Die Fürther Straße in Nürnberg

Unprätentiös, aber extrem geschichtsträchtig

36:23 Minuten
Fürther Straße, Ecke Adolf-Braun-Straße in Nürnberg
Über vier Kilometer lang, schnurgerade: Die Fürther Straße war einst das industrielle Zentrum Nürnbergs. © Michael Frantzen
Von Michael Frantzen · 31.03.2019
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Wer Nürnberg erleben will, muss in die Fürther Straße. Wie kaum eine andere erzählt sie vom industriellen Aufstieg und Fall und Wiederaufstieg der fränkischen Stadt. In der Hausnummer 110 wurde zudem Weltgeschichte geschrieben.
Berlin hat "Unter den Linden" – als Prachtboulevard. München die "Leopoldstraße". Und Nürnberg? Die "Fürther Straße". Zum Flanieren lädt die fränkische Magistrale allerdings nicht ein. Mehr als vier Kilometer lang ist sie, acht Meter breit – und schnurgerade. Alles ziemlich unprätentiös - wie Nürnberg selbst.
Dabei hat die "Fürther" Geschichte geschrieben. An ihr fuhr im 19. Jahrhundert die erste Eisenbahn Deutschlands entlang. In Hausnummer 110 wurden Kriegsverbrecher des Dritten Reiches verurteilt. Vor allem aber erzählt die Straße vom Wandel.
Der Justizpalast in der Fürther Straße in Nürnberg, Schausplatz des Kriegsverbrecherprozesses 1945/1946.
Justizpalast: Schauplatz des Kriegsverbrecherprozesses.© Michael Frantzen
AEG, Quelle, Triumph: Hier schlug lange das industrielle Herz Bayerns. Bis die Firmenbosse feststellten, dass sich Motorräder und Geschirrspüler billiger in Osteuropa und Fernost herstellen lassen.

Harald Dix: 46 Tage unter Strom

Sieben Wochen dauerte im Winter 2006 der Arbeitskampf der Beschäftigten des "AEG-Hausgerätewerks". Mittendrin: Harald Dix. Immer ansprechbar, immer unter Strom. Omnipräsent. 46 Tage standen die Bänder still. Solange dauerte der Protest gegen den Beschluss des schwedischen Mutterkonzerns Elektrolux, das AEG-Stammwerk an der Fürther Straße zu schließen.
Und Dix war das Gesicht des Protests. Die AEG war bis dahin Dix’ Leben gewesen. Wie auf Kommando spult der Mann mit dem Daumenring die Eckdaten seiner Laufbahn herunter: 1976 bis 1980: Ausbildung zum Werkzeugmacher. Mitte der 90er: In den Betriebsrat gewählt. Später: Betriebsratsvorsitzender. Und dann 46 Tage Protest! Geschlossen wurde das Werk trotzdem.
Harald Dix, Ex-Betriebsratsvorsitzender bei AEG in der Fürther Straße in Nürnberg
Harald Dix, Ex-Betriebsratsvorsitzender bei AEG. © Michael Frantzsen
"Seit der Schließung vor zwölf Jahren war ich nur drei Mal hier. Und ich war ja vorher 31 Jahre beschäftigt in der AEG. Und in der Anfangszeit, während meiner Ausbildung in den Siebzigern waren da fast 6000 Menschen beschäftigt. Das Gefühl jetzt ist: Es passiert überhaupt nichts mehr. Ich sag immer: Wenn ich hier reingehen muss, ist es fast wie auf einem Friedhof. Friedhofsruhe."
Die Zeit war hinweggerannt über die Ikonen des deutschen Wirtschaftswunders. Doch allen Unkenrufen zum Trotz hat sich die "Fürther" berappelt. Wo früher Arbeiter im Akkord schufteten, tüfteln heute IT-Spezialisten an der neusten Software und Künstler stellen aus.

"Jetzt bauen sie alles ab"

In der "Galerie 76" zum Beispiel, dem filigranen Pförtnerhäuschen auf dem alten AEG-Gelände. Vorne ist Café, hinten Galerie. Peter Preis ist der Betreiber. Im Sommer sitzen sie hier in ihren Liegestühlen. Grillen. Schauen zu, wie die Sonne hinter dem abmontierten, roten AEG-Logo neben seiner Galerie versinkt.
"Nachts mussten die abmontiert werden, weil die AEG wollte, dass das möglichst nicht so viel Aufsehen erregt. Für Nürnberg war das schon ein Ding: AEG jetzt auch noch zu. Jetzt bauen sie alles ab. Jetzt ist das auch noch vorbei. Und dann wollte die AEG auch, dass diese Buchstabenkombination, es gab ja mehrere davon, aus dem Stadtbild verschwinden. Und hier durften sie dann am Ende stehen, weil man sie ja von der Straße aus nicht wirklich einsehen kann."
Galerist Peter Preis, Betreiber der Galerie auf dem ehemaligen AEG-Gelände in der Fürther Straße in Nürnberg
Galerist Peter Preis© Michael Frantzen
Preis dreht sich zur Seite: Da drüben in dem weißen, langgestreckten Kasten: Sitzen mehr als 70 Künstler in Nürnbergs größtem Atelierhaus. Ist doch was, konstatiert der Mann, der in den 90er Jahren sein Glück an der portugiesischen Algarve versuchte – nur um zurückzukehren in die fränkische Heimat.
"Wie alle Nürnberger schimpft man mal a bissl über das Provinzielle, Kleinbürgerliche, die Enge hier. Nix los. Berlin ist ja viel toller. Aber ich bin auch immer wieder gerne angekommen. Das hat auch seine Vorteile – dieses Familiäre hier. Das Überschaubare."

Bei Mustafa kaufen sie alle

Der Trödelladen von Mustafa Cevik gehört zu dem familiären und überschaubaren Ensemble dazu.
"Hier kommt der Junkie. Hipster. Der Skater. Multimillionäre. Die irgendein Werbeschild von einer Brauerei suchen und das nicht irgendwo anders finden. Lauter solche Verrückte. Alle Nationen, alle Glaubensrichtungen. Dann letztens der Afrikaner. Er hatte eine kaputte Sandale gehabt. Will aber bis zum Bahnhof kommen. Dann hab ich seine Sandale für drei Euro repariert."
Mustafa Cevik vor seinem Laden in der Fürther Straße in Nürnberg
Mustafa Cevik © Michael Frantzen
In den 60er Jahrenn sind seine Eltern aus der Türkei nach Nürnberg gekommen. Sein Vater hat als Schweißer bei MAN gearbeitet, die Mutter bei Herkules. Sie ist vor kurzem gestorben und wurde in der Türkei beigesetzt. Sein Vater aber: quietsch-fidel, wie eh und je.
Mit der Mentalität der Franken hat Mustafa nie Probleme gehabt. Mit Ausländerfeindlichkeit: Auch nicht. Nicht wirklich. Allenfalls mal ein blöder Spruch, aber er wisse sich zu helfen, meint der Mann mit der Helmut-Schmidt-Mütze grinsend.

Gitarrenrausch im BTM-Laden

Die Fürther steckt voll solcher Geschichten. Lustigen und weniger lustigen. Eine davon dreht sich um BTM. So heißt der Laden.
"Uns war zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass das im Polizeijargon "Betäubungsmittel" heißt, sagt Ladenbesitzer Tommy Gedon. Auf Laufkundschaft hätten sie nie groß gesetzt. Deshalb auch das dunkle Schaufenster. Wer bei BTM kauft, kommt gezielt. Will keine Billiggitarren, sondern Qualität und Beratung. Hobbymusiker sind darunter, Musikstudenten und Profis wie der Gitarrist von ZZ-Top. 900 Euro kostet das Einstiegsmodell.
Mit der Zeit ist BTM expandiert. Mehr Räume, mehr Service, manchmal auch Workshops. Ist alles organisch gewachsen. Wundere er sich manchmal selbst, meint Tommy, während er die Gitarre zurück ins Regal stellt, neben dem handsignierten Foto von Mark Knopfler, dem Frontmann der "Dire Straits".

Quelle-Zentrale steht leer

Neun Angestellte hat Tommy, darunter zwei ausgebildete Gitarrenbauer. Schon verrückt, meint er. Er als Kleiner sei expandiert – und die Großen: Quelle, Grundig und wie sie alle hießen, hätten sich entweder zu Tode geschrumpft oder sich zu lange auf ihren Lorbeeren ausgeruht. Schräg gegenüber von BTM gammelt die Quelle-Zentrale schon seit Jahren vor sich hin. Nach dem Tempelhofer Flughafen in Berlin ist es das zweitgrößte leerstehende Gebäude der Republik.
"Man hat natürlich immer wieder auch Bekannte gehabt, die da drüben gearbeitet haben. Die hier Kunden waren. Die sich auch mal in der Mittagspause ausgekotzt haben, wie man so schön sagt. Insofern hat man da schon gewusst, dass da nicht alles so rund läuft. Wenn man sich das überlegt: Was hier in dieser Gegend in ein paar Jahren passiert ist – an Veränderungen: AEG hat zugemacht. Quelle hat pleitegemacht. Triumph-Adler war schon ein paar Jahre früher dran. Das waren ja mal tausende von Industriearbeitsplätzen."
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