Die Gewerkschaften sind wieder obenauf

Von Gerhard Schröder |
Der 1. Mai ist traditionell ein rhetorischer Kampftag für die Gewerkschaften. Doch in diesem Jahr finden ihre Forderungen nach Mindestlöhnen, Begrenzung der Leiharbeit und Steuergerechtigkeit Gehör. Allerdings sind die Gewerkschaften nicht in allen Branchen gut aufgestellt, warnt unser Kommentator Gerhard Schröder.
Die Gewerkschaften sind wieder oben auf. Packt die neoliberale Abrissbirne ein, fordert vollmundig IG-Metallchef Berthold Huber. Man darf den Kontinent nicht kaputt sparen, warnt markig DGB-Chef Michael Sommer und blättert den gewerkschaftlichen Forderungskatalog auf. Der flächendeckende Mindestlohn muss her, und zwar schnell. Die Leiharbeit begrenzt und der prekären Beschäftigung Einhalt geboten, und, selbstverständlich, die Steuern für Reiche erhöht werden, damit mehr Geld für Soziales übrig ist.

Sicher, der erste Mai ist traditionell ein rhetorischer Kampftag. Aber so selbstbewusst haben die Gewerkschafter der Politik schon lange nicht mehr ins Stammbuch geschrieben, was zu tun sei. Gute Arbeit, sichere Renten, soziales Europa, schon das Leitmotiv der diesjährigen Umzüge signalisiert den gestiegenen Gestaltungswillen der Arbeitnehmerorganisationen. Und schon lange nicht mehr haben sie eine so wohlwollende öffentliche Resonanz auf ihre Forderungen erfahren.

Da passt es ins Bild, dass die IG Metall pünktlich zum ersten Mai mit Warnstreiks den Druck auf die Arbeitgeber erhöht. 5,5 Prozent mehr Geld fordern die Metaller, das öffentliche Entsetzen hält sich in Grenzen. Die Dienstleistungsgewerkschaft verdi wiederum hat gerade – auch pünktlich zum Tag der Arbeit – bis zu fünf Prozent mehr Lohn für das Bodenpersonal bei der Lufthansa durchgesetzt. Es könnte kaum besser laufen für die Gewerkschaften, so scheint es.

Keine Frage, die Gewerkschaften sind wieder angekommen in der Mitte der Gesellschaft. Oder besser gesagt: Die Mitte der Gesellschaft ist wieder bei den Gewerkschaften angekommen. Mit Forderungen nach Mindestlöhnen und Reichensteuer treffen die Gewerkschaften wieder den Nerv einer Gesellschaft, die sich offen für Gerechtigkeitsfragen zeigt.

Das war lange Zeit anders. Ausgerechnet ein SPD-Kanzler manövrierte die Gewerkschaften mit einem radikalen Reformprogramm ins gesellschaftliche Abseits. Sommer, Huber und Co. galten plötzlich als unverbesserliche Besitzstandswahrer, als unbelehrbare Betonköpfe, die die Zeichen der Zeit nicht verstanden hatten.

Inzwischen räumen selbst hartgesottene Agenda-Befürworter ein, dass man es mit dem Reformeifer vielleicht doch übertrieben hat. Dass die Leitplanken fehlen, die dem Aufschwung die soziale Balance geben.

Dass die von den Gewerkschaften so inbrünstig bekämpften Agenda-Reformen erst die Grundlage geschaffen haben für die wirtschaftliche Renaissance des Landes, ist eine These, die sich nicht wirklich erhärten lässt. Die Kehrseiten sind umso schärfer sichtbar. Das Anschwellen des Niedriglohnsektors etwa, der sich in Deutschland wie in keinem anderen Nachbarland ausgebreitet hat, die Zunahme der Aufstocker, die trotz Vollzeitjob auf staatliche Hilfen angewiesen sind. Was aber ist ein Aufschwung wert, der die gesellschaftliche Spaltung vertieft? Das fragen sich inzwischen nicht nur eingefleischte Gewerkschafter.

Dass es soweit gekommen ist, liegt allerdings auch an den Gewerkschaften selbst. In ihrer ureigentlichen Kernkompetenz, der Lohnfrage, offenbaren sie eklatante Schwächen. Zwar ist der Mitgliederschwund inzwischen gestoppt, dennoch sind sie in vielen Branchen zu schwach, um das Tarifgefüge zu sichern. Deshalb der Ruf nach dem Staat, der mit Mindestlöhnen absichern soll, was die Gewerkschaften nicht mehr garantieren können: Ein existenzsicherndes Arbeitseinkommen.

So wird sich die Lohnschere auch in diesem Jahr weiter öffnen. Die kampferprobten Metaller werden dank ihrer Organisationsstärke wie gewohnt den Geleitzug anführen, die Servicebranchen dagegen fallen weiter zurück. Im Einzelhandel etwa sind die Gewerkschaften schon froh, wenn sie überhaupt einen Warnstreik auf die Beine bekommen. Eine Entwicklung, der die Gewerkschaften – allem zur Schau getragenen Selbstbewusstsein am ersten Mai zum Trotz - nach wie vor ziemlich ratlos gegenüberstehen.