Die gespenstische Systemdebatte

Von Stefan Theil |
Die landläufige Krisenbeschreibung klingt ungefähr wie folgt: Schuld an der Krise sind zuviel Markt und Deregulierung im angelsächsischen Kapitalismus. Die Bundesregierung habe die Amerikaner und Briten ja schon immer gewarnt, die Finanzmärkte besser zu regulieren. Hätten sich doch alle ein Beispiel genommen am deutschen Modell der solide regulierten sozialen Marktwirtschaft.
Diese Erzählung hat natürlich einen wahren Kern. Die Giftkonstrukte der Wall-Street-Banker, die Praktiken der Ratingagenturen, das Verteilen von Hypotheken an Schuldner, die in Deutschland nicht einmal eine EC-Karte bekommen würden - all das ist natürlich indiskutabel. Dass das Unheil von Amerika aus seinen Lauf nahm, dass die gefährlichsten Papiere am wenigsten reguliert waren, auch das ist unbestritten. Doch ein großer Teil der deutschen Erzählung der Krise ist falsch, unehrlich und führt in die Irre.

Die Krise ist mitnichten ein Produkt von zu viel Markt und Kapitalismus. Sie ist unerklärbar ohne massives Staats- und Regulierungsversagen. Die explosiven Kasinogeschäfte in den USA beispielsweise konnten sich nur entfalten, weil eine Zentralbank seit Anfang des Jahrzehnts so viel billiges Geld in die Märkte gepumpt hat, dass eine riesige Kredit- und Immobilienblase entstand. Die Banker setzten auf die quasi-staatliche Garantie ewig niedriger Zinsen, das Risiko schien ausgeschaltet und noch die schrottigste Anlage fand einen Käufer.

Wenn die deutsche Regierung heute sagt, sie hätte ja so gerne die internationalen Finanzmärkte reguliert, zündet sie bestenfalls eine Nebelkerze. Bekannterweise hat jedes Land immer noch seine eigene Finanzaufsicht. Wo waren denn die deutschen Regulierer, als sich deutsche Banken mindestens so sehr verzockten wie ihre amerikanischen Pendants?

Diese Frage versucht gerade ein Untersuchungsausschuss im Bundestag zu klären. Die bayrische Hypo Real Estate, die mit circa 160 Mrd. Euro Staatshilfe zu den weltweit größten Bankdesastern überhaupt gehört, hatte nur wenig mit den amerikanischen Schrottpapieren zu tun. Ihr hochriskantes Zockermodell mit Staats- und Kommunalkrediten war vollends made in Germany, im Aufsichtsrat saß ein ehemaliger Bundesbankchef. Die deutsche Finanzaufsicht BaFin hat lange vor der Krise Warnbriefe ans Finanzministerium geschickt, aber beide blieben untätig. Ob der Ausschuss etwas bringt, ist unklar, denn bisher ist die deutsche Aufarbeitung der Krise geprägt von Geheimniskrämerei und Intransparenz.

Noch gieriger als die Hypo Real Estate waren die Landesbanken und die kleine Staatsbank IKB. Laut eines BaFin-Papiers hielten sie Ende Februar immer noch über 350 Mrd. an nicht handelbaren Anlagen. Seit Jahrzehnten sind diese Gebilde ein Sumpf von Dilettantismus und politischer Patronage, die nach regelmäßig wiederkehrenden Krisen mit Steuermilliarden aufgepäppelt werden von Politikern, sich damit wieder mal als Retter von Arbeitplätzen brüsten, nicht zuletzt ihrer eigenen, mit denen sie reichlich versorgt werden in den öffentlich-rechtlichen Gremien.

Die Landesbanken konnten noch unbeschwerter zocken als die Hypo Real Estate, da sie die Garantie des deutschen Staates im Rücken hatten – jene Garantie, die unter anderen Peer Steinbrück als nordrhein-westfälischer Finanzminister 2001 in Brüssel durchgesetzt hat. Nun wird wieder einmal nach Wegen geschaut, die Staatsbanken zum x-ten Mal zu "retten." Das passt nun gar nicht in die Erzählung von zuviel Markt und Kapitalismus.

Trotzdem gibt es auf einmal wieder eine gespenstische Systemdebatte über Markt und Staat, in der der Markt wieder schlecht und der Staat wieder gut sein darf. Jetzt säuseln sie wieder die alte Musik vom Vater Staat, der uns vor Ungerechtigkeit und Kapitalismus schützt. Das Lied vom Verteilen und Umverteilen, vom Nuckeln am großen Tropf im Namen der Gerechtigkeit. Was aus der Klüngelei auf Kosten Dritter am Ende herauskommt, können wir gerade wunderbar beobachten beim Abgreifen der deutschen Steuerzahlermilliarden durch marode Autobauer und zwielichtige russische Staatsbanken. Staatsknete für alle, für Banker und Rentner, Opelaner und Milchbauern. Es ist wie in den guten alten Zeiten!


Stefan Theil, Journalist, geboren 1964 in Düsseldorf, 1975 ausgewandert nach Pittsburgh/USA. Studierte Public and International Affairs an der Princeton University, Bachelor of Arts 1986, anschließend Studium der Politischen Wissenschaft in Berlin. Reporter für "The Washington Post" während der Wende 1989, ab 1990 für "Newsweek". Berichte aus Belgien, Frankreich, Niederlande, Polen, Österreich, Russland, Schweiz, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn, Ukraine und USA. Korrespondent im Deutschlandbüro von "Newsweek" seit 2004 mit Schwerpunkt europäische Wirtschaft.