Die Geschichte von Elbflorenz

Rezensiert von Stefan Amzoll |
Wolfgang Hädecke, Dresdner aus Überzeugung, erzählt in 30 Kapiteln die Geschichte Dresdens, von den Anfängen der Residenzstadt bis zum großen Aufbruch nach 1989. Dabei stellt er Dresden nicht nur als Kunststadt mit seiner Residenz und den weltberühmten Kirchen und Museen dar, sondern auch als Stadt der Musik, der Heimat Erich Kästners und als Hochburg der Technik und des Sports. Ein umfassendes Porträt der sächsischen Metropole.
Man darf sich den Autor so vorstellen: Da stolziert einer mit Stock, Brille, Hut und gut geputzten Schuhen, der es wissen will, obgleich er schon ungeheuer viel weiß. Schaut mal da hin, mal dort hin, entdeckt, was allseits geläufig erscheint, neu, und stellt es, angereichert mit Material aus hunderten Quellen, in neuzeitliche Zusammenhänge. Gegenstand sind neben Kunst und Kultur, sie bilden den Kern, auch die Wissenschaft, die Bildung, die Einrichtungen der Industrie. Autor Wolfgang Hädicke sucht derlei wenigstens anzutippen. Auf Vollständigkeit zielt er nicht.

"Dresden ist unerschöpflich, auch das macht seine besondere Schönheit aus. Ich setze in 30 Kapiteln markante Schwerpunkte."

Was da aus den Kapiteln alles springt und spricht. Ein ganzes Kontinuum Stadtgeschichte, entfaltet in der Vertikalen und Horizontalen, und angeschaut aus vornehmlich geistesgeschichtlichem Blickwinkel. Schönheiten der Landschaft, der Architektur, die Anmut der Bildwerke, der Dichtkunst, der Musik, die Größe des Gedankens, versammelt in der Stadt der Städte Sachsens und Europas.

Dresden, das weiß oder ahnt inzwischen die Welt, kann sich vor Kultur beinahe nicht retten: der Zwinger, die neu errichtete Frauenkirche, der Kreuzchor, die Semperoper, die Sixtinische Madonna, das Kupferstichkabinett, die Schlösser, Gärten, Gebirge, Wälder, Wiesen, die gute Elbe. Aber um unbeschädigt fortzubestehen, müssen die Träger der Kultur, die Menschen der Stadt auf der Hut sein. Mancherlei Gefährdungen drängen vor, ältere wie neue. Dresden und die Globalisierung. Der Themenpunkt kommt in dem Buch vor. Wolfgang Hädecke meint es gut. Zum Schluss sagt er, was ihn ehrt, mahnend:

"Dresden ist eine virtuelle ökologische Stadt, der Harmonie mit ihrer schönen, verletzlichen, unersetzlichen Naturlandschaft dringend verpflichtet, im Glanz ihrer höchsten Auszeichnung und Würde aufgerufen, die empfangene Erhebung zum Weltkulturerbe nunmehr zu leben und zu verteidigen, gegen auch in den eigenen Mauern grassierende lokalpolitische Kleinkariertheit, gegen die Anmaßungen eines gefährlichen, zerstörerischen, womöglich apokalyptischen Globalismus und gegen die im eigenen Haus nistenden, dieses Haus und das Weltkulturerbe vergiftenden Hypertrophien der Selbstzerstörung."

Das Buch spannt einen weiten Boden, es springt bisweilen von Jahrhundert zu Jahrhundert, blendet zurück, blendet vor. Dieser Dresden-Aufriss ist asynchron. Beschreibungen ziehen nicht selten vorüber wie die Sequenzen im Film. Beispiel: Malerei und Poesie. Hädecke gibt ein plastisches Bild des Malers und Zeichners Caspar David Friedrich, der hauptsächlich in Dresden lebte und arbeitete, aber die Stadt nicht malte, allenfalls deren ferne Klüfte und löchrigen Horizonte.

Nachgezeichnet werden sodann E. T. A. Hoffmanns Kriegsschilderungen und sein Werk "Der Goldene Topf. Ein Märchen der neuen Zeit", das der Dichter nicht nur in Dresden schrieb, sondern das auch von dieser Stadt handelt. Der Buchautor dringt dabei in den Inhalt solcher Arbeiten ein und sucht daran Stadt- und Lebensgeschichte zu rekonstruieren. Auch Ludwig Tiecks Dresdner Jahre, er hatte eine Wohnung am Alt-Markt, dichtete dort und rezitierte, kommen originell zum Zuge:

"Tieck las einer ständig wechselnden, enthusiasmierten Zuhörerschaft große Werke der dramatischen Weltliteratur vor, er allein, wohlgemerkt, in genialer Ausführung, mit stupender Wirkung."

Nicht ganz so sicher wie in der Poesie und bildenden Kunst ist er in der Musik. Richard Strauss' Rolle in Dresden während des Dritten Reichs bedürfte mancher Ergänzung. Nicht minder der Rauswurf des Dirigenten Fritz Busch 1933 aus seinen Ämtern von Staatskapelle und Semperoper wie deren Folgen. Hier fehlt das schwierige Kapitel Fritz Busch und sein Protegé Hermann Göring. Busch war kein Widerständler, wie es Hädecke suggeriert, freilich auch kein Nazifreund. Busch wollte mit Hilfe Görings in Deutschland große Karriere machen. Als daraus nichts wurde, entschloss sich der Dirigent, ins Exil zu gehen. Programmatisch hebt das Buch übrigens mit dem Kapitel "Februar 1945" an, der Zerstörung Dresdens.

Aufschlussreich sind die Skizzen über den Techniker und Wissenschaftler Manfred von Ardenne und den Romanisten Victor Klemperer, die der Autor entwirft. Daran dürfte er u. a. gelernt haben, das Land, für das sich die beiden bedeutenden Gelehrten nach 1945 entschieden haben, besser oder überhaupt zu verstehen.

Geht Hädecke auf bedeutende Dresdner Kunsttradition ausführlich ein, so bleibt die Gegenwartskunst schmählich unterbelichtet. Wahrlich ein Manko.

Alles in allem: Der Autor hat sich in die reiche Geschichte und das wechselvolle Leben der Stadt wirklich hineingearbeitet. Das ist anzuerkennen. Er stammt ja nicht von dort, sondern der heute 77-jährige Germanist und Anglist, der im Hanser Verlag schon Biografien Heinrich Heines und Theodor Fontanes vorgelegt hat, kommt aus Weißenfels an der Saale.

1958 siedelte er in die Bundesrepublik über, und seit 1994 ist seine Wahlheimat Dresden. Aus gutem Grund. Der nunmehr alte Mann hat sich einfach vernarrt - in deren kulturelle Schätze, vernarrt in die Elbflusslandschaft, in die nahen Auen und Gebirge, vernarrt in die herzlichen, sympathischen sächsischen Gewächse, also die Bewohner der Stadt, mit denen er zusammentraf und denen er zugetan ist.


Wolfgang Hädicke: Dresden. Eine Geschichte von Glanz, Katastrophe und Aufbruch
Hanser Verlag München 2006
416 S.