Die gefühlte Wahrheit
Das ist schon lange her, dass im öffentlichen Leben die grausame Maxime herrschte: Man zeigt nicht, was man fühlt. Heute ist das Gegenteil angesagt: Politiker zeigen Betroffenheit; Klageweiber brechen in Wehgeschrei aus, kaum dass die Kamera läuft; das Private ist politisch, und das ist auch gut so; und Männer dürfen weinen.
Selbst Wirtschaftsforscher reichern ihre Statistiken mit menschlicher Befindlichkeit an, ja sogar die Naturgesetze sind hierzulande außer Kraft gesetzt: Zehn Grad Celsius sind zehn Grad Celsius? Kommt ganz auf den Betrachter an.
In Deutschland gehört die Heisenbergsche Unschärfe zur Alltagspraxis.
Gefühl ist alles; „ich fühl mich nicht“ ein erbarmungswürdiger Zustand. Angesichts so vieler Emotion darf nichts mehr als sicher gelten. Alles ist irgendwie unscharf, der Boden schwankt, die Säulen des Staatsgebildes stehen schräg, ja selbst der Rechtsstaat wankt angesichts dessen, dass nichts mehr gewiss ist, schon gar nicht die Wahrheit.
Wie das alles angefangen hat, dieser Einbruch des Seelisch-Geistigen in das einst so objektive Weltbild?
Wahrscheinlich war’s der Wettermann, der uns irgendwann die erleichternde Erkenntnis schenkte, dass niemand mehr an seinen Gefühlen irre werden muss, ja dass unserer Wahrnehmung mehr zu trauen sei als den objektiven facts and figures. Was heißt schon Celsius? Von der „gefühlten Temperatur“ war plötzlich die Rede, also davon, wie unsereins das findet, wenn zu den eh schon erheblichen Minusgraden draußen ein eisiger Ostwind hinzukommt.
Endlich, denkt sich da der Mensch, komm ich auch mal vor im Universum mit all meinem ganz konkreten Sosein und Dasein. Realität ist, was ich fühle. Basta.
Und wenn ich mich nicht nach Aufschwung fühle, kommt sie auch nicht, die heißersehnte Konjunktur. Mit anderen Worten: Über die kleineren und größeren Weltlagen entscheidet die gute oder schlechte Laune des Kleinen Mannes. Besser noch: der kleinen Frau, denn endlich wird uns Frauen nicht mehr das höhere Wahrheitsempfinden abgesprochen, wenn wir auf unserer Sicht der Dinge beharren, und mag der Partner mit starrer männlicher Logik noch so sehr auf der objektiven Größe der Parklücke insistieren.
Der subjektive Faktor hat gesiegt. Alles ist Psychologie, Madame.
An alledem ist natürlich was dran. Dass es eine gefühlte Konjunktur gibt, ist mindestens so richtig wie der alte Merksatz: Wie man in den Wald hineinruft, schallt es heraus. Die Zuversicht, die gebraucht wird, um marktwirtschaftlich etwas zu wagen, ist ein ökonomischer Faktor erster Güte – und wer hätte nicht schon selbst erlebt, dass sich das Wetter kälter anfühlt als das Thermometer anzeigt? Gleiches gilt für den Umgang mit Menschen – nicht nur für den mit störrischen Männern. Meistens kriegt man zurück, was man investiert hat; lockt positives Denken die besten Seiten des Gegenübers hervor; macht der liebevolle Blick den anderen schöner. Die Vorstellungskraft besiegt die Realität – manchmal, jedenfalls.
Die Tücke der gefühlten Weltsicht liegt indes auf der Hand. Wenn alles im Auge des Betrachters liegt, gibt es keine Wahrheit mehr, auf die man sich verständigen könnte, gar noch eine, die justiziabel wäre. Und deshalb haben Politiker den Vorzug der Gefühlspriorisierung längst erkannt und für sich genutzt.
Beispiele gefällig? Nun – Deutschland hat sich offenbar mit Billigung der damaligen rot-grünen Bundesregierung weit mehr in den Irak-Krieg eingemischt, als zugegeben wurde. Man kennt das ja: Das eine sagen und das andere nicht lassen, das ist ein bewährter politischer Trick seit Menschengedenken. Es bekommt nun mal dem Untertanen nicht, wenn er alles mitkriegt.
Das formulieren wir heute anders. Die gefühlte Wahrheit heißt: Deutschland war, ist und bleibt ein pazifistischer Faktor erster Güte. Und sollte der Bundesnachrichtendienst wirklich Informationen an die Amerikaner weitergegeben haben, dann höchstens welche, die nicht kriegsrelevant waren. Und das auch noch mit Verspätung.
Es lebe der subjektive Faktor. Und an das Prinzip der gefühlten Wahrheit kann man sich, ich gebe es zu, durchaus gewöhnen. Es heißt schließlich nichts anderes als: Was mir nicht passt, nehme ich nicht wahr. Zum Beispiel das Finanzamt, Verlautbarungspolitiker und die schlappen Mähren der Bürokratie. Mal sehn, was mächtiger ist – die Realität? Oder nicht vielleicht doch lieber nur die Vorstellung von ihr?
Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des „Spiegel“. Zuletzt veröffentlichte sie „Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte“, „Die neue Etikette“ und „Das Handwerk des Krieges“.
In Deutschland gehört die Heisenbergsche Unschärfe zur Alltagspraxis.
Gefühl ist alles; „ich fühl mich nicht“ ein erbarmungswürdiger Zustand. Angesichts so vieler Emotion darf nichts mehr als sicher gelten. Alles ist irgendwie unscharf, der Boden schwankt, die Säulen des Staatsgebildes stehen schräg, ja selbst der Rechtsstaat wankt angesichts dessen, dass nichts mehr gewiss ist, schon gar nicht die Wahrheit.
Wie das alles angefangen hat, dieser Einbruch des Seelisch-Geistigen in das einst so objektive Weltbild?
Wahrscheinlich war’s der Wettermann, der uns irgendwann die erleichternde Erkenntnis schenkte, dass niemand mehr an seinen Gefühlen irre werden muss, ja dass unserer Wahrnehmung mehr zu trauen sei als den objektiven facts and figures. Was heißt schon Celsius? Von der „gefühlten Temperatur“ war plötzlich die Rede, also davon, wie unsereins das findet, wenn zu den eh schon erheblichen Minusgraden draußen ein eisiger Ostwind hinzukommt.
Endlich, denkt sich da der Mensch, komm ich auch mal vor im Universum mit all meinem ganz konkreten Sosein und Dasein. Realität ist, was ich fühle. Basta.
Und wenn ich mich nicht nach Aufschwung fühle, kommt sie auch nicht, die heißersehnte Konjunktur. Mit anderen Worten: Über die kleineren und größeren Weltlagen entscheidet die gute oder schlechte Laune des Kleinen Mannes. Besser noch: der kleinen Frau, denn endlich wird uns Frauen nicht mehr das höhere Wahrheitsempfinden abgesprochen, wenn wir auf unserer Sicht der Dinge beharren, und mag der Partner mit starrer männlicher Logik noch so sehr auf der objektiven Größe der Parklücke insistieren.
Der subjektive Faktor hat gesiegt. Alles ist Psychologie, Madame.
An alledem ist natürlich was dran. Dass es eine gefühlte Konjunktur gibt, ist mindestens so richtig wie der alte Merksatz: Wie man in den Wald hineinruft, schallt es heraus. Die Zuversicht, die gebraucht wird, um marktwirtschaftlich etwas zu wagen, ist ein ökonomischer Faktor erster Güte – und wer hätte nicht schon selbst erlebt, dass sich das Wetter kälter anfühlt als das Thermometer anzeigt? Gleiches gilt für den Umgang mit Menschen – nicht nur für den mit störrischen Männern. Meistens kriegt man zurück, was man investiert hat; lockt positives Denken die besten Seiten des Gegenübers hervor; macht der liebevolle Blick den anderen schöner. Die Vorstellungskraft besiegt die Realität – manchmal, jedenfalls.
Die Tücke der gefühlten Weltsicht liegt indes auf der Hand. Wenn alles im Auge des Betrachters liegt, gibt es keine Wahrheit mehr, auf die man sich verständigen könnte, gar noch eine, die justiziabel wäre. Und deshalb haben Politiker den Vorzug der Gefühlspriorisierung längst erkannt und für sich genutzt.
Beispiele gefällig? Nun – Deutschland hat sich offenbar mit Billigung der damaligen rot-grünen Bundesregierung weit mehr in den Irak-Krieg eingemischt, als zugegeben wurde. Man kennt das ja: Das eine sagen und das andere nicht lassen, das ist ein bewährter politischer Trick seit Menschengedenken. Es bekommt nun mal dem Untertanen nicht, wenn er alles mitkriegt.
Das formulieren wir heute anders. Die gefühlte Wahrheit heißt: Deutschland war, ist und bleibt ein pazifistischer Faktor erster Güte. Und sollte der Bundesnachrichtendienst wirklich Informationen an die Amerikaner weitergegeben haben, dann höchstens welche, die nicht kriegsrelevant waren. Und das auch noch mit Verspätung.
Es lebe der subjektive Faktor. Und an das Prinzip der gefühlten Wahrheit kann man sich, ich gebe es zu, durchaus gewöhnen. Es heißt schließlich nichts anderes als: Was mir nicht passt, nehme ich nicht wahr. Zum Beispiel das Finanzamt, Verlautbarungspolitiker und die schlappen Mähren der Bürokratie. Mal sehn, was mächtiger ist – die Realität? Oder nicht vielleicht doch lieber nur die Vorstellung von ihr?
Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des „Spiegel“. Zuletzt veröffentlichte sie „Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte“, „Die neue Etikette“ und „Das Handwerk des Krieges“.