negativer Güter anmahnte: weniger Unterricht, weniger Anregung, weniger Förderung für die Begünstigten. Kürzer gesagt: Bremsen statt fördern. Wie erfolgreich Deutschland auf diesem Weg vorangekommen ist, dafür bieten die jüngsten Pisa-Resultate ein Beispiel unter vielen.
Wo der Wunsch nach Gleichheit herrschend wird, da siegt er zwangsläufig zu Lasten der Freiheit. Wenn das Anti-Diskriminierungsgesetz in seiner von Rot und Grün gewollten Fassung durchkommt, wird es eine neue, aufgeblähte Bürokratie nach sich ziehen, eine Gleichstellungsbürokratie, die wie alle Bürokratien freiheitsfeindlich ist.
Die ersten Stellen werden gerade ausgeschrieben. Wo die Menschen ganz gleich sind, werden sie niemals ganz frei sein, wo sie ganz frei sind, niemals vollständig gleich: von diesem Dilemma wollen die eingeschworenen Gleichheitspolitiker nichts hören. Sie wollen alle Unterschiede beseitigen, auch solche, die zum Bestand des Staates und zum Funktionieren der Gesellschaft unentbehrlich sind. Aus ganz Gleichen kann man nämlich, wie Aristoteles einmal gesagt hat, keinen Staat bauen. Vielleicht sollten die exzessiven Gleichheitsfreunde häufiger unsere Klassiker lesen, das würde ihnen und uns manchen Irrweg ersparen.
Konrad Adam wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", jetzt arbeitet er für die "Welt". Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buch-Autor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern" und "Die Republik dankt ab". Soeben erschienen: "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen".
Der Grund liegt in der Unersättlichkeit. Das Gleichheitsversprechen ist dynamisch, es regt, worauf schon die frühen Staatsrechtslehrer mit allen Zeichen der Beunruhigung hingewiesen hatten, es regt den Appetit an, indem es ihn stillt.
Je gleicher die Menschen einander werden – gleich an Rechten, gleich an Ansprüchen, gleich in ihren Lebensverhältnissen, in ihren Vorlieben und in ihren Aversionen -, desto anstößiger, ja unerträglicher empfinden sie die letzten, unausrottbaren Reste der natürlichen Ungleichheit. Am Ende wird man förmlich krank nach Gleichheit; dann ist es mit der Chancengleichheit, gegen die kein Mensch etwas einzuwenden hat, nicht mehr getan. Verlangt wird dann Ergebnisgleichheit, und zwar subito.
Dort, wo der Ruf nach Chancengleichheit zum ersten Mal ertönte, ich meine die Schulpolitik, lässt sich der Vorgang eindrucksvoll studieren. Mit einem Chancenausgleich zu Beginn der Schulzeit war es ja bald nicht mehr getan; "Gleiche Lernziele, gleiche Lernergebnisse" hieß die Parole der Jusos, die schon damals den Ehrgeiz hatten, beim Fortschritt ganz weit vorn zu marschieren.
Ein neuer Schultyp, damals Gesamtschule, heute Gemeinschaftsschule genannt, sollte her, um die letzten, tiefsten und ärgerlichsten aller Unterschiede, Unterschiede in der Höhe und in der Richtung der individuellen Begabung, auszuradieren. Das Ideal war, um es mit den Worten eines betont progressiven Schulreformers zu sagen, die große, gleichmäßig kurz geschorene Rasenfläche.
Von den zwei Wegen, die sich zur Herstellung von Gleichheit anbieten, wählte man den einfacheren und schnelleren. Statt sich darum zu bemühen, die Schwachen stärker zu machen, ließ man sich allerlei einfallen, um die Starken schwach zu machen; auch so ergab sich ja am Ende Gleichheit. Der Preis dafür war freilich hoch, denn bezahlt werden musste mit der Verschleuderung von Talenten und Fähigkeiten.
Das hat die Überzeugungstäter allerdings nie gestört: die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die sich seit jeher als Anwalt der Zukurzgekommenen versteht, bekannte sich zu einer Strategie der gezielten Vernachlässigung, als sie mehr Chancengleichheit bei der Verteilung negativer Güter anmahnte: weniger Unterricht, weniger Anregung, weniger Förderung für die Begünstigten. Kürzer gesagt: Bremsen statt fördern. Wie erfolgreich Deutschland auf diesem Weg vorangekommen ist, dafür bieten die jüngsten Pisa-Resultate ein Beispiel unter vielen.
Wo der Wunsch nach Gleichheit herrschend wird, da siegt er zwangsläufig zu Lasten der Freiheit. Wenn das Anti-Diskriminierungsgesetz in seiner von Rot und Grün gewollten Fassung durchkommt, wird es eine neue, aufgeblähte Bürokratie nach sich ziehen, eine Gleichstellungsbürokratie, die wie alle Bürokratien freiheitsfeindlich ist.
Die ersten Stellen werden gerade ausgeschrieben. Wo die Menschen ganz gleich sind, werden sie niemals ganz frei sein, wo sie ganz frei sind, niemals vollständig gleich: von diesem Dilemma wollen die eingeschworenen Gleichheitspolitiker nichts hören. Sie wollen alle Unterschiede beseitigen, auch solche, die zum Bestand des Staates und zum Funktionieren der Gesellschaft unentbehrlich sind. Aus ganz Gleichen kann man nämlich, wie Aristoteles einmal gesagt hat, keinen Staat bauen. Vielleicht sollten die exzessiven Gleichheitsfreunde häufiger unsere Klassiker lesen, das würde ihnen und uns manchen Irrweg ersparen.
Konrad Adam wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", jetzt arbeitet er für die "Welt". Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buch-Autor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern" und "Die Republik dankt ab". Soeben erschienen: "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen".