Die Fremdheit zwischen den Geschlechtern

Rezensentin: Edelgard Abenstein |
Der chinesische Dichter He-Nian brachte es auf den Punkt: "Im Kleinen zugleich das Große" zu erblicken ist der Leitsatz, mit dem in China und Japan seit Alters her ganze Landschaften mit Felsen, Wasser, Bäumen, Tieren und Menschen verkleinert in eine Schale gezaubert werden. "Bonsai" heißt die Kunst, etwas Großes klein zu halten, die Gesetze der Harmonie in der Miniatur zum Ausdruck zu bringen.
Die gärtnerische Hobbymaßnahme, die heute weltweit verbreitet ist, liefert den Metaphern bildenden Titel für eine Liebesgeschichte, die sich heillos und unauflöslich über ein ganzes Leben erstreckt. Nina, das verschlossene, schüchterne Mädchen vom Lande, verlässt Anfang der 60er Jahre die kleine Insel, um in Kopenhagen das Glück eines selbst bestimmten Lebens zu finden. Dort trifft sie auf Stefan, einen Künstler und Kritiker aller Konventionen und damit auf das vermeintlich große Gefühl.

Was mit einem Blitzschlag beginnt, als Versprechen auf die einzigartige Liebe, verwandelt sich nach und nach in einen lähmenden Stellungskrieg. Er liebt Frauen und Männer und eigentlich, so stellt sich heraus, braucht er die Gefährtin an seiner Seite auch, um seine Homosexualität zu verbergen. Wie Pygmalion, der Bildhauer in der antiken Mythologie, versucht er die lern- und freiheitshungrige junge Frau nach seinem Bild und Gleichnis zu formen, sie einzufügen in seinen Kanon, in seine Welt. Der Versuch gelingt nur halb.

Als sich das Aschenputtel schließlich in die elegante Lady mit schriftstellerischem und gesellschaftlichem Erfolg gewandelt hat, entzieht sie sich und sucht Nähe und Bewunderung bei anderen Männern. Es sind die Jahre, in denen Promiskuität mit Freiheit und Selbstbestimmung verwechselt wurde. Trotz Trennung und räumlicher Distanz bleiben die beiden in unentrinnbarer Hassliebe ineinander verstrickt, ausweglos bis zum qualvollen Ende. Stefan, unheilbar krank, bestimmt selbst den Zeitpunkt seines Todes, angewiesen auf ihre unfreiwillig tätige Mithilfe.

In sieben Kapiteln erzählt Kirsten Thorup die Geschichte zwischen einem Mann und einer Frau vom Ende der 50er Jahre bis in die Gegenwart, in je unterschiedlichen Formen und Perspektiven, inneren Monologen, Tonbandprotokollen, Briefen und Tagebüchern. Der Wechsel von Stimmen und Tonfällen, von Außen- und Innenschau, verhilft dem Roman zu einem vielschichtigen Panorama. Damit begegnet die Autorin souverän der Gefahr, die auf der Oberfläche ihre Geschichte zu bestimmen scheint.

"Bonsai" ist nicht der Roman eines Opfers, vielmehr ein Lehrstück über das Entstehen von Abhängigkeiten, über das Verhängnis, das wahlverwandtschaftliche Verhältnisse auch in sich tragen. Und es ist ein Roman über die Sprachlosigkeit, die Fremdheit zwischen den Geschlechtern, die aus Minderwertigkeitsgefühl geborene Eifersucht.

Dieser zwischenmenschliche Zündstoff steigert sich unter dem Druck von außen zur endgültigen Tragödie. Dabei gibt es keine Sieger, sondern nur große und kleine Verlierer: Die selbst gefertigten Zwänge holen schließlich alle Beteiligten ein. Ein auch für heutige und hiesige Verhältnisse überzeugendes Szenario, das die dänische Autorin entwirft.

Hierzulande nur durch vereinzelte Veröffentlichungen bekannt, gehört die 1942 geborene Kirsten Thorup in Dänemark zu den renommierten Schriftstellerinnen, die bislang mit einer Reihe von Romanen, Gedichtbänden und Theaterstücken hervorgetreten ist. Für Bonsai erhielt sie 2000 den viel beachteten, dänischen Radiopreis. Was als Liebesroman mit tragischem Ausgang angelegt ist, ist nebenbei auch ein Beitrag zu der in diesen Tagen hochaktuellen Diskussion um aktive Sterbehilfe.

Kirsten Thorup: Bonsai
Roman. Aus dem Dänischen von Angelika Gundlach.
Insel Verlag 2005. 320 Seiten. 22,90 Euro.