Die Geschichte einer Filmentstehung

17.10.2013
Eine gelungene Ergänzung zu seinem gleichnamigen Film hat Regisseur Edgar Reitz mit "Die andere Heimat" vorgelegt. Das Buch erklärt, was beim Betrachten der Filmbilder unverständlich bleiben kann und zeichnet dessen spannende Entstehungsgeschichte nach.
Genau genommen handelt es sich bei Edgar Reitz' Buch um zwei Werke. Da ist zum einen die "Film-Erzählung". Sie erinnert in ihrer szenischen Gliederung an ein Drehbuch. Und doch, darauf weist der Autor hin, ist dieses "Drehbuch" erst nach der Fertigstellung des Films entstanden. Reitz hat sich für diese Form entschieden, um den Lesern beziehungsweise den Zuschauern die Filmbilder wieder in Erinnerung zu rufen. Mit diesem Hinweis im Kopf fällt auf, dass die Beschreibungen viel detaillierter sind, als bei Drehbüchern üblich: Bild für Bild führt uns die Filmnacherzählung durch die Geschichte, wobei viele Dinge erläutert werden, die man beim Sehen des Films nicht sofort verstanden hat oder historisch einzuordnen wusste.

Der "Unkel" im Haus der Familie Simon ist nämlich nicht der Großvater des Protagonisten Jakob, sondern ein Faktotum, ein seltsamer Kerl, der die jahrhundertealte Geschichte des Hunsrücks in sich trägt und als Einziger Jakobs Sehnsucht nach Ferne versteht und seine Imaginationskraft erkennt. Oder der melancholische Vater vom Jettchen. Wenn er ohne Hilfe aus dem Wasserbecken der Mühle nicht mehr herauskommt und seine Frau sagt, er habe seit zwölf Jahren nicht mehr gesprochen, so heißt es im Text:

Jakob stellt keine weitere Frage. Er spürt, dass in dieser Familie etwas ist, über das nicht gesprochen wird. Er kennt diese Art des Schweigens – und schweigt mit.

Hier ist das Wort dem Bild gegenüber im Vorteil, wirkt direkter und eindeutiger. "Geschichte der Filmentstehung" lautet der zweite Teil des Buchs. Edgar Reitz erläutert darin detailliert die Stoffentwicklung und die Drehbucharbeit, das Erzählen mit Licht, die Arbeit mit den Schauspielern oder die Entstehung des Schabbach-Universums. Dabei bringt er auch historische Verweise und beschreibt, wie alle Bauern auch Schuster, Bäcker oder Schreiner waren und wie sie ihre sozialen Fähigkeiten entwickelt hatten.

Reitz: "Die Fähigkeit gemeinsam Überlebensmodelle zu entwickeln, Dorfgemeinschaften, Familien und so weiter zu bilden, das ist die Ur-Erfahrung, die wir alle in uns tragen und die durch eine lange Evolution entstanden ist. Nun ist alles das heute instrumentalisiert und durch ein unglaubliches System von Verteilungslogistiken und Arbeitsteilungen und so weiter zersplittert. Diese Gesellschaft ist nicht krisenfest. Die andere Gesellschaft, die ich hier beschreibe, war es in einer gewissen Weise doch. Diese Menschen konnten überleben."

Die Figur des Jakob hatte Reitz angelehnt an seinen Bruder Guido, einen Privatgelehrten, der viele Kulturen und Sprachen studierte, ohne je seine Heimat verlassen zu haben.

Mit offenen Augen träumen, eine andere Wahrheit suchen. (…) Der Sonne folgen, wenn sie hier untergeht. Das ist das Glück.

Ausführlich schildert Reitz, wie ihm der Schriftsteller Gert Heidenreich half, den Film so zu erzählen, dass die vielen Dokumente und recherchierten Fakten nicht die Geschichte "erdrückten".

Alles soll anders werden als die Tatsachen, aber nichts soll ihnen widersprechen.

Mit den Schauspielern wiederum entwickelte Edgar Reitz nicht nur Biographien, die hinter den jeweiligen Charakteren standen, sondern sie mussten schon lange vor den Dreharbeiten ihre Kostüme tragen und die Geschichten der Dinge studieren, mit denen sie im Film umgehen mussten. Woraus sich kleine Sub-Geschichten entwickelten, wie es der Autor ausdrückt.

Reitz: "Ich kann die Geschichte meiner Schuhe erzählen, ich kann die Geschichte einer Straße erzählen, ich kann die Geschichte einer Jacke erzählen oder eines Werkzeugs. Die Beseelung der Dinge, das ist auch noch ein Element von Heimat. Dort, wo die Dinge noch eine Seele haben."

Mit jedem Kapitel setzt Edgar Reitz einen weiteren Puzzlestein und formt ein immer klarer werdendes Tableau. Die Wahl des Cinemascope-Bildformats, das auch bei Nahaufnahmen von Gesichtern auf beiden Seiten Raum zeigt – so bleiben die Charaktere Teil der Dorfgemeinschaft beziehungsweise der sie umgebenden Landschaft. Oder der Hauptdarsteller Jan Dieter Schneider, der bei der ersten Probe überzeugte, bei der zweiten versagte, an dem Reitz aber intuitiv festhielt, und der sich schließlich als Glücksgriff erwies. Am spannendsten aber ist das letzte Kapitel: "Wie funktioniert ein filmisches Epos?" In diesem schreibt Reitz detailliert, warum er immer die übliche Drei-Akt-Struktur, das Modell des Überwältigungskinos und der Spannungsdramaturgie ablehnt.

Die Strategen der Wirkungsdramatik stülpen ihre Konzepte über die eigentlichen Lebensbilder und verweisen die Realität ins Reich des Banalen. (...) Das Kino ist nach meiner Vorstellung eine "Schule des Sehens". Eine gute Filmszene lehrt uns zu verstehen, dass unsere Augen jeden Tag und in jeder Lebenslage getäuscht werden. Die wahren Beweggründe sieht man den Menschen eben nicht oder nur sehr selten an. In den Familien, den Betrieben, der Politik oder auch in der Liebe gelingen die Tage besser, wenn die Menschen Dramatik vermeiden, wo immer das geht. Das ist in meinen Augen ein Ausdruck von Lebensklugheit, denn so ist unser Leben auch unter heftigsten Widersprüchen möglich.

Das Filmbuch "Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht" ist eine wunderbare Ergänzung zum Film. Es gibt einen Überblick, wie viele Aspekte für die Umsetzung eines solch riesigen Projekts nötig sind, wie viele Glücksmomente, aber auch Momente der Verzweiflung man durchmachen muss. Das Buch erfindet die Filmgeschichte nicht neu, aber es macht sie noch verständlicher und verleiht ihr eine größere Tiefe.

Besprochen von Bernd Sobolla

Edgar Reitz: Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht
Schüren Verlag, Marburg 2013
296 Seiten, 50 Abbildungen, 19,90 Euro