Die geschlossene Festung und ihre Feinde

Im italienischen Original erschien dieser Roman bereits 1940, in einer Prachtausgabe der Anderen Bibliothek ist er nun auch auf Deutsch wieder lieferbar. Der Inhalt: In einer Festung im Grenzgebiet eines namenlosen Landes wartet eine Gruppe von Militärs auf einen Feind. Ein Roman, der einen die Welt neu sehen lässt.
Konservative wissen es seit jeher: Wir sind umzingelt von Feinden, offensichtlichen und verborgenen, weshalb Wehrbereitschaft Not tut und auch ein langer, allzeit wachsamer Atem. Freilich hat auch die Gegenseite ihre Überzeugungen: Feinde gibt es gar nicht, sondern höchstens "Feindbilder", diese aber sind ebenso konstruiert wie jenes "wir" und deshalb von Übel. Beide Lager können das eine oder andere plausible Beispiel anführen - und müssten dennoch kapitulieren vor einer Komplexität, die in diesem Fall jedoch nicht etwa "Realität" heißt, sondern "Literatur".

Die mitunter zur Binsenweisheit verkommene Einsicht, dass ein guter Roman noch immer mühelos alle Geschichtswerke und Polit-Analysen hinter sich lässt, hier kann sie nun endlich wieder leuchten und auf poetische Weise überzeugen: Dino Buzzatis Meisterwerk "Die Tatarenwüste", im italienischen Original bereits 1940 erschienen, hatte nämlich damals das Radar von Mussolinis Zensoren ebenso unterlaufen wie es noch heute die gängigen Bellizisten- und Pazifisten-Diskurse um eine existentielle Dimension zu bereichern weiß. In den 1950er-Jahren unter dem allzu beschaulichen Titel "Im vergessenen Fort" erstmals auf Deutsch publiziert, ist nun der Roman in einer Prachtausgabe der Anderen Bibliothek wieder lieferbar, in einer behutsam revidierten Übersetzung. Um was aber geht es?

In einer Festung im äußersten Grenzgebiet eines namenlosen Landes wartet eine Gruppe von Militärs auf einen Feind, der eventuell aus der jenseits gelegenen, kargen Steinwüste hervorbrechen könnte. Der Hauptheld dieser in eindringlicher Lakonie erzählten Geschichte ist der Leutnant Giovanni Drogo, der hier die Jahrzehnte seines Lebens verwartet: Immer auf Posten, immer auf das Geröllfeld jenseits der Befestigungen schauend und gleichzeitig konkret leidend an der hierarchisierten Männerwelt innerhalb des Forts mit ihren Riten, Gerüchten und Aufgeregtheiten, die freilich nur eine entsetzliche Leere füllen: Der Feind, der vielbeschworene und minütlich erwartete, will sich einfach nicht zeigen. Gleichzeitig gibt diese Warteexistenz im permanenten Ausnahmezustand seinem Leben Halt und Sinn.

Verblüffend, wie auch nach über sieben Jahrzehnten dieses Hauptwerk des damals doch erst 34-jährigen italienischen Schriftstellers und Journalisten noch heute die Leser in seinen Bann zieht - in einer schnörkellosen, gleichwohl wie elektrisch geladenen Sprache. Dazu ist es dem kenntnisreichen Nachwort-Essay der Publizistin Maike Albath zu verdanken, dass nun auch jene etwas über Dino Buzzati (1906-1972) erfahren, denen der Autor bislang entweder unbekannt gewesen war oder sehr verkürzt als der "italienische Kafka" gegolten hatte.

Und Leutnant Drogo? Erkennt irgendwann am Ende seines Lebens, dass er einem Wahn aufgesessen ist und überlässt sich dem Altern und seinen Krankheiten - in just eben dem Moment, als die Tataren von der Wüste her nun tatsächlich auf die Festung zustürmen, die mittlerweile freilich längst nicht mehr effizient wehrhaft ist. Drogo wird ins Hinterland abgeschoben, wo er dann allerdings wirklich siegt, ganz ohne Epauletten und Uniform: Ohne den falschen ideologischen Trost eines "Hätte ich doch..." betritt er nun das Grenzgebiet zwischen Leben und Tod, das mit Sicherheit kein imaginäres und konstruiertes ist. "Fürchte dich nicht, Giovanni. Das Schlimmste ist getan. Du hast die Qual hinter dir": Der ansonsten so zurückhaltende Chronist stellt sich an die Seite des furchtlos sterbenden Soldaten, wenngleich selbst diese furiose Schlussszene ohne jegliches Brimborium auskommt. In der Tat: Ein Roman, der einen die Welt neu sehen lässt.

Von Marko Martin

Dino Buzzati: Die Tatarenwüste
Aus dem Italienischen von Percy Eckstein und Wendla Lipsius
Mit einem Essay von Maike Albath
Die Andere Bibliothek, Berlin
252 Seiten, 34 Euro