Die fünf Köln des Heinrich Böll

Von Friederike Schulz · 23.11.2008
"Es gibt eben sehr viele Köln, in meiner Erinnerung drei, vier, fünf Köln", schreibt Heinrich Böll über seine Heimatstadt. Sein Neffe, Viktor Böll, hat alle Essays des Literaten über die Stadt gesammelt. Wer sie liest, kann sich auf die Spuren des Schriftstellers begeben - vom Chlodwigplatz bis zur Zülpicher Straße.
"Zunächst war ich erschrocken über die Stadt, später habe ich das sehr geliebt, weil die Großstadt damals auch eine ungeheure Romantik hatte. Die Straßen, die Beleuchtung, die Hinterhöfe, die Straßenbahn, der Regen."

"Es gibt eben sehr viele Köln, in meiner Erinnerung drei, vier, fünf Köln, und das gegenwärtige ist mir schon durch den Autoverkehr fremd, völlig fremd. Ich finde die Stadt auch zerstört durch diese riesigen lauten Straßen. Die Überquerung einer Straße ist schon ein Abenteuer und ein gefährliches. Das hängt auch mit dem Alter zusammen. Es wird einem alles fremd."

Schwerfällig biegt ein weißer Lieferwagen aus dem Kreisverkehr in die Teutoburger Straße. Ihm folgt ein blauer Golf, dann ein Motorrad. Kaum sind sie um die Ecke in die enge Nebenstraße gebogen, geben die Fahrer Gas, fahren 50 in der 30er Zone, trotz Bodenwellen. Jeder, der von hier, vom Kölner Süden, in den Norden will, muss hier entlang fahren. Schließlich ist die Hauptverkehrsader, die Bonner Straße, mal wieder gesperrt wegen der Baustellen für die neue U-Bahn-Linie, die die Stadt in ein paar Jahren von Nord nach Süd durchziehen soll. Die Nummer 26 an der Ecke ist ein stattliches Gründerzeit-Haus ohne Stuck, dafür mit Erker, grau-beige getüncht. Auf der gläsernen Eingangstür in schwarzen Lettern der Hinweis: Geburtshaus des Kölner Schriftstellers und Nobelpreisträgers Heinrich Böll. Darüber sein markantes Konterfei mit Schlapphut.

Viktor Böll biegt aus dem Kreisverkehr in die Teutoburger Straße ein, bremst, parkt seinen silberfarbenen Motorroller. Böll, 1,90 Meter groß, hager, schwarze Lederjacke, setzt den Helm ab, kramt eine Schachtel Zigaretten hervor, zündet sich eine an, zieht langsam daran. Der Neffe Heinrich Bölls kommt oft hier vorbei, auf dem Weg zur Arbeit- ins Böll-Archiv, das er seit 30 Jahren leitet. Sein Blick fällt auf das Graffiti an der Fassade, er rümpft die Nase. Das ist neu - schade, sagt er, denn sonst sieht das Haus heute noch so aus wie vor gut 90 Jahren.

"Es gibt eben alte Fotos noch, wenn man sich umschaut, ist natürlich sehr viel an Kriegszerstörung noch zu sehen, und die Häuser, die natürlich alle mal im Stil der Gründerzeit gebaut waren, die geben zum großen Teil natürlich noch die Atmosphäre wieder, wie das Geburtshaus auch, nur der Dachstuhl ist neu, weil der im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, aber ansonsten ist das Haus noch so, wie es zu Bölls Geburtszeiten gewesen ist."

Am 21. Dezember 1917 kommt Heinrich Böll hier als Sohn des Schreinermeisters Viktor Böll Senior zur Welt. Die Familie bewohnt die komplette Belle Etage im ersten Stock - sieben Zimmer. Die Auftragsbücher sind voll, Viktor Böll Senior verdient gut an den Aufträgen der katholischen Kirche. Viktor Böll greift in seine Leinentasche, holt ein Taschenbuch heraus: "Heinrich Böll und Köln", herausgegeben von Viktor Böll. Darin hat der Neffe alle Essays gesammelt, die sein Onkel über die Stadt verfasst hat. Denn in den großen Romanen Bölls sucht man den Namen der Stadt vergeblich. Viktor Böll blättert kurz, beginnt zu lesen:

"Meine erste Erinnerung: Hindenburgs heimkehrende Armee, grau, ordentlich, trostlos zog sie mit Pferden und Kanonen an unserem Fenster vorüber; vom Arm meiner Mutter aus blickte ich auf die Straße, wo die endlosen Kolonnen auf die Rheinbrücken zumarschierten; später: die Werkstatt meines Vaters: Holzgeruch, der Geruch von Leim, Schellack und Beize; der Anblick frisch gehobelter Bretter, das Hinterhaus einer Mietskaserne, in der die Werkstatt lag; mehr Menschen, als in manchem Dorf leben, lebten dort, sangen, schimpften, hängten ihre Wäsche auf die Recks; noch später: die klangvollen germanischen Namen der Straßen, in denen ich spielte: Teutoburger-, Eburonen-, Veledastraße, und die Erinnerung an Umzüge, wie mein Vater sie liebte, Möbelwagen, Bier trinkende Packer, das Kopfschütteln meiner Mutter, die ihren Herd liebte, auf dem sie das Kaffeewasser immer kurz vor dem Siedepunkt zu halten verstand."

Viktor Böll lächelt - er weiß, dass sein Onkel in diesen Memoiren nicht ganz die Wahrheit schreibt. In den Archiven der Stadt hat Viktor Böll alle Ortsangaben seines Onkels nachrecherchiert. Das Ergebnis: Hindenburgs Armee ist nie am Haus in der Teutoburger Straße vorbei gezogen. Auch mit den Zeitangaben nimmt es der Schriftsteller nicht so genau, sagt der Neffe:

"Hindenburgs heimkehrende Armee, das wäre dann Anfang 1919 gewesen. Da war Böll noch keine anderthalb Jahre alt. Das heißt, dem Autor kommt es auf Stimmung an. Er beschreibt eine Stimmung, die Stimmung stimmt, sachlich ist das nicht unbedingt so ganz richtig."

Viktor Böll greift in die Tasche seiner schwarzen Lederjacke, zündet sich noch eine Zigarette an. Am Fußgängerüberweg bleibt er stehen, wartet, bis zwei weitere Autos abgebogen sind, wirft einen letzten Blick auf den prächtigen Altbau. "Als Junge hat mein Onkel Köln sehr gemocht", sagt er, zitiert aus dem Essay "Drei Tage im März":

"Zunächst war ich erschrocken über die Stadt, später habe ich das sehr geliebt, weil die Großstadt damals auch eine ungeheure Romantik hatte. Die Straßen, die Beleuchtung, die Hinterhöfe, die Straßenbahn, der Regen. Es verändert alles sehr, und die Menschenmengen, die man in einer Großstadt sieht, regen natürlich die Fantasie an, im Sinne sogar fast schon eines Romanschreibers: Wo kommt der her, wo geht der hin, was wird aus dem, was wird nicht aus dem, was denkt er sich."

Viktor Böll geht die Alteburger Straße entlang in Richtung Norden, bleibt vor einen Torbogen stehen, blickt in den Hinterhof. Vor dem Krieg gab es hier Schreinerwerkstätten wie die seines Großvaters, heute sind daraus Ateliers und Event-Agenturen geworden, sagt Viktor Böll, sucht ein Zitat seines Onkels aus dem Buch:

"Der Wahrheit die Ehre: Manchmal ging ich an der Schule vorbei; ich ertrug die Demütigung nicht, mich wegen Zuspätkommens entschuldigen zu müssen. Ich überquerte den Perlengraben, versteckte mich im Eingang zu Lindes Eisfabrik in der Spitzengasse. In den zugemauerten Fenstern die Ölporträts von Marx und engels: geballte Arbeiterfäuste, schwarz auf knallroten Plakaten, und mit Ölfarbe auf den Haussockel geschrieben: Rot-Front! Rot-Front!"

Heute gilt die "Südstadt" in Köln als nobles Altbau-Viertel - hier steht immerhin noch etwa jedes dritte Haus aus der Gründerzeit. Die großen Fenster geben den Blick auf die großzügigen Wohnungen frei - Kronleuchter, Jugendstilschränke, Bücherregale. Wer hier wohnt, hat es geschafft, sagt Viktor Böll.

"Das ist jetzt großbürgerlich. Das wurde Sanierungsgebiet ab Mitte der 70er Jahre. Und Sanierungsgebiet bedeutet immer Modernisierung, bedeutet, dass für die Ureinwohner das ganze einfach nicht mehr bezahlbar war. Dann ist das ganze hier zu einem Viertel von Lehrern, Ärzten, Rechtsanwälten, also wirklich ein großbürgerliches Viertel geworden."

Die Alteburger Straße ist mit ihren zahlreichen Cafés und Restaurants vor allem abends ein beliebtes Szene-Viertel. Tagsüber geht es gemächlich zu, nur wenige Gäste sitzen beim Italiener "Mario" an den Tischen auf dem breiten Gehweg.

"Es gibt ja irgendwen, der gesagt hat, man hat es auch Heinrich Böll zugeschrieben, der hat sich aber nie so geäußert, dass Köln die nördlichste Stadt Italiens wäre. Aber das ist ein Eindruck, der tatsächlich erst entstanden ist durch den Zuzug von verschiedenen Menschen aus den verschiedensten Teilen der Welt, und das schafft eine gewisse Atmosphäre, das ist auch eine Atmosphäre, in der Heinrich Böll sich wohl gefühlt hat. Er hat sich auch immer daran erinnert, dass die Nazis bei den Märzwahlen 1933 keine Mehrheit hatten, hier in Köln."

Viktor Böll biegt in die Maternusstraße ein. Vor Haus Nummer 32 bleibt er stehen - ein beige-getünchtes Mietshaus aus den 20er Jahren, weit weniger schick als das in der Teutoburger Straße. Hier zieht die Familie 1931 ein, mittellos, das Vermögen in der Weltwirtschaftskrise verloren. Für Heinrich Böll eine bedrückende Zeit, erklärt sein Neffe, blättert im "Böll in Köln", liest:

"Der 15-Jährige liegt am 30. Januar 1933, an einer schweren Grippe erkrankt, zu Bett. Opfer einer Epidemie, die meines Erachtens bei Analysen der Machtergreifung zu wenig berücksichtigt wird. Immerhin war das öffentliche Leben partiell gelähmt, waren viele Schulen und Behörden geschlossen, jedenfalls lokal und regional. Ein Mitschüler brachte mir die Nachricht ans Krankenbett. Radio hatten wir noch nicht, und das Detektorengebastel fing bei uns erst später an. Wir wohnten nach einem weiteren Umzug in zwei Jahren in der Maternusstraße Nummero 32, hatten uns gegenüber die triste Rückfront der damaligen Maschinenbauschule, waren immerhin nicht sehr weit vom Rhein entfernt. Der Kommentar meiner Mutter zu Hitlers Ernennung: Das ist der Krieg. Er mag auch gelautet haben: Hitler, das bedeutet Krieg."

Heinrich Böll schreibt erste Kurzgeschichten, macht 1937 Abitur. Mit Anfang 20 muss er in den Krieg ziehen. Als er 1945 zurückkehrt, erkennt er die Stadt nicht mehr wieder - kein Wunder, sagt Viktor Böll, als er auf dem Rückweg zu seinem Roller den Chlodwigplatz passiert, einen der zentralen Verkehrsknotenpunkte der Stadt. Zurzeit ist der allerdings wegen des U-Bahn-Baus komplett gesperrt. Nur die Straßenbahn fährt noch - auf Behelfsschienen im Schritttempo durch die Mitte des Kreisverkehrs. Vorbei an einem kirchturmhohen gelben Kran und bunten Baucontainern.

"Es ist einer dieser Plätze in Köln, die zwar den Namen tragen - Platz - die aber in der Nachkriegszeit dermaßen verhunzt worden sind von der Stadtarchitektur, dass es eine mittlere Katastrophe ist. Es gibt viele Aufnahmen so aus den 20er Jahren, wo so Plätze abgebildet sind: Chlodwigplatz, Barbarossa-Platz, Ebert-Platz, die heute alle Steinwüsten sind."

In drei Jahren soll hier die Nord-Südbahn unterirdisch fahren. Doch Viktor Böll glaubt nicht, dass danach Ruhe einkehren wird. Er dreht sich noch eine Zigarette, holt das Buch "Heinrich Böll in Köln" heraus, liest ein Gedicht seines Onkels vor, "Köln III", von 1971:

"Die Stadt in freudloser Sonne verödet. Mal wieder aufgewühlt im 30-jährigen Krieg der Bauplaner. Maschinen, Firmen, Ausschüsse, Bagger, Krane, unzählige Abschüsse, nach 30-jährigem Einsatz der Presslufthammer-Flak (bricht ab wegen des Lärms, setzt noch einmal an, unzählige Abschüsse, nach 30-jährigem Einsatz der Presslufthammer-Flak, gefallene, gefangene Siege."

Der Neffe seufzt: Bis heute hat sich daran nichts geändert, sagt er, klappt das Buch zu:
"Ich bin 1948 in Köln geboren. Ich kenne die Stadt eigentlich nur als Baustelle. Im Moment ist die Situation durch diesen U-Bahn-Bau, wo man vom Kölner Süden bis zum Hauptbahnhof so ein Teilstück baut, mit insgesamt fünf Stationen, das ganze kostet etwa 1,2 Milliarden Euro. Die Baustellensituation ist im Moment eine Katastrophe, weil viele Plätze, wie eben auch der Chlodwigplatz, gesperrt sind."

Ein tschechischer Reisebus versucht, sich in eine Seitenstraße zu zwängen, bleibt an einer rot-weißen Absperrung hängen, der Fahrer flucht, setzt langsam zurück, Viktor Böll zuckt mit den Schultern, wartet, bis der Bus abgebogen ist, überquert dann die Straße.

"Ob mein Onkel hier noch wohnen würde? Ich denke, eigentlich nicht. Der ist ja 1982 tatsächlich aus der Stadt raus gezogen. Mein Onkel war ja dann schwer gehbehindert. Das heißt, er wollte dann am Tag immer sehr viel laufen und spazieren gehen. Und der Straßenverkehr hat ihn wahnsinnig gemacht. Wenn es für jemanden eine Schwierigkeit ist, eine Straße zu überqueren, dann ist es Zeit, die Stadt zu verlassen."

Für heute hat auch Viktor Böll genug von der Südstadt, setzt seinen schwarzen Helm auf, schwingt sich auf den Roller und braust in Richtung Westen davon, zum Böll-Archiv. Um den Chlodwigplatz macht er dabei einen großen Bogen.

Im Norden der Stadt steigt Albrecht Koschützke aus seinem schwarzen BMW, schließt die Autotür, reibt sich die Hände: Ein Parkplatz direkt vor der Haustür ist auch im Agnes-Viertel keine Selbstverständlichkeit. Der schmale 61-jährige mit dem struppigen Drei-Tage-Bart kramt den Hausschlüssel aus der Jackett-Tasche, öffnet das Tor zum Vorgarten der Hülchrather Straße 7, geht zur Eingangstür. Hierhin zieht Böll als arrivierter Schriftsteller Ende der 60er Jahre, als er es sich leisten kann, der lärmenden Südstadt den Rücken zu kehren. Nun wohnt der Verleger Albrecht Koschützke mit seiner 17-jährigen Tochter auf Bölls rund 250 Quadratmetern im zweiten Stock. Er geht die großzügige Steintreppe nach oben in den zweiten Stock, bleibt vor seiner Wohnungstür stehen - eine weiße Holztür mit Glasfenster darüber, dahinter schimmern Eisenstreben durch.

"Mir ist erzählt worden, dass, als der RAF-Prozess hier stattfand und Heinrich Böll besonders im Zentrum der Kritik stand, als intellektueller Mittäter praktisch, und auch die Polizei mitunter aufgetaucht ist, um zu sehen, welche Verbindungen er zur Baader-Meinhoff-Gruppe hatte, dass er gesagt hat: Ich möchte wenigstens Herr des Verfahrens sein und nicht haben, dass sie auf einmal die Tür einschlagen und bei mir drin stehen, ich mach selbst auf. Daraufhin hat er diese Eisenstäbe vor die Tür gezogen, damit die Glasscheibe nicht einfach nur zerbrochen wird und man reinkommt. Es ist eigentlich eher eine symbolisch-ironische Distanzhaltung zu den Geschehnissen von damals, aber es ist bis heute geblieben."

Der Flur gibt den Blick auf das zweigliedrige Wohnzimmer frei, unterteilt von einer Doppeltür aus Glas. An den Wänden: Bilder moderner lateinamerikanischer Künstler: Format zwei mal zwei Meter. Mitbringsel aus Venezuela, Koschützkes zweiter Heimat. Dort hat er in den 70er und 80er Jahren einen kleinen, linken Verlag. Heute leitet er die Öffentlichkeitsarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung und ist Geschäftsführer des Dietz-Verlags in Bonn. Albrecht Koschützke öffnet die Balkontür, blickt zurück ins Wohnzimmer.

"Für mich hat es schon einen sentimentalen Wert, Heinrich Böll ist für mich in meiner Jugendzeit ein relevanter nicht nur literarischer, sondern eben auch politischer Referenzpunkt gewesen. Und für mich hat es schon einen sentimentalen Geschmack, dass ich in seiner Wohnung leben darf. Es gibt einen Spiritus, einen genius loci, wenn Sie so wollen, den ich mit aller Romantik verteidige, und den ich ganz hübsch finde für mich."

Albrecht Koschützke geht ins Arbeitszimmer. Zwölf Quadratmeter voll gestopft mit Büchern. An der Wand: Ein großes Foto Heinrich Bölls, der mit strengem Blick auf den Schreibtisch in der Mitte sieht. "Der ist noch von meinem Vormieter", sagt der Verleger, streicht liebevoll über die Tischplatte, blickt suchend auf die Titel Bücherregal, zieht ein Taschenbuch heraus. Auch er besitzt ein Exemplar von "Heinrich Böll in Köln" - "Das ist Ehrensache", sagt er, blättert vor bis zur Nobelpreisrede von 1973, liest:

"Der Tisch, an dem ich schreibe, ist 76,5 Zentimeter hoch, seine Platte 69,5 mal 111 Zentimeter groß. Er hat gedrechselte Beine, eine Schublade er mag siebzig bis achtzig Jahre alt sein. Er stammt aus dem Besitz einer Grotante meiner Frau. Schweigen wir von den Gegenständen, die auf dem Tisch liegen, sie sind nebensächlich und austauschbar, ausgenommen vielleicht die Schreibmaschine Marke Remington."

Heute steht darauf ein Computer, daneben liegt ein Manuskript über die Geschichte des BND. Albrecht Koschützke schaltet den Computer ein, setzt sich mit dem Rücken zum Fenster an den Schreibtisch, greift zum Manuskript, blickt noch einmal auf das Foto Bölls.

"In der Zeit, als Böll Präsident des International Pen Club war, war das hier das Büro des Pen Clubs. Man kann das noch erkennen, hinter diesem Regal ist ein Durchbruch, eine Tür, um vom Flur direkt ins Büro zu kommen, damit man nicht durch die normale Etagentür durch die Wohnung gehen musste. Man sieht draußen noch den Umriss der zugemauerten Tür. Das hier war also das Reich des ehemaligen Pen-Präsidenten. Deswegen hängt er auch hier oben. Ich habe mir also extra ein Bild von ihm besorgt. Dazu kommt, dass die Bücher, die hier stehen, die sind, zu denen ich die intimste Beziehung habe. Zum einen: meine große Karl-May-Sammlung, ich bin ein großer Karl-May-Fan. Dann all die Bücher, wo ich das Vergnügen hatte, daran teilzunehmen als Verleger, auch Bücher der Rechtswissenschaft und der Politologie, die man immer wieder braucht."

Die übrigen geschätzten 6.000 Bücher des Verlegers befinden sich am anderen Ende der Wohnung in der Bibliothek.

Der 61-jährige geht durch den schmalen zweiten Flur, betritt die Bibliothek. An den Wänden: Bücherregale bis zur Decke, auf dem Boden: dicht an dicht Pappkartons voller Bücher. Koschützke steigt darüber, bahnt sich den Weg zum Fenster. Er zeigt auf das Nachbarhaus aus Backstein, das den schmalen Innenhof gegenüber begrenzt: Durch die Fenster blickt man in Klassenräume. Koschützke sucht ein weiteres Zitat aus "Böll in Köln".

"Die Schule im Hof des Nachbarblocks erspart uns den Wecker, wenn wir nicht vor halb acht aufstehen wollen. Die langsame, stetig anschwellende Addition von Kinderstimmen, noch nicht mit Pausenfröhlichkeit, noch gedämpft; kein unangenehmer Wecker. Wenn hier und dort die Fenster offenstehen, im Sommer oder an warmen Herbsttagen, kann man, im Bett liegend, am Unterricht teilnehmen: seine Kenntnisse in Heimatkunde, Rechnen, Singen auffrischen; jugendliche Besucher lassen es sich nicht nehmen, vom Schlafzimmerfenster aus unmittelbar, vorsagend natürlich, Vorschläge hinüberrufend, in den Unterricht einzugreifen, hin und wieder auch ein gerade gesungenes Liedchen mitzusingen. Spätestens gegen Viertel nach eins tritt Stille ein, nicht einmal gestört durch Radios, Transistoren oder Fernsehlärm."

Bevor er sich an das neue Manuskript über den BND setzen kann, muss Albrecht Koschützke noch einkaufen. Er läuft die Treppe hinunter, tritt aus dem Haus, zwängt sich an den parkenden Autos vorbei, holt das Buch hervor, liest:

"Nicht nur die Straße, auch der halbe Bürgersteig gehört den Autos, und natürlich wird sich das Problem auf die Länge der Zeit von selbst lösen, durch Geburtenrückgang. Dann werden endlich Autos, Erwachsene und Hunde unter sich sein. Dann wird es auch keinen Ärger mehr mit den Vorgärten geben, sie werden alle aussehen wie Bühnendekorationen für Beckett-Stücke."

Der Verleger grinst, schüttelt den Kopf. "Ganz so schlimm ist es nicht", sagt er:

"In Berlin kann man sagen ist das okay, aber für Köln sehe ich das nicht so dramatisch. Er hatte schon eine eher distanzierte Haltung gegenüber den Dingen, er hat sicher das halbe Glas halb leer gesehen und selten halb voll, und er hatte so einen leichten Unterton des Sich-Beschwerens, wenn auch auf hohem Niveau, aber sich beschweren, und da repräsentiert er sicher auch einen Teil der rheinischen Kultur, die das ja auch ganz gern macht."

Koschützke wendet sich in Richtung "Nord-Süd-Fahrt", blickt auf die Autokolonne, die mit 70 km/h an ihm vorbeibraust - ganz legal, auf der sechsspurigen Nord-Süd-Fahrt ist das erlaubt. "Das hat Böll in den Wahnsinn getrieben", sagt Koschützke, zitiert noch einmal den Schriftsteller:

"Es gibt eben sehr viele Köln, in meiner Erinnerung drei, vier, fünf Köln, und das gegenwärtige ist mir schon durch den Autoverkehr fremd, völlig fremd. Ich finde die Stadt auch zerstört durch diese riesigen lauten Straßen. Die Überquerung einer Straße ist schon ein Abenteuer und ein gefährliches. Das hängt auch mit dem Alter zusammen. Es wird einem alles fremd."

Albrecht Koschützke biegt vor der Nord-Süd-Fahrt rechts in eine Seitenstraße ab. Auch er läuft lieber durch die kleinen Straßen des "Barrio", wie er sein Viertel nennt. Auf Spanisch grüßt er eine ecuadorianische Nachbarin, läuft auf dem breiten Gehweg der Weißenburgstraße unter Platanen in Richtung Supermarkt. Der Weg führt vorbei an hell getünchten Bürgerhäusern. Albrecht Koschützke zeigt auf ein Jugendstilgebäude, verziert mit Frauenfiguren und Blumenmustern. "Eines der wenigen, das noch steht", sagt er, blättert im "Böll in Köln":

"Der Stadtteil ist zum größten Teil nach 1890 erbaut; Zeit einer ersten Bodenspekulation; Jugendstilfassaden, die Straßennamen klingen noch nach dem Triumph, der damals erst zwanzig Jahre zurücklag und noch frisch im Ohr klang: Sedan, Wörth, Belfort, Weißenburg; eine selbstbewusste Zeit, die unerschrocken den beginnenden Jugendstil in seinen verschiedensten vulgarisierbaren Formen aufnahm und eine bemerkenswerte Vorliebe für langhaarig Weiber entwickelte, die über Haustüren melancholisch den Eintretenden begrüßen oder mit gekonnter Tristesse Balkone stützen."

Koschützke macht einen Bogen um die Tische des Straßencafés Elefant und der Kölschkneipe "Harvey's", vor der eine Gruppe Gäste im Stehen ein Feierabendbier trinkt.

"So ein Ding wie Harveys, zum Beispiel, ist einfach eine Kneipe, da isst man hervorragend, die Wirtin hat auch ihre Geschichte, das Café Elefant ist DAS Stadtteilcafé hier. Ich erinnere mich noch, das ist ein Ausdruck der Familiarität des Viertels: Wir wohnten hier schon so drei oder vier Jahre, als das Café Elefant mal ausbrannte, und anlässlich der Wiedereröffnung gab es so ein kleines Straßenfest. Da waren wir auch, da sprach uns eine Frau an: Sie wohnen hier? Ich kenne Sie ja gar nicht. Das Viertel hat bestimmt 30.000 bis 40.000 Einwohner, aber man prätendiert quasi, dass jeder dazu gehört, das fand ich ausgesprochen sympathisch."

Vor dem Eingang des Supermarkts am Ende der Weißenburgstraße bleibt Albrecht Koschützke stehen, blickt zurück auf "sein Viertel", in dem er jetzt seit 15 Jahren lebt.

"Es gibt natürlich, wie sagt man das, eine Renegaten-Immi-Liebe, das heißt der Immi, der Immigrant, wie ich einer bin, der versucht, Kölner zu sein, hat natürlich eine besonders enge Bindung. Das ist so wie der Ex-Raucher, der besonders militanter Nichtraucher wird. So wird der Möchtegern-Kölner wie ich wahrscheinlich ein besonders übertriebener Kölner. Ich gehe nicht viel zu Fuß, aber in der Innenstadt rum zu laufen oder in unserem Barrio, unserem Stadtteil, ist eigentlich sehr angenehm. Ich teile also nicht die Skepsis, die Böll ausgedrückt hat, ich finde es schön."

Zehn Minuten später, die Einkäufe im Leinenbeutel, ist Albrecht Koschützke wieder zurück in der Hülchrather Straße, geht die Treppe der Nummer 7 hoch in den zweiten Stock. Dort setzt er sich an den Schreibtisch und liest unter dem strengen Blick Heinrich Bölls bis spät in die Nacht das neue Manuskript für seinen Verlag.