Die geteilte Stadt: Marburg in Hessen

"Geh doch in die Oberstadt!"

Blick über die Lahn auf das Marburger Landgrafenschloss
Der Blick ins Fachwerk-Idyll täuscht: Das Unistädtchen Marburg ist eine Stadt der Extreme. © picture alliance/dpa/Karlheinz Schindler
Von Michael Frantzen · 22.07.2018
Marburg besteht vor allem aus Treppen und Fachwerk. Doch was die Ober- von der Unterstadt trennt, sind nicht nur viele Stufen, sondern Weltanschauungen. Die Begegnung mit Marburgern ist auch eine nostalgische Reise in die linke Vergangenheit der Uni-Stadt.
Marburg ist die Stadt der Hobby-Philosophen – und der Treppen. Wendeltreppen: windschiefe, winzige. Ein wahres Treppen-Labyrinth. Das verbindet und trennt - die Oberstadt von der Unterstadt.
Oben und unten. Arm und reich. Rechte Burschenschafter und linke Weltverbesserer: Marburg ist eine Stadt der Extreme und eine geteilte Stadt. Frei nach dem Liedermacher Franz Josef Degenhardt: "Geh' doch in die Oberstadt!" und "Spiel' nicht mit den Schmuddelkindern!"
Fragt sich nur: Warum ist das beschauliche 80.000-Einwohner-Städtchen ein Ort der Gegensätze? Die heutige Deutschlandrundfahrt spürt dieser Frage nach.
Marburg
Die Altstadt von Marburg© picture alliance/dpa/Foto: Frank Rumpenhorst
Schmidt: "Weiß jetzt jeder, auf welche Position er zu gehen hat?"
Es ist immer das gleiche: Drei Tage noch bis zur Premiere. Und Willi Schmidt? Hat Stress. Der Intendant des Alternativ-Theaters "Waggonhalle" zuckt mit den Schultern. Einer muss den Laden ja zusammen halten.
Schmidt: "Es ist bei dem Stück jetzt so: Dadurch, dass ich...(blättert in Unterlagen)...da den Wirt selber spiele, ist das manchmal nen bisschen schwierig mit dem gleichzeitig gucken und spielen."

Drehkreuz Marburg – das war mal

Montag Abend, kurz vor sieben. Marburg, die 80.000-Einwohner-zählende Universitätsstadt. Willis Theater steht auf dem alten Bahngelände am Stadtrand, das so gar nicht zu Marburgs Image passen will. Von wegen: Mittelalterliche Puppenstube. Vor 40 Jahren brachte die Bahn hier ihre Waggons auf Vordermann. Drehkreuz Marburg: Das war einmal. Geblieben sind krumme Gleise, die ins Nirgendwo führen. Und Riesen-Hallen, deren Dächer löchrig sind wie Schweizer Käse.
Schmidt: "Das war so was wie Liebe auf den ersten Blick. Dieses industrielle Ambiente: Was eher für Marburg untypisch ist. Weil Marburg ja nun mal ne Stadt mit lieblichen Fachwerk ist. Da hat man so den rauen Charme eines Backsteingebäudes eher selten. Und dann einfach dieser Flair von Bahn. Bahn hat ja immer was mit Fernweh zu tun. Gleichzeitig aber auch mit Ankommen. Wieder wegfahren. Was ja auch für Marburg nen bisschen typisch ist: Wir spielen jetzt hier dieses Stück, man trifft sich, man ist ne Zeit lang ganz intensiv zusammen. Und... (lacht)...dann geht man wieder. So ist ja auch son Bahnhof."
Der Marburger Theatermacher Willi Schmidt in Aktion mit einer Schauspielerin.
Theatermacher Willi Schmidt auf der Bühne mit einer Schauspielerin.© Michael Frantzen/Deutschlandradio
"Affenfelsen" heißt das neue Stück. Wie Marburgs höchstes Gebäude - ein 70er-Jahre-Beton-Klotz mit günstigen Mieten und hohem Hartz-IV-Anteil unter den Bewohnern. Im Stück geht es um das, was Deutschland umtreibt: Verlustängste, Flüchtlinge und die AfD. Architektur-Kritiker preisen den Felsen als Meisterwerk des Brutalismus. Marburger weniger. Willi verzieht das Gesicht. Das schon wieder. Er hat da auch mal gewohnt; Ende der 80er. Nach dem Studium. War halb so schlimm.
Schmidt: "Ich muss jetzt gleich mal gucken, wie der Stand ist. Hier: Der spielt den Hausmeister. Das ist der Piet Metz. Das ist auch nen alter Marburger."
Autor: "Guten Tag."
Metz: "Hallo."
"Michael Frantzen ist mein Name."
"Guten Tag Herr Frantzen."
"Sie sind mir schon ans Herz gelegt worden. Sie sind der Hausmeister hier?"
"Ich bin der Hausmeister. Also Hausmeister sind eine Macht – das wissen se?!"
Was sind denn so ihre Hauptaufgaben?"
"Ich sorg für Ordnung hier in dem Laden."

Der "linke Vogel" ließ sich für die letzte Landtagswahl aufstellen

Metz trägt schon Montur, seine Hausmeister-Montur: Blaumann, Jeans-Mütze – und eine Kippe in der Rechten. Wie Hausmeister halt so aussehen. War in der Blindenanstalt auch nicht anders, wo er gut vier Jahrzehnte arbeitete - als "Rehabilitations-Lehrer". Theater macht er schon eine halbe Ewigkeit. Meist gibt er den Revoluzzer, letztens einen Spartakisten.
"Auch ein Rebell. Und dann war ich das Rebellentun nen bisschen auf der Bühne leid. Dann wollt ich unbedingt nen Arschloch spielen. Und spielte dann... (lacht)... den Investor. Den Groß-Investor, ja?! Ist aktuell. Wenn Sie sich mal umgucken: Das ganze Nordviertel ist von einem Groß-Investor aufgekauft und bebaut worden. Es ist schön, nen Arschloch zu spielen. Das Interessante ist: Wenn man da so als linker Vogel irgendwie bekannt ist, dass dann die Bekannten im Publikum sitzen und sagen: Jetzt kommt dein wahres Wesen zum Vorschein."
Ein "linker Vogel" ist Metz tatsächlich. In den 70ern war er beim "Marxistischen Studentenbund Spartakus", später für die DKP im Marburger Stadtparlament. Bis sich die DKP nach dem Mauerfall in Wohlgefallen auflöste – und er bei den Linken eine neue politische Heimat fand. 2007 trat er bei der hessischen Landtagswahl als Spitzenkandidat an. War ihm eine Lehre.
"Unpolitisch kann man nicht werden, wenn man politisch so aktiv war. Aber: Nicht parteipolitisch – das nicht mehr. Das möchte ich nicht. Dazu haben Parteien so ein Eigenleben. Wie partei-intern da gekämpft, intrigiert, gemobbt wird. Das ist nicht mehr meine Welt. Mich da in irgendwelche Partei-internen Netzwerke zu begeben und mit zu integrieren. Und da hab ich’s halt gemacht wie August der Starke in Sachsen: 'Macht doch euren Dreck alleene.'"
Willi Schmidt sagt auf der Bühne: "O.k. Dann machen wir Folgendes: Jeder geht für sich durch den Raum. Und macht dabei großen Bewegungen mit dem Mund."
Akustische Lockerungsübungen zur Einstimmung: Metz und die anderen rund 15 Hobby-Schauspieler kennen das schon. Macht Willi immer so. Bevor es losgeht – mit der Probe.
Schmidt: "Ungefähr zur Zeit der Abrisspläne wurde ich wieder geboren. Ah. Näh. Quatsch. Stimmt das?"
Schauspielerin: "Doch. – Bei mir dauert es noch etwas. Jetzt studiere ich – Marie – Psychologie und hospitiere bei einem Therapeuten."
Schröder: "Nämlich bei mir. Lupus. Therapeut. – Ich bin ein sehr ausgeglichener Mensch. Ich spiel in diesem Stück den Therapeut. Lupus."
Heißt: Im wahren Leben Jochen Schröder. Zum Theater ist der Mittvierziger durch Zufall gekommen. Ganz lustig – erzählt er. Mit einem Kumpel gab er in einer Studentenkneipe Sketche zum Besten – in der Mundart seines Dorfes im Marburger Umland. Irgendwann saß Willi zufälligerweise im Publikum und meinte: Komm doch zu uns.
"Die Marburger selbst... darf ich das sagen? Das weiß ich jetzt gar nicht, die sind so'n bisschen elitär. Also Gießen ist da lockerer, da spricht man in der Stadt auch Dialekt. Aber Marburg: War man immer schon son bisschen – wahrscheinlich durch die Universität – abgehobener. Mundart bei uns auf dem Land klingt: 'Willi, wann’s soll’s da eigentlich lus gehe? Weißt g’nau wann’s lus geht? Das war jetzt nur de Sprech-Probe, wenn’s platt schwätze.' So hört sich das jetzt an."

Ein Investor will fast das ganze Gelände aufkaufen

In der Waggonhalle. Der linken. Letztens hat Willi Post bekommen. Von seinem neuen Nachbarn. Dem Investor. Der Typ aus Biedenkopf, der Nachbargemeinde, hat fast das ganze Bahngelände gekauft. Aus der leerstehenden Halle gegenüber will er ein 5-Sterne-Hotel machen. Der Theater-Intendant schüttelt den Kopf: Gucci statt Jute: Das kann ja heiter werden. In Marburg – der Stadt der Extreme.
Schohl von weitem: "Guten Morgen."
Autor: "Na, das ist ein Service."
Schohl: "Ich hatt mit nem Auto gerechnet. Sie sind zu Fuß?"
Autor: "Ja, genau. Von Marburg. (lacht) Ne Ecke gewandert. Nein, ich park um die Ecke."
Wer mehr erfahren will über Marburgs Alleinstellungsmerkmale, ist bei Hans Schohl an der richtigen Adresse. Dienstagmorgen, kurz vor zehn. Anzefahr, ein verschlafenes Dorf im Marburger Speckgürtel. Schön ist es; schön ruhig. Der Wind streicht sachte über die Getreidefelder – unweit des Ateliers des Bildhauers.
Schohl: "Kindergarten-Kinder sind häufig vorbei, haben gesagt: 'Das ist das Haus, wo die Fenster vergessen worden sind.' Kann man natürlich schön die Geschichte erzählen mit den Schildbürgern. Die ja auch nen Haus gebaut haben ohne Fenster. Und dann mit den Eimern das Licht reintragen wollten. Ich hatt mal überlegt, ob ich nicht ne ganze Reihe Eimer draußen hinhänge, näh?! (lachend gesagt) Hab’s dann doch nicht gemacht. Aber die andere Seite ist verglast. Kommt genug Licht rein."
In sein Atelier. Statt Eimerweise Licht hat Schohl seine Lieblingssprichwörter aus seiner alten Pfälzer Heimat an die Hauswand geworfen: Als Skulpturen.
Schohl: "Das, was bekannt ist: 'Teufel scheißt immer auf den größten Haufen'. Nicht so bekannt, aber einer meiner liebsten Sprüche: 'Von anna Leit Ledda, is gut Rieme schneide.' Von anderer Leute Leder, ist gut Riemen schneiden."
Der Marburger Bildhauser Hans Schohl in seinem Atelier.
Der Bildhauer Hans Schohl in seinem Atelier.© Michael Frantzen/Deutschlandradio
Hinterm Haus geht es weiter – mit den Weisheiten.
Schohl: "Da ist ein großer Hund, der pinkelt in den Topf. Und der Kleine daneben. Können Se’s sehen? Hier, der zweite von rechts."
Autor: "Ach da. Ja, ja."
Schohl: "Der Große pinkelt mit so einem gelben Strahl innen Topf. Und der Kleine daneben. Mit de große Hund brunze wolle und’s Been nich hoch kriege. Also, mit den großen Hunden pinkeln wollen, aber das Bein nicht hoch kriegen. Derb. Aber zuweilen zutreffend."

Eine japanische Künstlerin hinterließ zwei Schweine-Skulpturen

In Anzefahr lebt der Bildhauer seit 25 Jahren. Im Mittelhessischen noch länger.
Schohl: "Also Marburg seit 73. Studiert. Hängen geblieben. Wir können ja reingehen. Ja, es war einfach so, dass, wenn man Papierarbeiten macht, dann ist es schlecht, man macht es im gleichen Raum, in dem man die Schweiß-und Metallarbeiten macht. Und deshalb war’s irgendwann mal notwendig: Ein zweites Atelier. Ein Sauberes. Ja. Gut. So sieht’s hier aus. Weiß gar nicht, wo ich anfangen soll."
Vielleicht mit den zwei bunten Skulpturen. Sie entpuppen sich: als Schweine – mit Menschen-Augen. Geschaffen hat sie eine befreundete japanische Künstlerin. Yuko Ono. Ist schon häufiger vorgekommen, dass Besucher meinten: WOW, John Lennons Witwe hat dir das geschenkt! Und Schohl: Nein, nicht Yoko Ono - YUKO Ono. Sind ziemlich originell - die Schweine: Sie sollen Schohl und seiner Ehefrau nachempfunden sein. Sagt die falsche Ono.
"Ist nicht böse gemeint. Ja, ja. Ja, ja."
"Auch sehr schön mit den Wimpern."
"Ja. Und sie macht zum Teil auch ganz Große. Wir haben zusammen auch schon Ausstellungsprojekte gemacht."
In den letzten zehn Jahren war Schohl häufiger im Land der aufgehenden Sonne, letztes Jahr erst zur Skulpturen-Ausstellung in Ube. Er kann nicht genug bekommen von der japanischen Kultur; Sitten und Gebräuchen.
"Die Plastik-Latschen, die man anziehen muss auf der Toilette. Toilette! Ist überhaupt ein wunderbares Thema in Japan. Mit den automatischen Toiletten. Die also ganz viele Funktionen haben, die uns sehr exotisch erscheinen. Die ich aber sehr angenehm empfand. Müsste man jetzt im Detail drüber reden, will ich jetzt aber nicht."
"Sonst noch was gucken? Einen Schrein haben wir hier auch. Also…

Sehenswert ist auch Schohls Miniatur-Version der Skulptur, die er in Ube ausgestellt hat.
"Erinnert natürlich sehr an die Bremer Stadtmusikanten. Also fünf Tiere übereinander gestapelt. Aber wenn ich Sie fragen würde: Was sehen Sie für Tiere? Wird es Ihnen möglicherweise schwer fallen, die zu benennen. Es sind zusammengesetzte Tiere. Unten: Das könnte auch ein Bär sein. Hat aber ein Nashorn. Ja, die Beine sind eher von nem Elefant. Oben drüber so eine Art Rindvieh. Und bezieht sich auf diese neuen Versuche, in der Genetik, neue Tiere eigentlich auch zu züchten. Was man zum Teil ja auch schon macht."

Zwanzig Minuten dauert die Fahrt in die Unterstadt

Im Original ist der "Bausatz Tier" vier Meter hoch – und eine Tonne schwer. Normalerweise sind Schohls Installationen kleiner, besonders seine Schattenspiele. Auf DAS Stichwort hat er nur gewartet. Ehe man sich versieht, hat er eine leicht vergilbte Zeitung hervorgekramt. Die "Treppen-Zeitung". War ein richtiger Scoop – das von ihm 2003 geleitete Treppen-Projekt in Marburg. Schohl strahlt. Überall standen Installationen herum. Experimentierfreudig sind sie in Marburg immer schon gewesen. Die Frage ist nur: Auch nachhaltig?
Gut zwanzig Minuten dauert die Fahrt von Schohls Atelier bis nach Marburg, in die Unterstadt. Die Spurensuche: Sie kann beginnen. Die Schweißtreibende.
"So. Hier sind wir am Fuß der Engen Gasse. Ehemaliges Drecksloch. Hier lief der Kanal vom Schloss und der Oberstadt offen runter. Deshalb der Name. Die Anwohner fanden das nicht so prickelnd und wollten gerne den Namen geändert haben. Heißt jetzt Enge Gasse. Wir müssen jetzt hochlaufen. Hier bleibt als Relikt dieses Treppen-Projekts...bleibt noch der Satz von Markus Hurrler. Müssen mal gucken, wo der erste Buchstabe ist. Hier finden wir, glaube ich, den ersten Buchstaben. Schon zugewachsen vom Efeu. So zieht sich jetzt dieser Satz hoch. Ist noch gut erhalten."

Zitator: "In dem stumpfen, schwindenden Licht konnte ich kaum noch erkennen, wo der Berg endete und der Himmel anfing."
Schohl: "Sie merken: Man kommt aus dem Atem."
Autor: "Ja, ja. Wir müssen sogar Passanten vorbeilassen."
"Demütigend."
"Keuchende Passanten."
"Es ist natürlich ein toller Platz hier: Mit Blick auf die Unterstadt. Auf Hörsaalgebäude. Alte Universitäts-Bibliothek. Kaiser-Wilhelm-Turm."

Oben und unten: Spätestens seit dem Mittelalter war Marburg eine geteilte Stadt. Getrennt durch: Treppen. Quasi Berlin im Miniatur-Format, nur ohne Stacheldraht und Schießbefehl. Schohl schaut kurz hoch: Das ist ihm jetzt doch zu dick aufgetragen. Hat sich mit der Zeit ja auch geändert: Bis ins 19. Jahrhundert war die Oberstadt unterhalb des Schlosses the place to be. Bis die Preußen unten, am Lahn-Ufer, die Südstadt errichteten – und Marburgs Haute-Volée der Oberstadt den Rücken kehrte. Schohl bleibt stehen. Da ist sie ja: Die Treppe, nach der er schon die ganze Zeit gesucht hat.
Treppe in der Marburger Oberstadt.
Marburg besteht vor allem aus Fachwerkgebäuden und -. vielen, vielen Treppen.© Michael Frantzen/Deutschlandradio
"Ich guck mal, ob man noch irgendwas davon sieht. Hier war eine Arbeit in einem Kellergewölbe. Wo ne steile Treppe runterführt. Man konnte aber nur reingucken. Ich guck mal, ob man das Bohrloch noch sieht. Ja, das war’s. Unten war ne Installation von mir. Man hat die Treppe und dann öffnet sich dieses Schattenspiel. Familie Fuchs gehört das Haus. Die haben den Keller leergeräumt und zur Verfügung gestellt. Drei Monate lang. Immerhin."
Schohl dreht sich um. Es reicht. Er will wieder runter. In die Unterstadt. Hat ihm Spaß gemacht damals – das Installations-Projekt - mit dem lautmalerischen Titel.
"Hinauf, hinab dasselbe. Bezieht sich auf den alten Heraklit, der etwas in die Richtung gesagt hat: Die Wege hinauf, hinab: Ein- und dasselbe. Das ist natürlich: Immer was Verbindendes und was Trennendes. Und Marburg ist ja typisch: Oberstadt und Unterstadt. Das ist auch immer was Trennendes. Möglicherweise erinnern Sie sich als junger Mann: Degenhardt? Franz Josef Degenhardt. Und das passt natürlich auf Marburg wunderbar: 'Geh doch in die Oberstadt! Mach’s wie deine Brüder!'"

Spiel mit den Schmuddelkindern

Renate Bastian: "Der Weg, den ich politisch gegangen bin: Der war nicht vorgezeichnet."
Mit den Schmuddelkindern hat auch Renate Bastian gespielt. Draußen wabert die Hitze durch Marburgs Gassen. Doch davon bekommt man drinnen wenig mit - im "Schweinestall". So nennt die rote Renate manchmal Spaßeshalber ihr kleines Haus. Früher, vorm Krieg, waren hier die Schweine untergebracht. Gemütlich ist es. Die Dielen: Knarzen; die Regale: Biegen sich unter der Last von: Büchern, Büchern, Büchern. Das meiste politisch. Seit Ende der 60er wohnt die Anfang-70-Jährige hier.
"Das rote Ockershausen. Stark geprägt durch Sozialdemokraten und Kommunisten."

Nach Marburg kam Bastian wegen des Studiums. Osteuropäische Geschichte, Politik und Soziologie. Waren andere Zeiten damals.
"Marburg war ein stock-konservatives Städtchen, Universitäts-Städtchen. Wirklich stock-konservativ. Beschaulich. Und gedanklich auch sehr eng. Da gab’s ne ganz starke konservative Tradition. Mit Burschenschaften."
Das war die eine Seite. Die andere: Ihre Leute. Die Linken. Bei einem Vortrag lernte sie ihren verstorbenen Mann kennen: Herbert Bastian. War ihre Mutter erst einmal bedient: Ein Briefträger, bedeutend älter, und dann auch noch DKP-Abgeordneter im Marburger Stadtparlament. Gott bewahre! Renate Bastian lacht. Leicht abschrecken lassen hat sie sich noch nie. Auch später nicht. In den 70ern. Als die Probleme anfingen. Das Berufsverbotsverfahren gegen ihren Herbert.
"Es ist so'n leichtes Folterverfahren gewesen. Mit sehr vielen Anhörungen, bei denen man immer wieder seine Gesinnung nach außen kehren musste. Aber im Grunde genommen hat’s da keine Chance gegeben. Das war keine Debatte, keine Diskussion. Sondern das war eigentlich ein Verhör. Wo das Urteil schon vorher feststand."
Irgendwie hielten sich die Bastians über Wasser. Dank Renate Bastians kleinem Gehalt und Spenden.
Renate Bastian, der unser Autor Michael Frantzen auf seinem Streifzug durch Marburg begegnete.
Renate Bastian, die unser Autor auf seinem Streifzug durch Marburg besuchte.© MIchael Frantzen/Deutschlandradio

Erst nach der Wende durfte ihr Mann wieder in den Staatsdienst

"Wir hatten hier in unserer kleinen Hütte Besuch aus Holland. Besuch aus Dänemark. Besuch aus Schweden. Besuch aus Frankreich. Da sind auch Freundschaften entstanden, in der Zeit. Und auch in Marburg ne große Solidaritätsbewegung. Es gab ja das Komitee gegen Berufsverbote."
1989, kurz vor Mauerfall, wurde das Urteil aufgehoben, ihr Mann wieder in den Staatsdienst aufgenommen. Es war das Jahr, in dem beide sich entschlossen, aus der DKP auszutreten. Aus Frust darüber, dass sich die DDR nicht als der bessere Staat entpuppt hatte, sondern als marode und nicht zu reformieren.

"Ist 'ne herbe Enttäuschung gewesen. Und ist dann auch eine Frage, dass man denn auch erst mal selbst reflektieren muss. Auch: Was hab ich falsch gemacht? Was hab ich übersehen? Was hab ich falsch eingeschätzt? Was ist an den Grundgedanken richtig oder nicht? Da muss man sich erst mal sortieren."
Mit Politik wollte Renate Bastian danach nichts mehr zu tun haben. Doch irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Wollte sie sich wieder einmischen. Nicht wollte, wirft sie ein. Musste. Seit ein paar Jahren sitzt sie für die Linken im Stadtparlament. In der Opposition zwar, aber nicht mehr isoliert.
"Wir haben hier in Marburg zum Beispiel die Umbenennung dieses Walter-Voß-Weges, des ehemaligen Oberbürgermeisters, der ne Nazi-Vergangenheit hatte, erst kürzlich auf Antrag der Linken durchgebracht. Dass es oben in der Oberstadt eine Tafel gibt, die an die Deportation der Sinti und Roma erinnert. Und da jährlich eine Gedenkfeier stattfindet. Mit dem Oberbürgermeister. So was hätten wir als DKP überhaupt nicht thematisieren können. Da hat keiner auch nur hingehört."

Sohn und Tochter sind undogmatische Linke

Sie haben sich geändert – die Zeiten. Renate Bastian lacht. Schon alles o.k. so. Nebenan wohnt ihr Sohn mit seiner Familie. Auch er ein Linker. Ein undogmatischer. Genau wie die Tochter.
"Die sehen meine parteipolitische Organisation skeptisch. Dann vielleicht auch nen bisschen meine Rigorismus. Indem ich mich einsetze für die unteren Schichten. Der Bevölkerung. Nach wie vor. Immer."
Es gibt noch mehr: An Geschichten. Und: Treppen. Katrin Stichnothe-Botschafter – Erfinderin des Marburger "Grimm-Dich-Pfads" - kennt sich da Bestens aus.
"Hier die Wendelgasse 4: Das Haus, vor dem wir jetzt stehen: Das ist das Haus, in dem die Grimms dann zusammenwohnten. Und sie haben einfach den Weg, den wir jetzt gehen, auch täglich beschritten. Wenn sie zu ihrem Professor Savigny gehen wollten. Die Unterrichtung zwischen Student und Professor – das fand häufig in den Wohnräumen der Professoren statt."

Jacob Grimm hielt es nur ein paar Jahre in Marburg aus

Grimm-Stadt Marburg: Das verkauft sich immer noch gut. Dabei waren die Gebrüder Anfang des 19. Jahrhunderts alles andere als angetan von ihrem Studienort.
Zitator: "Ich glaube, es sind mehr Treppen auf den Straßen als in den Häusern."
Echauffierte sich Jacob Grimm, der Gründer der Germanistik. Er hielt es nur ein paar Jahre in Marburg aus. Katrin Stichnothe-Botschafter ist da aus anderem Holz geschnitzt.
"Als ich nach Marburg kam, bin ich hier mit meinem Mann mit einem, ich glaube damals, VW-Sprinter auch diese Reitgasse hochgefahren. Und wir haben gedacht: Oh ja. Das ist ja ganz schön steil hier. Was macht man hier im Winter?"
"Wir müssen hier rechts."

Stichnothe-Botschafter läuft die Treppen hoch. "Wenn man durch Marburg streift, ist man nicht nur auf den Spuren der Grimms unterwegs, sondern man trifft zum Beispiel auch Michail Lomonossow. Der ja die Moskauer Universität mitgegründet hat. Auch er hat in der Wendelgasse gewohnt. Er hat ein durchaus ausschweifendes Leben geführt. Er hatte nie Geld. Er hat immer wieder Geld nachgefordert. Aber auch er war so jemand, der quer dachte. Das heißt, man geht durch diese Stadt und an unterschiedlichsten Ecken trifft man auf Namen, dass man denkt: Ach? Wie? Der war auch hier?"
Katrin Stichnothe-Botschafter im Foyer des Pistorius-Hauses in Marburg.
Katrin Stichnothe-Botschafter im Foyer des Pistorius-Hauses in Marburg.© Michael Frantzen/Deutschlandradio

Erinnerungen an die Studentenzeit

Die gebürtige Niedersächsin hat viele solcher Geschichten parat. Historische und persönliche.
"So. Jetzt stehen wir vor dem Haus, in dem ich das erste Jahr gewohnt habe. Reitgasse 13-15. Das ist ganz oben. Ganz links. Ein Fenster! Und das war eine Zwischenmiete von einer Studentin, die für ein Jahr nicht in Marburg war. Man musste zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle sein, um irgendwo ein Zimmer zu erwischen. Man musste sozusagen übers Schwarze Brett in der Mensa gucken: Wer hängt da was auf? Und wann bin ich da und sage: Yes, das ist meins."
350 Mark kostete ihre Ein-Zimmer-Wohnung in dem 80er-Jahre-Kasten. Früher stand auf dem Gelände eine Marburger Traditions-Brauerei. Bis sie pleite ging und der Besitzer das alte Gemäuer abreißen ließ. Passierte in den 60ern und 70ern häufiger. Angeblich soll es sogar Pläne gegeben haben, einen Großteil der Oberstadt platt zu machen. Um "modernen Wohnraum" zu schaffen, wie es damals hieß. Daraus wurde nichts – auch Dank der Denkmalpflege, die seit den 80ern predigt: Sanieren statt Abreißen. Es hat sich bewährt - das Marburger Modell. Und einige Schätze vor der Abrissbirne gerettet.
"Vielleicht kurz einen Abstecher zum bekanntesten, ältesten Graffiti. Dieses bekannteste Graffiti hier an der Adresse: Markt 21, heißt: "Wählt Thälmann!"
Den Kommunistenführer aus der Weimarer Zeit.

Wo Heidegger Lichtsignale an Hannah Arendt sendete

"Es hat deswegen überlebt, weil es lange Zeit durch einen Zigaretten-Automaten, der davor geschraubt war, geschützt wurde. Die Denkmalpflege hat es jetzt so präpariert, dass dieses Graffiti aus den 30er Jahren noch jetzt sichtbar ist."

Rotes Marburg, braunes Marburg: Auch in der Weimarer Zeit war die 80.000 Einwohner-Stadt eine geteilte Stadt. Kommunisten-Bastion auf der einen Seite –NSDAP-Hochburg auf der anderen. Adolf Hitler war gern-gesehener und umjubelter Gast. Natürlich hat auch Katrin Stichnothe-Botschafter davon gehört. Sie bleibt vor einem alten Fachwerkhaus stehen. Es birgt ein Geheimnis: Das einer amour fou zwischen einer jüdischen Studentin und einem teutonischen Großdenker – und NSDAP-Wähler.
"Hannah Arendt war hier auch. Es gibt ja eine Liaison zwischen Hannah Arendt und Heidegger. Und Heidegger hat in der Schwanenallee gewohnt. Und auch das ist so ein Verhältnis, von dem weiß man in der Stadt. Dass man sagt: O.k., Heidegger hat dann über Lichtsignale versucht, mit Hannah Arendt Kontakt aufzunehmen. Also, da gab es durchaus auch schon in der Vor-Emailzeit die Möglichkeiten, zusammenzukommen. Seine Familie durfte natürlich nicht wissen, dass er ein Verhältnis mit Hannah Arendt hatte."

In Marburg – der Stadt der kurzen Wege. Und Bekanntschaften. Katrin Stichnothe-Botschafter stockt. Den Mann da – den kennt sie doch.
"Der junge Mann? Ja. Das ist mein ehemaliger Chef, der hier wohnt."
Richard Laufner hat im Kulturamt das Sagen – und bei der Wohnungswahl ein gutes Händchen bewiesen.
"Ja. Ich wohne hier und wir haben den Grimm-Dich-Pfad seinerzeit..."
Stichnothe-Botschafter: "2012 war das."
Schriftzug "Thälmann" - auf eine Marburger Hausmauer gesprüht
Rotes Marburg: "Thälmann"-Schriftzug auf einer Hausmauer.© Michael Frantzen/Deutschlandradio
"Ja. 2012. Die Leute bleiben hier immer stehen."
Vor Laufners wildromantischem Garten. Am Fuße des Schloss-Stiegs.
"Hält halbwegs fit. Ich darf nicht auf den Rollator angewiesen sein. Oder auf den Rollstuhl. Dann muss ich umziehen."
Vorerst aber bleibt Laufner da, wo er ist.
"Wir sagen immer: Unser großer Balkon ist oben der Lutherische Kirchhof. Ein wunderschöner Blick über die Stadt. Sehr nah am Häuschen. Da sitz ich Sommer wie Winter. Im Winter mit ner Decke und nem Kissen unterm Popo. Damit’s nicht zu kalt wird und schau runter."
Auf die Unterstadt. Und die Hochhäuser auf der anderen Seite der Lahn. Schönes Marburg, hässliches Marburg: Das eine gibt es nicht ohne das andere. So sieht das Katrin Stichnothe-Botschafter. Die scheußlichen Hochhaus-Siedlungen seien nun mal der Preis gewesen, den die Stadt zahlen musste, um die Oberstadt zu retten – als mittelalterliche Puppenstube. Wären die Grimms bestimmt vom Glauben abgefallen.
"Dann gibt es einen Satz: 'Zu einem Haus geht man gar zum Dache hinein.' Dieses Haus auf der rechten Seite, unweit der Treppe: Wahrscheinlich war es dieses. Da war einfach der Zugang direkt zum Dach und dann in das Haus hinein. Warum nicht?!"
Sie schaut auf ihre Armbanduhr: In einer Viertelstunde muss sie wieder unten sein – bei der Arbeit. Hastig läuft sie über das Kopfsteinpflaster, auf dem schon die Gebrüder Grimm und Hannah Arendt, die unglücklich Verliebte, gelaufen sein dürften – Richtung Aufzug. Er verbindet Ober- und Unterstadt – schnell; stressfrei und gut ausgeleuchtet
"Hier sieht man: Baujahr 2014. Das Licht ist manchmal ein bisschen fies. Legt jede Falte offen."

Die Grimm-WG, die nichts mit den Grimms am Hut hat

"Haaallloooo!"
Autor: "Hallo."
Melena: "Hallo."
"Guten Tag."
"Ja, komm rein."
"Bin ich richtig?"
"Ja, ich glaube."
"Schuhe aus?"
"Näh, ist egal. Wie du willst."
"Na, dann würd ich sie fast anlassen."
"Ich würd gleich mal die anderen zusammentrommeln."
Von der Grimm-WG.

Tim: "Stehen wir in ner Broschüre drin als Grimm-WG? – Was ist denn das für ne Broschüre?"
Melena: "Ach, das ist das, mit dem die ganzen Touris hier immer rumlaufen?"
Paul: "Ich glaube, dass das hier als Grimm-WG bezeichnet wird, vor allen Dingen, weil dieses Haus auf der Ecke steht und da ist mehr Platz für die Touristen-Führungen. Die anderen Häuser, wo die auch mal gewohnt haben, sind halt mehr in den Seitengassen. Und da ist es halt schwieriger, die Leute vorbei zu lotsen."
Hinterköpfe von Burschenschaftern mit roten Hüten auf dem Kopf
Auch die gibt es zahlreich in Marburg: Burschenschaftler.© picture alliance / Bodo Schackow
Also zur Barfüßerstraße 35. Zu acht wohnen sie hier auf mehreren Etagen. Alles Studenten. Mit Putzplan und Tassen mit oder ohne Henkel. Verbunden durch: Treppen. Ziemlich steile Treppen. Tim und Paul haben sich längst daran gewöhnt.
Tim: "Wir haben jetzt mit den Brüdern Grimm relativ wenig zu tun – außer dass wir in dem Haus wohnen. Insofern…"
Paul: "Es wird aber als Name so weitergegeben. Unsere Emailadresse, die wir fürs Casting benutzen, hat es auch als Name."
Die fürs WG-Casting.
"Ich würd‘ dem jetzt nicht so viel Bedeutung zumessen. Das ist ha - keine Ahnung - mehr aus Jux und Dollerei entstanden, dass wir uns mal Grimm-WG genannt haben. Und ist halt einfach auszusprechen, kann sich jeder merken und fertig."

Braune Vergangenheit

Ergänzt Melena. Das mit den Grimms interessiert die Studentin der Friedens- und Konfliktforschung weniger. Ein dunkles Kapitel des Hauses dafür umso mehr.
"In der Nachkriegszeit hat Klaus Barbie hier gewohnt. Er ist hier untergekommen. Durch alte SS-Verbindungen. Es gibt immer wieder Gerüchte in Marburg, aber richtig bekannt ist es nicht. Weil die Stadt Marburg nicht richtig viel dafür tut, dass das bekannt wird. 2011 wurd das durch nen Doktoranden, glaube ich, herausgefunden und bestätigt. Vorher gab’s immer nur Gerüchte. Seitdem warten wir letztendlich darauf, dass die Stadt auch mal ne Plakette oder so was ans Haus bringt."
An das der Grimm-WG. Marburg ist WG-Hauptstadt Deutschlands. Nirgendwo leben so viele Studierende in Wohngemeinschaften wie in der hessischen Universitätsstadt. Es gibt so ziemlich alles: linke WGs, Frauen-WGs, Burschenschafts-WGs, sogar schlagende. Paul verzieht das Gesicht. Ein paar hundert Meter entfernt, den Berg hoch, steht ein Verbindungshaus. Das bleibt nicht ohne Folgen – für den einen oder anderen Burschenschafter – und Pauls Schlaf.
"Die Fenster sind auch sehr hellhörig. Und: Na ja, aufgrund eines durchaus ausgeprägten Alkohol-Konsums in diesen Verbindungen kommen die uns zumindest akustisch auch hin und wieder näher. Die singen. Zuweilen entleeren sie auch ihre zu volle Blase – nach der Kneipe."
Melena:"Ich wohn halt wie Paul direkt an der Ecke. Und die Fenster sind jetzt nicht so dicht. Da hört man ziemlich alles, was auf der Straße passiert. Von Liebesgeschichten über Trennungsstreit. Bis zu Burschenschaften, die unterwegs sind."
Mit irgendwelchen Burschenschaftern gesprochen? Melena schüttelt den Kopf: Nein, das habe sie noch nicht. Hat sie auch nicht vor.
"Ich muss weg, tut mir leid. Ich hab‘ einen Termin."
Dafür hat Tim noch Zeit – für eine kleine Führung. Durch Marburgs Geschichte.
"Genau. Hier gibt’s noch ne kleine Küche. Passen nicht wahnsinnig viele Leute rein… Und hier ist das Wohnzimmer. Und da sind die Inschriften in der Glasscheibe."

Viel Fluktuation in der WG

Aus dem 18. Jahrhundert: Ganz sicher ist sich Tim da aber nicht. Bei den Dachbalken im Wohnzimmer schon eher. Warum sie so aussehen, wie sie aussehen.
"Jemand hat uns mal erklärt, dass die gar nicht durchhängen von der Belastung, sondern dass das früher die billigeren Baumaterialien waren. Und einfach krumme Bäume verwendet wurden. Sturm-Holz. Genau."

Krumm ist nicht nur der eine oder andere Balken, sondern auch der Holz-Boden in Tims Schlafzimmer.
"Man kann ihn schon als Murmelbahn verwenden. Wenn man sich anguckt, was unter den Schränken platziert werden muss, um die gerade hinzustellen. Das ist schon erheblich."
Erheblich ist auch die Fluktuation – in Marburgs bekanntester WG.
"Alle drei Monate sind wir am Gucken, glaub ich. Bei acht Leuten kommt ganz schön was zusammen. Zwischenmieten haben wir auch häufig. Grad, wenn jemand mal für nen halbes Jahr weg ist oder so."
Tim will fürs Erste bleiben. Er stöhnt leise. Seine Diplom-Arbeit. Die muss er langsam in Angriff nehmen. Genau wie Melena studiert er Friedens- und Konfliktforschung. Und danach? Er zuckt mit den Schultern. Keine Ahnung. Sein Vater ist gerade nach Bolivien gezogen, um in dem südamerikanischen Land als Sozialarbeiter zu arbeiten. Fänd er auch spannend. Oder doch Marburg? Seine Heimatstadt? Hinauf, hinunter – dasselbe?
Mädchen: "Ciao."
Autor: "Tschö."
Paul: " Jaa."
Friedrich Bode in seinem Comic-Laden in Marburg.
Friedrich Bode in seinem Comic-Laden in Marburg.© Michael Frantzen/Deutschlandradio
Autor: "Guten Tag. Sie machen sauber?"
Friedrich Bode: "Na ja, das ist hier nächste Woche...näh, zwei Wochen ist Nacht der Kultur. In Marburg. Und an dem nehmen wir zum ersten Mal teil – an der Nacht der Kultur. Und da haben wir uns überlegt, halbstündig immer irgendwelche Comics vorzustellen. Das Comic wird ja nen bisschen unterschätzt als Kultur-Medium. Ich hab eben noch nen paar Plakate geholt – unten. Dann will ich da nen Plakat hinhängen. Aber die Scheibe is so dreckig. Wollen Sie reinkommen?"
"Ja, gerne."
"O.k., isch mach hier grad mal den Rest…Ja. So. Was kann ich für Sie tun?"

Vielleicht zunächst einmal: Sich vorstellen.
"Ich heiß Friedrich Bode. Wir sind hier im Comicladen in Marburg. Barfüßerstraße 51. Der heißt 'Comics, Kitsch und Kunst'. Bezeichnenderweise verkaufen wir nit nur Comics, sondern so‘n bisschen Merchandise drum herum. Da ist die Barriere zwischen Kunst und Kitsch ganz klein."
Mittwochvormittag. Die Oberstadt. Wer zum Zwei-Zentner-Mann mit dem Rauschebart will, muss hoch hinaus. Fünf steile Stufen: Nichts für alte Leute. Aber die verirren sich so oder so kaum in sein Geschäft. Bode hat gerade aufgemacht. Vor zehn stellt er sich nicht in den Laden. Lohnt sich nicht. Seine Kundschaft kommt so früh nicht in die Gänge: Hauptsächlich Schüler und Touristen. Bode auch nicht. Ist ihm ganz recht. Hat er sein Reich ganz für sich alleine.
"Joh. Comics, Comics, Comics."

Reich ist der Comic-Händler nicht geworden

Früher waren Comics in Deutschland verpönt – als Schund-Literatur. Das hat sich geändert. Besonders in Marburg. Wegen der ganzen Studenten; der vielgereisten, die auf ihren Trips nach Frankreich oder Belgien feststellten: Hoppla, was gibt es denn da für coole Comics. Jährlich kommen 1400 Neuerscheinungen auf den deutschen Markt, vor zehn Jahren waren es nur 500.
"Es gibt alles. Also von den einfachen Geschichten: Bis zu wirklich Sachen über den Faschismus. Es gibt Sachen über Sänger. Also Reinhart Kleist hat zum Beispiel über Johnny Cash oder Nick Cave Sachen gemacht. Und so was. Und es gibt halt ganz normale Funnies: Von Tim und Struppi. So was. Die so für Kinder gehalten sind."

Bode hat sich hinter der Kasse platziert - seinem Stammplatz: Von hier hat er alles im Blick. Die Schüler, die eigentlich in der Schule sein müssten, aber lieber bei ihm herumstöbern; die chinesischen Touristengruppen, die manchmal aus Versehen bei ihm landen – statt im Eisenwaren-Geschäft schräg gegenüber; Stamm-Kunden wie den Alt-68er mit dem Faible für "Werner Beinhart"-Comics. Bei ihm wird jeder fündig.
"Ich hab den ‘99 aufgemacht. Hab' vorher mit nem Kumpel zusammen Wein und Käse gemacht."
Autor: "Aber jetzt nicht zufälligerweise Herr Sabo?"
"Doch. Genau, genau."
"Bei dem bin ich gleich."
"Ach so. Das lief dann nach 'ner Zeit nit mehr, weil sie da zwei dicke Einkaufszentren hin gebaut hatten. Und dann hab ich halt mein Hobby zum Beruf gemacht, gell?"

Reich ist Bode damit nicht geworden – nicht wirklich. Muss auch nicht sein – meint er lapidar. Hauptsache, am Ende des Monats bleibt genug übrig für die Miete. Zehn Euro zahlt er für den Quadratmeter. Ist noch o.k.. Auch in Marburg sind die Mieten gestiegen – für Wohnungen, Gewerberäume.

Gewerbemieten sind teuer geworden

Der Comic-Liebhaber geht zum Fenster: Da drüben, die Barfüßerstraße hoch: Stehen neuerdings zwei, drei Ladenlokale leer. In einem war ein kleiner Lebensmittelladen. Bis der neue Hausbesitzer die Miete verdoppelte. Bode ist immer noch da. Halten ihm ja auch alle die Stange. Allen voran die Comic-Szene. Gibt sogar ein paar einheimische Comic-Zeichner. Keine besonders guten. Marburg-Comics: Dementsprechend Fehlanzeige.
"Hinten ist unser Raum für Mangas. Hier gibt’s halt Mangas. Und auch natürlich noch nen paar Figuren und so. Und Mangas sprechen Sie halt viele, junge Leute an. Hauptsächlich Mädels, die halt Mangas kaufen. Ab sechs Euro. 5,95 Euro. Und es gibt so Luxus-Drucke: Die kosten dann schon 25, 30 Euro."

Anderes kommt ihm nicht in den Laden.
"Es gibt auch Comics von rechten Verlagen: Die verkaufen wir natürlich nicht. Das ist so. Früher war das ja so der Landser oder so: Das würden wa nidd verkaufen."
Bode schaut zum Eingang: Kundschaft. Wird auch Zeit. Für einen Ortswechsel. Zu einem alten Bekannten.
Robert Sabo: "Guten Tag."
"Michael Frantzen vom Deutschlandfunk."
"Das hab ich mir gedacht. Läuft doch sonst keiner so rum."
Das ist Herr Sabo – Bodes ehemaliger Kompagnon. Herr Sabo hat ein gutes Auge – und einen:
"Spezialitätenladen in Marburg."
In der Unterstadt – gegenüber einem Riesen-Kasten, in dem früher Horten saß – das Kaufhaus. Horten ist längst Geschichte, Sabo immer noch da. Mit seinem Sortiment.
"Alkohol. Wein, ja, ja. Wein und Käse und Kaffee."
Sind die Renner. Lokale Produkte weniger. Marburger Kräuter-Likör: Kommt Sabo nicht ins Haus. Bei ihm gibt es nur Erlesenes - aus:
"Italien. Frankreich. Spanien. Portugal. Österreich. Und Deutschland."
Robert Sabo und Mitarbeiterin Maria in seinem Feinkost-Laden in Marburg.
Robert Sabo und Mitarbeiterin Maria in seinem Feinkost-Laden.© Michael Frantzen/Deutschlandradio
Marburgs Feinschmecker Nummer eins hat sich an die Theke gestellt. Vorne, in der Vitrine: der Käse, der italienische. Hinter ihm: eine goldene Uhr – aus Sowjet-Zeiten. Und daneben: Fotos. Kleine und große. Aus seiner Vergangenheit.
"Wo waren Sie vorher? Bei Herrn Bode?
"Ja."
"Mit dem hab ich das zusammen gemacht….Hier haben wir angefangen – in Weidenhausen. Das ist er noch."
"Ah, das ist..."
"So sah er mal aus."
Bevor sie getrennte Wege gingen. Und sein alter Geschäftspartner ein paar Kilo zunahm. Sabo dreht sich zur Seite: Das vergilbte Foto daneben ist noch älter.
"Der Kleine bin ich. Das ist mein Vatter. Das ist unser Lebensmittelladen in Biedenkopf."
Hätte sich Sabo auch nicht träumen lassen: Dass er einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Ihr Verhältnis war nicht einfach.
"Wie kann ich das jetzt ganz kurz beantworten?! Er kommt aus Ungarn. Ist auf der Flucht hierher – mit seiner Frau. Und die Frau ist dann umgekommen, auf der Flucht. Nach der Kapitulation. Er hat ja das Gefühl gehabt, die Kommunisten haben seine Frau umgebracht. Hab ich immer gesagt: Warum biste denn überhaupt abgehauen? Was hast du denn für ein schlechtes Gewissen gehabt? Es war halt damals in den 60ern so, dass man den Eltern nichts nachgelassen hat. Das ist dumm und tragisch."

Bodo Ramelow war sein Kumpel

Der Alte ist schon lange tot, er selbst längst nicht mehr so dogmatisch – wie früher. Haben sich alle geändert – auch der Bodo, sein bester Freund damals. Sabo lacht. Ja genau, der Bodo. Bodo Ramelow, der Thüringer Ministerpräsident von den Linken. Waren politisch immer auf einer Wellenlänge.
"Ich war aus Biedenkopf kommend ein Verkäufer. Herr Ramelow, Bodo, war auch Verkäufer, gelernt wie ich. Und kam nach Marburg und fühlte mich geehrt, dass ein Professor aus Marburg - der Klaus Pickshaus und dann der Frank Deppe - uns den Marxismus beibringen wollte. Nicht irgendein Hinz und Kunz, sondern ein Professor. Wo alle anderen sich im Seminar eintragen mussten. Marxistische Arbeiterbildung hieß das."
Sabo schließt für ein paar Sekunden die Augen. Da fallen seine Angestellten immer aus allen Wolken, wenn sie zum ersten Mal die alten Geschichten hören. Dass er lange für die DKP im Marburger Stadtparlament saß. Er: Feinkost-Sabo.
"Du kannst ruhig reinkommen."
Meint der Chef zu Maria, einer seiner Verkäuferinnen.
"Ist gerade Schichtwechsel hier."

27 ist Maria – und ziemlich happy mit ihrem Studenten-Job.
"Der Vorteil ist einfach, dass man mit dem Chef per Du ist. Dass, wenn irgendetwas ist, man das ansprechen kann. Egal was. Ich glaub, ich hab noch nie irgendwie Schiss gehabt, wenn ich irgendwas kaputt gemacht hab. Das ist immer auf ner Ebene, wo man miteinander reden kann. Und ich glaub, das ist auch das, was ich am meisten hier an der Arbeit auch schätze."
"Kannst du mir 'n Espresso machen? Wollen Sie 'n Espresso?
"Ich würd‘ nicht Nein sagen."
"O.k."

Ein, zwei Mal im Jahr lädt Sabo seine Mitarbeiterinnen zur Betriebsfeier ein. Inklusive Wein-Verköstigung. Schließlich sollen Maria und die anderen ihre Kunden gut beraten. Letztens hat der Chef einen ganz besonderen Tropfen dabei gehabt.
"Es gibt zufällig ein Weingut, was so heißt wie ich. Ist leider nicht meins. In Frankreich. Ist jetzt nicht mein Lieblingswein. Obwohl er meinen Namen hat. Weil: Das ist ein einfacher Landwein."
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