Die Geschichte einer Getriebenen
In "Ferne Schwester" erzählt Ruth Rehmann das Leben einer rastlosen Frau, die ihre Familie und den Glauben an die Menschheit im Zweiten Weltkrieg verloren hat. Sie flieht aus Deutschland nach Algerien, wo aber ein neuer gewaltsamer Konflikt droht.
1993 setzte sich Ruth Rehmann in ihrem Buch "Unterwegs in fremden Träumen. Begegnungen mit dem anderen Deutschland" mit der Wende von 1989/90 auseinander. Angesichts der historischen Zäsur problematisiert sie, ob sie die "Bildwechsel" in der eigenen Biographie jemals bemerkt und kritisch reflektiert hat: "Was haben sie aus mir gemacht – 1933, 1945, 1968?". Die 1922 in Siegburg geborene Schriftstellerin zieht damit eine ehrliche Bilanz ihrer bisherigen literarischen Arbeit. Denn seit ihrem Romandebüt "Illusionen" von 1959 – aus dem sie auch auf der Tagung der Gruppe 47 in Großholzleute 1958 las – steht die Frage, welchem "Ruf" man im Leben folgt und an welchen Punkten man sich für einen Weg und gegen einen anderen entscheidet, immer wieder im Zentrum ihrer Texte.
"Wie muß man sein, was muß man tun", um diesen Ruf zu hören, heißt es im Roman "Ferne Schwester", den Rehmann der 1998 verstorbenen Münchner Sozialarbeiterin Agnes Kunze widmet. Sie gründete die Lepra-Kolonie KKM-Kripaon ki Mata in Indien und lebte dort 37 Jahre. Kunze verstand sich weder als Missionarin noch als Entwicklungshelferin. Ihr Anliegen war es, den Gestrandeten und von der Gesellschaft Verstoßenen einen Ort zu schaffen, wo sie in Würde leben und sterben können.
Entgegen dieser konsequenten Lebensentscheidung, sich für die Schwächsten bedingungslos einzusetzen, ist die Ich-Erzählerin in Rehmanns Roman eine Getriebene, die "nicht in der Normalität ankommen kann". Rastlos irrt Madeleine zwischen Kriegschaos und "provisorischer Nachkriegsordnung" umher und findet nach 1945 keinen vertrauten Menschen mehr. Madeleine hat im Krieg nicht nur ihre Familie und die Freunde verloren, sondern jeglichen Glauben an die Menschheit. Sie ist eine einsame, beschädigte Figur, deren Gedächtnis ohne Chronologie arbeitet. Um der eigenen Geschichte wieder habhaft zu werden, verlässt sie Deutschland und flieht über Marseille und Paris nach Algier. Doch während sie die eine Verwüstung hinter sich lässt, kündigt sich in Algerien bereits ein neuer Krieg an. Auf ihrer Flucht schreibt sie Briefe an eine gewisse Clara, die als Missionarin in Indien lebt und die sie aufgrund ihrer Bestimmung verehrt. Dass die Briefe ihre Adressatin niemals erreichen, spielt keine Rolle. Sie dienen dazu, das eigene flüchtige Leben festzuhalten und zu verstehen. Nach ihrer Rückkehr bleibt Madeleine ein Flüchtling im eigenen Land. Sie scheut sich, feste Bindungen einzugehen und ist "unwillig, an der neuen Ordnung teilzunehmen".
Ruth Rehmann geht es nicht nur um den Verlust von Glauben und die Frage, welcher Religion man sich angehörig fühlt. In der vielschichtigen und spannungsreichen Konfrontation verschiedener Kulturen und Religionen, stellt sie eine Geschichtsschreibung in Frage, die sich zum Werkzeug der Kolonisation macht und dabei neue Feindbilder produziert.
Besprochen von Carola Wiemers
Ruth Rehmann: Ferne Schwester
Roman
Carl Hanser, München 2009
328 Seiten, 19,90 Euro
"Wie muß man sein, was muß man tun", um diesen Ruf zu hören, heißt es im Roman "Ferne Schwester", den Rehmann der 1998 verstorbenen Münchner Sozialarbeiterin Agnes Kunze widmet. Sie gründete die Lepra-Kolonie KKM-Kripaon ki Mata in Indien und lebte dort 37 Jahre. Kunze verstand sich weder als Missionarin noch als Entwicklungshelferin. Ihr Anliegen war es, den Gestrandeten und von der Gesellschaft Verstoßenen einen Ort zu schaffen, wo sie in Würde leben und sterben können.
Entgegen dieser konsequenten Lebensentscheidung, sich für die Schwächsten bedingungslos einzusetzen, ist die Ich-Erzählerin in Rehmanns Roman eine Getriebene, die "nicht in der Normalität ankommen kann". Rastlos irrt Madeleine zwischen Kriegschaos und "provisorischer Nachkriegsordnung" umher und findet nach 1945 keinen vertrauten Menschen mehr. Madeleine hat im Krieg nicht nur ihre Familie und die Freunde verloren, sondern jeglichen Glauben an die Menschheit. Sie ist eine einsame, beschädigte Figur, deren Gedächtnis ohne Chronologie arbeitet. Um der eigenen Geschichte wieder habhaft zu werden, verlässt sie Deutschland und flieht über Marseille und Paris nach Algier. Doch während sie die eine Verwüstung hinter sich lässt, kündigt sich in Algerien bereits ein neuer Krieg an. Auf ihrer Flucht schreibt sie Briefe an eine gewisse Clara, die als Missionarin in Indien lebt und die sie aufgrund ihrer Bestimmung verehrt. Dass die Briefe ihre Adressatin niemals erreichen, spielt keine Rolle. Sie dienen dazu, das eigene flüchtige Leben festzuhalten und zu verstehen. Nach ihrer Rückkehr bleibt Madeleine ein Flüchtling im eigenen Land. Sie scheut sich, feste Bindungen einzugehen und ist "unwillig, an der neuen Ordnung teilzunehmen".
Ruth Rehmann geht es nicht nur um den Verlust von Glauben und die Frage, welcher Religion man sich angehörig fühlt. In der vielschichtigen und spannungsreichen Konfrontation verschiedener Kulturen und Religionen, stellt sie eine Geschichtsschreibung in Frage, die sich zum Werkzeug der Kolonisation macht und dabei neue Feindbilder produziert.
Besprochen von Carola Wiemers
Ruth Rehmann: Ferne Schwester
Roman
Carl Hanser, München 2009
328 Seiten, 19,90 Euro