Die fremde Welt der Mittelaltermusik
Angli Clamant ist Latein und heißt: Die Engländer schreien. Die Sänger von der Insel hatten im Mittelalter nicht den besten Ruf. Trotzdem nennt sich der Chor aus Kiel so und singt ausschließlich Musik aus eben dieser Zeit.
Arne Paysen: "Man nimmt die Instrumente aus der Ecke, spielt so ein bisschen zusammen rum und fängt an, zu singen. Dann kommen Interessierte dazu und sagen: 'Oh, Ihr macht ja schöne Musik, können wir mitmachen?' Plötzlich stehen auf einmal zwölf Leute zusammen und machen das regelmäßig und treten sogar auf damit."
Angli Clamant ist Latein und heißt: Die Engländer schreien. Die Sänger von der Insel hatten im Mittelalter nicht den besten Ruf.
Heute steht den Sängerinnen und Sängern von Angli Clamant, die sich zur wöchentlichen Chorprobe in einem Hörsaal der Kieler Universität eingefunden haben, aber die Rührung ins Gesicht geschrieben. Kein Wunder, meint Student und Chorleiter Arne Paysen. Denn in dem englischen Lied, aus dem frühen 16. Jahrhundert geht es um den Kindermord von Betlehem. Ein Freund aus dem englischen Coventry hat es nach Kiel mitgebracht.
"Es wird am Angang die weinende Mutter dargestellt, die ganz alleine um das Wohl ihres Kindes weint. Dann recht brutal der Befehl des Königs Herodes. Und trotzdem, das Singen der Eltern, damit das Kind gar nichts davon merkt. Also es ist ein sehr trauriges und ergreifendes Lied."
Die Tür geht plötzlich auf. Und schon ist die ergreifende Stimmung wieder kaputt. Ein Nachzügler kommt hinein gehetzt. Bei Angli Clamant geht es bei den Proben eher locker zu. Das Wichtigste sei der Spaß, das sagen alle Chormitglieder. Natürlich wollen sie gut singen. Aber die Leidenschaft für Mittelaltermusik steht im Vordergrund. Zum Beispiel bei Stefan Ratzmann. Der ist von Beruf IT-Berater:
"Das ist ein schöner Kontrapunkt zu dem, was ich normalerweise mache: Immer vor dem Rechner hocken. Da gehe ich jetzt voll auf, denn es ist einfach schön. Eine ganz andere Musik, als man sie sonst täglich vorgesetzt bekommt."
Mittelalter als willkommene Ablenkung zum eher nüchternen Alltag: Das Motiv wiederholt sich bei allen Chormitgliedern, seien es Ärzte, Lehrer oder Studenten.
Der hochgewachsene Meeresforscher Lars Bretschin fällt mit seiner langen Mähne sofort auf. Man könnte ihn sich ohne Probleme als Ritter vorstellen, mit Schwert und Schild. Ritter haben übrigens auch in Chorleiter Arne Paysen die Leidenschaft geweckt fürs ferne Mittelalter:
"Ja, interessiert hat es mich natürlich als kleiner Junge. Es gibt ja diese Ritterbilderbücher. Ich glaube, durch diese Phase geht jeder mal. Es gibt Leute, da hört sie nicht auf. Und dazu würde ich mich zählen."
Arne Paysen trägt Vollbart und kleidet sich am liebsten in traditioneller Zimmermannskluft. Der 31-Jährige studiert Musikwissenschaft und Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie, arbeitet nebenher als Hobbyschmied und baut Kohlenmeiler. Eine sehr alte Art, Holzkohle herzustellen. Und weil das alles ihm noch nicht reicht, gründete er vor fünf Jahren den Chor Angli Clamant:
"Man trifft sich auf Mittelaltermärkten oder auf ähnlichen Veranstaltungen. Man sieht einfach regelmäßig dieselben Gesichter, kommt ins Gespräch, spricht dann irgendwann auch über Musik. Und dann irgendwann entsteht die Idee: Lasst uns doch einfach mal was zusammen machen!"
"Lied mit Besoffenen und Hicks!"
Drei Sängerinnen hicksen, als seien sie betrunken, räkeln sich auf einer Sitzbank und verdrehen die Augen. Die skurrile Inszenierung passt sehr gut zu einem mittelalterlichen Trinklied. Das Repertoire der Mittelalterfans ist groß. Geistliche Gesänge und die im Mittelalter sehr häufigen Rauf- und Sauflieder gehören dazu. Die Schauspielerei dabei macht den Angli Clamantianern besonders Spaß:
"'Wir waren gerade besoffene Studenten, mitten in Paris auf einem Marktplatz!' – 'Zwischen Hurenhäusern und Händlern!' – 'Frische Erdbeeren!' – 'Das sang der Bass. Der Alt lockte Herren in ein zweifelhaftes Etablissement.'"
Die Sopranistinnen grinsen. Bei Angli Clamant legen alle Wert darauf, dass alles authentisch ist. So auch die junge Sängerin Kennythalea Sibel:
"Denn vieles, was als Mittelaltermusik angeboten wird, ist ja eigentlich eine Übertragung in die Neuzeit, mit neuen Klängen. Und gerade dieses andere in der Musik, dieses andere Hörgefühl: Das hat man halt in der Mittelaltermusik, wenn man sie am besten selber macht."
Mittlerweile steht der Chor im Treppenhaus des Unigebäudes. Hier ist die Akustik ähnlich wie in einer Kirche. Und in Kirchen treten die Hobbysänger am liebsten auf. Aber auch auf Mittelaltermärkten. Viele Lieder findet Chorleiter Arne Paysen in Originalhandschriften in der Bibliothek des Kieler Musikwissenschaftlichen Instituts, wo er studiert. Die alte Schrift kann er mittlerweile schnell und flüssig lesen. Aber dann geht die knifflige Arbeit erst richtig los:
"Also bei den Stücken, die wir jetzt singen ist, es so, dass tatsächlich Noten überliefert sind, die absolute Tonhöhe. Aber es bleibt immer ein großer Teil Puzzlespiel dabei. Wie lang so ein Ton wirklich ist, kann man nicht sagen. Man muss gucken: Klingt er noch? Wahrscheinlich ist es auch verschieden interpretiert worden. Je nachdem, wer die Noten in die Finger bekommen hat."
Jetzt hat sie Arne Paysen in den Fingern. Und er tut alles dafür, dass es gut klingt. Bloß eins gibt es in seinem Chor nicht: Stress. Denn Angli Clamant soll eben Spaß machen. Und Lust wecken, auf die fremde Welt der Mittelaltermusik.
Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.
Angli Clamant ist Latein und heißt: Die Engländer schreien. Die Sänger von der Insel hatten im Mittelalter nicht den besten Ruf.
Heute steht den Sängerinnen und Sängern von Angli Clamant, die sich zur wöchentlichen Chorprobe in einem Hörsaal der Kieler Universität eingefunden haben, aber die Rührung ins Gesicht geschrieben. Kein Wunder, meint Student und Chorleiter Arne Paysen. Denn in dem englischen Lied, aus dem frühen 16. Jahrhundert geht es um den Kindermord von Betlehem. Ein Freund aus dem englischen Coventry hat es nach Kiel mitgebracht.
"Es wird am Angang die weinende Mutter dargestellt, die ganz alleine um das Wohl ihres Kindes weint. Dann recht brutal der Befehl des Königs Herodes. Und trotzdem, das Singen der Eltern, damit das Kind gar nichts davon merkt. Also es ist ein sehr trauriges und ergreifendes Lied."
Die Tür geht plötzlich auf. Und schon ist die ergreifende Stimmung wieder kaputt. Ein Nachzügler kommt hinein gehetzt. Bei Angli Clamant geht es bei den Proben eher locker zu. Das Wichtigste sei der Spaß, das sagen alle Chormitglieder. Natürlich wollen sie gut singen. Aber die Leidenschaft für Mittelaltermusik steht im Vordergrund. Zum Beispiel bei Stefan Ratzmann. Der ist von Beruf IT-Berater:
"Das ist ein schöner Kontrapunkt zu dem, was ich normalerweise mache: Immer vor dem Rechner hocken. Da gehe ich jetzt voll auf, denn es ist einfach schön. Eine ganz andere Musik, als man sie sonst täglich vorgesetzt bekommt."
Mittelalter als willkommene Ablenkung zum eher nüchternen Alltag: Das Motiv wiederholt sich bei allen Chormitgliedern, seien es Ärzte, Lehrer oder Studenten.
Der hochgewachsene Meeresforscher Lars Bretschin fällt mit seiner langen Mähne sofort auf. Man könnte ihn sich ohne Probleme als Ritter vorstellen, mit Schwert und Schild. Ritter haben übrigens auch in Chorleiter Arne Paysen die Leidenschaft geweckt fürs ferne Mittelalter:
"Ja, interessiert hat es mich natürlich als kleiner Junge. Es gibt ja diese Ritterbilderbücher. Ich glaube, durch diese Phase geht jeder mal. Es gibt Leute, da hört sie nicht auf. Und dazu würde ich mich zählen."
Arne Paysen trägt Vollbart und kleidet sich am liebsten in traditioneller Zimmermannskluft. Der 31-Jährige studiert Musikwissenschaft und Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie, arbeitet nebenher als Hobbyschmied und baut Kohlenmeiler. Eine sehr alte Art, Holzkohle herzustellen. Und weil das alles ihm noch nicht reicht, gründete er vor fünf Jahren den Chor Angli Clamant:
"Man trifft sich auf Mittelaltermärkten oder auf ähnlichen Veranstaltungen. Man sieht einfach regelmäßig dieselben Gesichter, kommt ins Gespräch, spricht dann irgendwann auch über Musik. Und dann irgendwann entsteht die Idee: Lasst uns doch einfach mal was zusammen machen!"
"Lied mit Besoffenen und Hicks!"
Drei Sängerinnen hicksen, als seien sie betrunken, räkeln sich auf einer Sitzbank und verdrehen die Augen. Die skurrile Inszenierung passt sehr gut zu einem mittelalterlichen Trinklied. Das Repertoire der Mittelalterfans ist groß. Geistliche Gesänge und die im Mittelalter sehr häufigen Rauf- und Sauflieder gehören dazu. Die Schauspielerei dabei macht den Angli Clamantianern besonders Spaß:
"'Wir waren gerade besoffene Studenten, mitten in Paris auf einem Marktplatz!' – 'Zwischen Hurenhäusern und Händlern!' – 'Frische Erdbeeren!' – 'Das sang der Bass. Der Alt lockte Herren in ein zweifelhaftes Etablissement.'"
Die Sopranistinnen grinsen. Bei Angli Clamant legen alle Wert darauf, dass alles authentisch ist. So auch die junge Sängerin Kennythalea Sibel:
"Denn vieles, was als Mittelaltermusik angeboten wird, ist ja eigentlich eine Übertragung in die Neuzeit, mit neuen Klängen. Und gerade dieses andere in der Musik, dieses andere Hörgefühl: Das hat man halt in der Mittelaltermusik, wenn man sie am besten selber macht."
Mittlerweile steht der Chor im Treppenhaus des Unigebäudes. Hier ist die Akustik ähnlich wie in einer Kirche. Und in Kirchen treten die Hobbysänger am liebsten auf. Aber auch auf Mittelaltermärkten. Viele Lieder findet Chorleiter Arne Paysen in Originalhandschriften in der Bibliothek des Kieler Musikwissenschaftlichen Instituts, wo er studiert. Die alte Schrift kann er mittlerweile schnell und flüssig lesen. Aber dann geht die knifflige Arbeit erst richtig los:
"Also bei den Stücken, die wir jetzt singen ist, es so, dass tatsächlich Noten überliefert sind, die absolute Tonhöhe. Aber es bleibt immer ein großer Teil Puzzlespiel dabei. Wie lang so ein Ton wirklich ist, kann man nicht sagen. Man muss gucken: Klingt er noch? Wahrscheinlich ist es auch verschieden interpretiert worden. Je nachdem, wer die Noten in die Finger bekommen hat."
Jetzt hat sie Arne Paysen in den Fingern. Und er tut alles dafür, dass es gut klingt. Bloß eins gibt es in seinem Chor nicht: Stress. Denn Angli Clamant soll eben Spaß machen. Und Lust wecken, auf die fremde Welt der Mittelaltermusik.
Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.