Die geheime Physik der Toilette

Von Tobias Wenzel · 02.02.2010
Heute lebt der bulgarische Autor Georgi Gospodinov zwar in der Hauptstadt Sofia. Aber wenn er nicht in einem Dorf im Osten des Landes aufgewachsen wäre, könnte er wohl nicht aus jenem Geschichtenreichtum schöpfen, der ihm nun zur Verfügung steht. Und so lag es auf der Hand, dass Tobias Wenzel Georgi Gospodinov dort traf, wo die Quelle seiner Fantasie zu liegen scheint, im Dorf General Tosheva.
Lesung Gedicht "Kleines morgendliches Verbrechen":

Draußen hat es geregnet
Du gehst verschlafen am Morgen und
(auf dem Weg zur Außentoilette)
krsch
die Schnecke unter deinem Fuß
Mord aus Fahrlässigkeit
Die Schuld mindert das nicht
Du schaust dich um
zur frühen Stunde gibt es keine Zeugen
[...]


Bei der Tatortbesichtigung im bulgarischen Dorf General Tosheva stellt sich heraus, dass der Tatort wesentlich verändert wurde. Es fehlt etwas Entscheidendes. Georgi Gospodinov, ein 42-jähriger Mann mit dunklem Stoppelhaarschnitt und verschmitztem Blick, läuft gemeinsam mit seiner Frau und seinem Vater um das Haus seiner Kindheit herum, das mittlerweile Engländern gehört. Dann bleibt er stehen und deutet mit dem Finger auf eine leere Stelle. Hier stand bis zum Abriss jene Außentoilette, die den Schriftsteller zu seinem Gedicht und außerdem zu einer Erzählung inspiriert hat.

Der Brunnen, die alten Weinstöcke auf der Terrasse sind noch da, auch die Wiese, in deren hohem Gras der kleine Georgi einst beim Spielen verschwand. Nur die Außentoilette gibt es nicht mehr. Aber das kann der bulgarische Autor durch Erinnerung und Fantasie kompensieren:

"Einmal habe ich mit einem Freund ein Experiment gemacht, in einem Bus: Er hat auf irgendeinen Fahrgast gezeigt, den ich nicht kannte, und ich habe mir für den eine Geschichte ausgedacht. Dass der Mann ein Witwer ist, der aus dem Dorf in die Stadt gefahren ist usw. Danach ist mein Freund zu dem Mann hingegangen und hat ihn befragt. Wie sich herausstellte, traf ein großer Prozentsatz dessen, was ich mir ausgedacht hatte, tatsächlich zu."

1992 veröffentlichte Georgi Gospodinov seinen ersten Gedichtband. International bekannt wurde er allerdings mit seinem "Natürlichen Roman", ein Buch voller Witz und Melancholie, in dem mehrere Figuren mit dem Namen Georgi Gospodinov vorkommen. Kein Zufall. Denn den Namen Georgi Gospodinov gibt es häufig in seiner Geburtstadt Jambol und den umliegenden Dörfern. Besonders auf Grabinschriften. Ideale Voraussetzungen, so Georgi Gospodinov, um sich schon mal mit dem Tod zu arrangieren. Und das hat er schon früh gemacht:

"Ich erinnere mich, gegen Ende der siebziger Jahre, als ich so neun, zehn Jahre alt war, war meine Großmutter felsenfest davon überzeugt, die Welt würde im Jahr 2000 untergehen. Das sagte sie ununterbrochen. Ich überlegte mir, dass ich im Jahr 2000 32 Jahre alt wäre, also uralt. Deshalb machte mir der Weltuntergang keine Angst. Und meine Oma starb dann auch genau im Jahre 2000, was zeigt, dass das Ende der Welt, die Apokalypse, etwas sehr Persönliches ist."

Ein 81-jähriger Freund der Familie Gospodinov öffnet die Dorfkirche. 1848 wurde sie aus Holz gebaut. Vor Kurzem ist sie mit Spendengeldern renoviert worden. Und nun betritt Georgi Gospodinov zum ersten Mal in seinem Leben die Kirche seines Heimatdorfes:

"Es war so gut wie verboten, in die Kirche zu gehen. Meine Großmutter ging natürlich, aber bei Kindern, bei Schülern schauten die Lehrer mit Argusaugen, dass keiner in die Kirche ging. Jetzt ist es sehr wichtig, dass die Leute aus dem Dorf Geld gesammelt haben und diese Dinge der Kirche vermacht haben; ist alles aus einfachen Häusern."

So konnte die Kirche wieder bestückt und restauriert werden. Hellblau angemalte Holzbalken an den Wänden, hinter dem Altar Holzmalerei mit christlichen Bildnissen. Und dahinter wiederum ein Raum, den nur Männer betreten dürfen. Georgi Gospodinovs Frau, eine Literaturwissenschaftlerin, muss draußen warten. Dafür betritt der Autor mit seinem Vater und dem Freund der Familie den heiligen Ort.

Ein grünes, schweres Samttuch wird aufgeschlagen. Drei christliche Bücher und ein Metallkreuz kommen zum Vorschein. Georgi Gospodinov ist sichtlich beeindruckt.

Was aber fasziniert ihn so sehr an Toiletten, dass er in seinem Roman über Toilettengänge im Film sinniert, in einer Erzählung ausführlich die einfachen mit den modernen Toiletten vergleicht und im Titelgedicht seines neuen Lyrikbandes "Kleines morgendliches Verbrechen" einen Mord an einer Schnecke auf dem Weg zum Abort schildert?

"Ich bin fasziniert von Dingen, über die niemand spricht. Und die Toilette gehört zu diesen Dingen. Das heißt, für mich stellt die Toilette eine geheime Physik dar. Sie ist ein Tabu. Und als solches interessiert sie mich, nicht so sehr als Toilette."

Lesung Gedicht "Kleines morgendliches Verbrechen":

[...]
Du schiebst die Leiche unter die Halme
die hängen schwer von Tropfen
Die Schuld wäscht das aber nicht ab
Der Mord ist so klein
du kannst ihn nicht vergessen
den ganzen Tag


Service:
Der Gedichtband "Kleines morgendliches Verbrechen" des bulgarischen Schriftstellers Georgi Gospodinov ist im Droschl Verlag erschienen. Die Gedichte wurden von Valeria Jäger, Uwe Kolbe und Alexander Sitzmann übertragen. Das Buch hat 114 Seiten und kostet 18 Euro.