Die Geschichte eines langen Abschieds

Rezensiert von Frank Meyer · 14.03.2005
Die Geschichte beginnt mit einer Täuschung: Großvater Nikola wird erzählt, die Kinder müssten zum Zahnarzt fahren, deshalb würden die Koffer gepackt. In Wahrheit sollen die Schwestern Jelena und Hanna Dalmatien verlassen und zu den Eltern nach Deutschland ziehen, für länger, vielleicht für immer.
In ihre erste Heimat und in die erste Sprache, nach Jugoslawien kehren die Kinder in den Sommerferien zurück und in ihren Erinnerungen, bei denen sie bald nicht mehr wissen, was wirklich passiert ist und wo die Erinnerung trügt. So zieht sich die Frage danach, wo man andere täuscht und sich selbst, durch das ganze Buch.

Der Roman erzählt die Geschichte eines langen Abschieds. Jelena Felder, das zehnjährige Mädchen, kehrt immer wieder zu ihrem Großvater zurück, so lange, bis er ein gebeugter, fast blinder alter Mann geworden ist und sie eine junge Frau. Dalmatien ist die Kindheitslandschaft, dort hat sie die ersten Freuden und das frühe Grauen erlebt. Die Geschichte vom Esel gehört dazu, der vom Großvater in ein Erdloch geprügelt wurde, weil der Esel den Weinstock durchgebissen hatte. Mit gebrochenen Beinen verdurstet das Tier im Erdloch. Das Bild verfolgt Jelena bis an die deutsche Schule, wo eine Vertiefung im Schulhof sie an das Loch erinnert. Auch sonst bieten die Orte der Kindheit für Jelena wenig Anlass zur Verklärung. Die Eltern waren früh zum Arbeiten nach Deutschland gegangen, die Kinder blieben bei Verwandten. Sie haben beim Großvater gelebt, aber auch bei einer der vielen Tanten oder anderen aus der weitläufigen Familie. Ihre Kindheit war eine Geschichte der Trennungen, Vater und Mutter weit weg, und die Verwandten oft genug neidisch, schlecht zu sprechen auf die "Deutschländer", auf Jelenas Eltern, die es geschafft hatten, im Westen ihr Geld zu verdienen. Saufende Onkel, zänkische Tanten, aber auch die überraschende Zärtlichkeit des Großvaters, das ist die Welt, in der die Kinder groß werden. Bis sie nachgeholt werden in das Land, "weiter als Italien", nach Deutschland. Die Nähe zu ihren Eltern müssen die Kinder dort erst wiederfinden. Das gelingt, langsam, mit vielen Umwegen, und am ehesten, wenn die Mädchen die Niederlagen der Eltern miterleben. Wenn er von dieser schmerzhaften Annäherung erzählt, dann ist der Roman am eindringlichsten.

In der neuen Heimat ist für die wache Jelena, eine geborene Beobachterin, vieles sonderbar. Der Name eines Chefs ihrer Mutter zum Beispiel, "Engelhardt", ein Name, der "einen Riegel öffnet und zehn wieder zumacht". Zuerst war ihr in Deutschland das samstägliche Straßenkehren aufgefallen, später die Sauberkeit der anderen Kinder, die bis zu den Haarspangen rosa abgestimmten Mädchen, die Jungen, die alle Ingenieure und Flugzeugpiloten werden wollten. In Jelenas Erfahrung ist Deutschland ein karges Arbeitsland, mit reichlich Putzjobs für die Mutter und Abwasserkanälen, in denen ihr Vater bis zu den Knien im Dreck steckend schuftet. Glücklich sind die Eltern dort selten, stolz allerdings: darauf, sich auch in der Fremde zu behaupten.

Marica Bodrozics Roman ist eine Bilderfolge, eine durch die Zeit hin und her springende Kette von Impressionen, von Erinnerungsfetzen und Reflexionen. Jelenas Geschichte zerfällt in viele einzelne Momente, ungeordnet, unwillkürlich, wie die Erinnerung. Sie bleibt seltsam privat, auf Augenhöhe des Kindes, einmal ist in dem ganzen Buch vom "sozialistischen Fernsehen" die Rede, ansonsten bleiben die politischen Verhältnisse der 70er und 80er Jahre außen vor. Viele der Erzählbilder haben eine große poetische Kraft, sie stecken voller Spracherfindungen, voller Sinnlichkeit. Öfter allerdings schlägt die poetische Anstrengung um: in schwere Bedeutsamkeit, in nostalgische Bilder, in leere Abstraktion.

Wie ihre Heldin Jelena wurde Marica Bodrozic Anfang der 70er Jahre, 1973, in Dalmatien geboren, wie Jelena ist sie mit zehn Jahren nach Deutschland übergesiedelt. Heute lebt die Autorin in Berlin und schreibt auf Deutsch. Für ihr erstes Buch, den Erzählungsband "Tito ist tot", hat Marica Bodrozic beste Kritiken und eine ganze Reihe von Preisen bekommen, u.a. den Heimito-von-Doderer- und den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Ihr erstes und das neue Buch sind sich sehr nahe, in beiden erzählt ein Kind von den 80er Jahren, von Jugoslawien, von einer Familie, deren Mitglieder sogar in beiden Büchern auftauchen. Die erstaunlich eigenständige Bild- und Sprachkraft dieser Autorin, ihre poetischen Überhöhungen, ihre Episoden und Miniaturen, all das findet sich in ihren Erzählungen und ganz ähnlich in ihrem neuen Roman. Kein Zweifel: hier hat eine Autorin ihren eigenen Ton gefunden.

Marica Marica Bodrozic
Der Spieler der inneren Stunde
Roman
Suhrkamp Verlag
227 Seiten
16,90 Euro