"Die Geschichte des Rock’n’Roll in zehn Songs"

Alles, was man über Popmusik wissen muss

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Geht ab: Ein Buch über die Geschichte der Popmusik. © dpa / Oliver Berg
Von Dirk Schneider · 23.02.2016
Greil Marcus gilt als einer der prominentesten Popmusik-Autoren. In seinem neuen Buch "Die Geschichte des Rock'n'Roll in zehn Songs" verspricht er einen Ritt durch die Musikgeschichte. Ganz so rasant geht es nicht zu - doch das Buch ist trotzdem sehr lesenswert.
Der Buchtitel "Die Geschichte des Rock'n'Roll in zehn Songs" ist wahrscheinlich ein Witz, mit dem sich Greil Marcus ein bisschen über sich selbst lustig macht. Es ist ganz klar, dass Greil Marcus niemals behaupten würde, dass man die Geschichte des Rock'n'Roll, und das ist bei ihm gleichbedeutend mit der Geschichte der populären Musik, anhand von zehn Songs schreiben könnte. Noch absurder ist es, anzunehmen, dass Marcus sich in einem Buch auf zehn Songs beschränken würde, denn der Mann ist berühmt und berüchtigt für sein musikalisches Wissen und die ständigen Querverweise, die er in seinen Büchern macht und dabei buchstäblich vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt. Marcus hat sich für sein Buch zehn Songs ausgesucht, von Etta James' "All I Could Do Was Cry" über "This Magic Moment" von Doc Pomus, das durch Ben E. King bekannt wurde, über "Transmission" von Joy Division bis zu "Money Changes Everything" von The Brains, das in der Version von Cyndi Lauper ein Hit wurde. Das sind natürlich bekannte Songs, aber nun auch nicht unbedingt die ganz großen Meilensteine der Popgeschichte.
Greil Marcus hätte sich tatsächlich auch ganz andere Songs aussuchen können, es gibt eine schöne Stelle im Buch, an der er heißt: "Man kann kopfüber in einen Speicher hechten, der so mit Songs angefüllt ist wie Onkel Dagoberts Speicher mit Geld, und daraus mit ein paar Beutestücken auftauchen, die augenblicklich die Frage aufwerfen, was der Rock'n'Roll ist, und diese Frage beantworten." Und da sind wir schon beim Kern des Buches: Greil Marcus sagt, dass eine lineare Geschichtsschreibung der Popmusik, wie sie zum Beispiel in der "Rock'n'Roll Hall Of Fame" im amerikanischen Cleveland geschrieben wird, völliger Unsinn ist, beziehungsweise für die Popmusik tödlich, denn: Popsongs führen ein Eigenleben, sie lassen sich nicht musealisieren. Sie können durch Coverversionen immer wieder zu neuem Leben erweckt werden, können in einer neuen Darbietung eine ganz neue Bedeutung bekommen, darum geht es in diesem Buch auch immer wieder um Coverversionen. An einem Song, schreibt Marcus, könne man ein Copyright haben, aber die Stimme eines Songs steht unter niemandes Kontrolle.

Das Ereignis des ersten Hörens

Das, worum es für Marcus bei der Popmusik geht, ist das Ereignis des ersten Hörens: Der Schock, den ein Hörer, eine Hörerin hat, die etwas vergleichbares vielleicht nie vorher gehört hat. Der ein Song völlig neue Freiheiten erschließt, oder vielleicht auch nur mitteilt, dass sie mit ihren Gefühlen nicht alleine ist, dass es jemand anderen gibt, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat, ein gebrochenes Herz, was auch immer. Darum sollte, so Marcus, auch jeder seine eigene Popgeschichte schreiben, denn manchmal sind es völlig unbekannte, vielleicht auch ganz banale Songs, die ein solches lebensveränderndes Erlebnis ausgelöst haben und in keiner offiziellen Popgeschichtsschreibung auftauchen, während berühmte Songs wie Led Zeppelins "Stairway To Heaven" oder vielleicht "Yesterday" von den Beatles schon viel zu abgegriffen sind, um einen auf eine nachhaltige Weise zu überraschen oder in einem positiven Sinne zu überwältigen. "Die offizielle (...) Geschichte des Rock'n'Roll (...) ist ganz und gar nicht die Wahrheit", schreibt Greil Marcus, "sondern vielmehr eine konstruierte Story, die so ausgiebig verbreitet worden ist, das die Leute sie glauben, doch sie entspricht nicht ihrer Erfahrung, und sie kann ihre Erfahrung sogar deformieren oder unterdrücken."
Eine Geschichte der Popmusik wollte Greil Marcus also nicht schreiben. Der Kulturwissenschaftler ist ein besessener Schreiber, und dieses Buch, so scheint es, war ihm vor allem Anlass, mal wieder ausführlich über Popmusik zu schreiben. Die 18-seitige Einführung in das Buch ist großartig und ein mitreißendes Manifest dafür, dass Popmusik nicht tot ist, solange wir sie für uns am Leben erhalten, solange wir offen für ihre lebensverändernde Macht bleiben. Dass das keine Altersfrage ist zeigt Marcus mit seinen 60 Jahren in diesem Buch sehr schön. Die einzelnen, den zehn Songs zugeteilten Kapitel sind dann allerdings ausschweifende, mäandernde Essays über diese Songs und ihre Wirkungsgeschichte, denen man nur bedingt folgen mag.

Ein paar Seiten überblättern - völlig okay

Wie Greil Marcus schreibt erinnert bisweilen an bestimmte Männertypen, wie sie wahrscheinlich jeder kennt: Wenn man sie auf einer Party oder in der Kneipe trifft und sich gerade langweilt, dann setzt man sich zu ihnen weil sie wahnsinnig intelligent sind und immer ein paar interessante Geschichten und Gedanken auf Lager haben. Aber wenn man sich gerade nicht langweilt, meidet man sie unbedingt, weil sie einen volltexten mit einem Redeschwall, der zu keinem Ende kommt, denn für sie gibt es überall neue Bezüge und sie kommen von einem Thema aufs andere. Das Gute an einem Greil Marcus Buch ist, dass man es einfach zuklappen oder auch mal ein paar Seiten überblättern kann. Und oft wird man bei der Lektüre wirklich reich belohnt, das Buch steckt voller großartiger Beobachtungen und Anekdoten.
An einer besonders schönen Stelle zitiert Marcus einen anderen Journalisten, nämlich Rick Perlstein. Der hat 2012 die Wahlreden des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney analysiert und kam zu dem Schluss: "Es geht (...) nicht bloß darum, dass Mitt Romney lügt, wenn er konservative Dinge sagt, selbst wenn er tief in seinem Inneren etwas anderes glaubt – es geht vor allem darum, dass die Lügerei genau das ist, was einen so klingen lässt, wie ein Konservativer klingen sollte, auf beinahe die gleiche Weise, wie das Herumschnörkeln um den Ton einen so klingen lässt, wie ein Teilnehmer der Casting-Show American Idol klingen sollte." Daraufhin nimmt Greil Marcus natürlich den Gesangsstil des R'n'B beziehungsweise der Postsoulmusik, wie er es nennt, auseinander und kommt zu dem Ergebnis, dass hier die Melismen, wie man diese Gesangsschnörkel nennt, die ursprünglich einmal für besondere Authentizität im Vortrag standen, heute tatsächlich unbedingt gekünstelt klingen müssen, das ist gewollt – und das führt natürlich wieder zu vielen anderen interessanten Schlussfolgerungen über die Popmusik unserer Zeit.

Greil Marcus: Die Geschichte des Rock'n'Roll in zehn Songs
Reclam Verlag, 292 Seiten, 22,95 Euro

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