Die Frau ist Besitztum der Familie des Mannes

Reinhard Erös im Gespräch mit Dieter Kassel · 29.03.2012
Ein Bericht von Human Rights Watch zeigt: Über 400 Frauen sitzen in afghanischen Gefängnissen, weil sie von Zuhause geflohen sind. Für Reinhard Erös von der Kinderhilfe Afghanistan ein Indiz, dass der Aufbau der Rechtsstaatlichkeit nicht richtig funktioniert hat - letztendlich auch eine Aufgabe der Deutschen und Italiener beim Wiederaufbau.
Dieter Kassel: Gut zehn Jahre nach dem Sturz der Taliban hat sich für die Frauen in Afghanistan vieles verbessert. Es gab beachtliche Fortschritte bei Bildung, Beschäftigung, Müttersterblichkeit und der Rolle der Frau im öffentlichen Leben. Das sagt auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Aber es gibt auch eine andere Seite, und die prangert ein aktueller Bericht der Organisation deutlich an. Lotta Wieden fasst den Bericht zusammen.

Lotta Wieden über den gestern veröffentlichten Bericht der Organisation Human Rights Watch über Frauen, die in Afghanistan wegen sogenannter Sittenverbrechen im Gefängnis sitzen.

Reinhard Erös kennt Afghanistan seit den 1980er-Jahren, hat Ende der 80er-Jahre sogar mit seiner Familie im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet gelebt, und zusammen mit seiner Frau betreibt er schon seit einer ganzen Weile die Kinderhilfe Afghanistan, die in Afghanistan und teilweise auf der anderen Seite der Grenze, in Pakistan, unter anderem Schulen für Jungs und für Mädchen betreibt und verschiedene Ausbildungszentren. Reinhard Erös ist jetzt bei den Kollegen vom Bayrischen Rundfunk in Regensburg für uns im Studio. Guten Morgen, Herr Erös!

Reinhard Erös: Grüß Gott nach Berlin!

Kassel: Geht es tatsächlich den Frauen in Afghanistan heute keinen Deut besser als noch zu den Zeiten der Taliban?

Erös: Den Frauen Afghanistans – es gibt ungefähr 16 Millionen –, denen geht es unterschiedlich, besser oder schlechter als zur Taliban-Zeit. Einem kleinen Teil der Frauen geht es deutlich besser, insbesondere den gebildeten Frauen, den Frauen aus Elitefamilien in den Städten, denen geht es deutlich besser. Die leben, ich sage es mal, ähnlich komfortabel wie Frauen in rechtsstaatlichen Ländern, zivilisierten Ländern wie in Deutschland. Und dann gibt es natürlich auch Frauen, für die hat sich nichts geändert, und zwar nicht nur gegenüber der Taliban-Zeit nichts geändert, sondern gegenüber den letzten 1000 Jahren nicht viel geändert. Und das sind vermutlich die Frauen, über die wir heute letztlich auch sprechen.

Kassel: Wie groß würden Sie deren Anzahl beziffern?

Erös: Das kann man schlecht schätzen, es sind so 60, 70 Prozent der Frauen, die leben im täglichen Überlebenskampf, physischen Überlebenskampf, sich selber, ihrem Mann und ihre sechs, sieben, acht Kinder zu ernähren, seit Jahrtausenden in ärmlichen Umständen in den Bergdörfern, als Nomaden, wie auch immer. Also die haben, ich sage es mal so, da hat die ganze Familie, auch der Mann, ganz andere Probleme als häusliche Gewalt. Dort geht es ums physische Überleben täglich.

Kassel: Aber diese 400 Frauen sitzen ja nun tatsächlich im Gefängnis aufgrund einer Straftat, die auch in Afghanistan laut Gesetz keine ist. Es ist ja nicht verboten, wegzulaufen von der Familie, trotzdem werden die eingesperrt – werden eingesperrt, nachdem ihnen zu Hause unrecht angetan wurde.

Erös: Völlig richtig, also an dem Bericht von Human Rights Watch, was er aussagt, ist auch nicht zu zweifeln. Die Frage ist dann, das wäre dann zu hinterfragen, wie relevant ist dieser Bericht für die gesamte Bevölkerung und so weiter, wen trifft er, trifft er Frauen aus allen afghanischen Völkern gleichermaßen – das glaube ich zum Beispiel nicht. Ich kann mir gut vorstellen oder bin sicher, dass etwa die Frauen der Kuchi – die Kuchis sind die Nomaden Afghanistans, etwa 15 Prozent der Bevölkerung –, dass die dort nicht diese Probleme haben, denn bei den Kuchis haben die Frauen zu Hause die Hosen an, dort sind die Frauen diejenigen, die bestimmen – da müssen eher die Männer manchmal weglaufen.

Und dann gibt es eben Stämme oder Völker Afghanistans, zum Beispiel die Paschtunen, das ist die Mehrheitsbevölkerung, und dort kann ich mir das sehr wohl vorstellen. Denn Sie haben jetzt die Gesetzeslage Afghanistans angesprochen – völlig zu Recht –, Afghanistan hat vermutlich die modernste Verfassung unter allen islamischen Ländern. Dort finden wir jetzt einen Artikel 23, dass Männer und Frauen vor dem Gesetz die gleichen Rechte haben. An dieser Verfassung haben etwa italienische Verfassungsrechtler mitgewirkt, sie ist ja erst acht Jahre alt. Am Strafgesetzbuch Afghanistans – auch da haben Sie Recht, und da hat Human Rights Watch Recht –, wo Weglaufen natürlich nicht verboten ist, am afghanischen Strafrecht haben deutsche Verfassungsrechtler oder Rechtsgelehrte mitgewirkt. Also auf dem Papier, in der Verfassungsnorm oder Strafrechtsnorm ist in Afghanistan alles in Ordnung, aber in der Praxis halt nicht, und jetzt werden wir anfangen mit dem Grund, weshalb die weggelaufen sind, die Frauen, nämlich häusliche Gewalt. Und da gehe ich mal davon aus, dass jeder in Deutschland weiß, dass es das auch in Deutschland gibt. Wenn Sie die Berichte des Familienministeriums in Deutschland, in Berlin sich anschauen, dann finden Sie Zahlen von Zehntausenden Frauen, die jedes Jahr wegen brutaler Gewalt ihres Ehepartners, ihres Lebenspartners und so weiter von zu Hause weglaufen, nur bei uns – und jetzt kommt der Unterschied zu Afghanistan –, wenn Sie dann weglaufen und sich bei der Polizei melden, kommen Sie nicht ins Gefängnis, sondern man kümmert sich in anderer Weise um Sie. Sie kommen in Frauenhäuser oder werden anderweitig untergebracht – das gibt es halt in Afghanistan nicht. Einmal gibt es die Frauenhäuser nicht, und zum Zweiten gibt es auch die Einstellung der Polizei oder auch der Rechtsbehörden, mit solchen Frauen in unserem Sinne korrekt umzugehen, nicht oder noch nicht. Und da müssen wir wieder fragen, warum gibt es die noch nicht.

Schauen Sie, die afghanische Polizei, die solche Frauen dann ins Gericht oder beziehungsweise letztlich auch in den Knast bringt, die afghanische Polizei des Jahres 2012 wurde in den letzten zehn Jahren unter der Verantwortung Deutschlands, unter Verantwortung des deutschen Innenministers ausgebildet. Tausende deutsche Polizisten wurden nach Afghanistan gesandt, um dort aus jungen Männern ordentliche Polizisten zu machen, und das wäre ein Thema, das müsste man begleitend natürlich zu dem Human-Rights-Watch-Bericht darstellen: Diese Polizeiausbildung, insbesondere unter dem Aspekt rechtsstaatliche Erziehung oder Erziehung zur Rechtsstaatlichkeit der afghanischen Polizei, die fand letztlich gar nicht statt. Die afghanischen Polizisten, zumindest der Großteil, die leben in der Welt, auch jetzt als Polizist, in der sie groß geworden sind, in der archaischen Welt. Und wenn wir jetzt wieder auf die Paschtunen zurückkommen, wo vermutlich die Masse dieser Frauen herstammen, in der Paschtunen-Welt – und die haben ein Rechtskodex, der ist viel älter als die afghanische Verfassung: Der Paschtunwali, so heißt dieser Rechtskodex, der ist ein paar Tausend Jahre alt, und dort ist ganz klar festgelegt, dass eine Frau, wenn sie heiratet oder verheiratet wird, in der Regel in sehr jungen Jahren schon – auch weil die Lebenserwartung sehr kurz ist, die afghanischen Frauen werden keine 80 Jahre alt wie in Deutschland, die werden 40, deshalb heiraten sie auch schon früher –, dass die Frau bei der Heirat in den Besitz der Familie des Mannes übergeht, also des Mannes selber, des Ehemannes und seiner Mutter, also der Schwiegermutter. Sie ist dort ein Besitztum, das ist dort in dieser Kultur seit Jahrtausenden so. Wenn man das nicht will, muss man lange dran arbeiten. Man muss die Leute bilden, insbesondere die jungen Mädchen bilden, die jungen Männer bilden, damit sie von diesem alten Stammesdenken – Frau ist Besitztum der Familie des Mannes – wegkommen.

Kassel: Da sind wir jetzt beim Thema – ja, ich würde es fast nennen, kulturelle Bildung, die da wirken muss. Aber ist es nicht vielmehr so, dass im Moment – es gibt zum Beispiel einen Aufruf des afghanischen Präsidenten Karzai an sämtliche Medien, darauf zu achten, dass Frauen, die in den Medien auftreten, immer besonders züchtig gekleidet sind – im Moment hat man doch den Eindruck, es geht nicht nur – so klingt das jetzt bei Ihnen – zu langsam in diese Richtung, sondern es geht wieder ein bisschen zurück in die andere Richtung.

Erös: Na, also in die andere Richtung zurück, dann würde ich bestenfalls die Phase der sowjetischen Besatzung oder vielleicht das Jahr vorher noch heranziehen, die Jahre so Ende der 70er bis zum Abzug der Sowjets. In diesen Jahren – das muss man einfach konstatieren, also auch jemand, der mit dem Einmarsch der Sowjets nicht einverstanden war –, dass in dieser Zeit die Frauen zumindest in den Städten, also die städtische, die urbane Bevölkerung, relativ modern lebten. Also da wären solche Dinge nicht vorstellbar gewesen, das muss man zugestehen, aber das ist jetzt vorbei. In diese Zeit das Rad wieder zurückzudrehen unter Bezug auf etwa die Aussage, während der sowjetischen Besatzung oder während der Zeit, als Nadschibullah oder als Babrak Karmal hätte es das nicht gegeben, das wäre in Afghanistan kontraproduktiv.

Die Zeit vor dieser sowjetischen Besatzung, die war eigentlich wie jetzt, dort hatten die Frauen – noch mal: In der afghanischen Kultur oder bei den afghanischen typischen Familien, die ich vorher geschildert habe, die Bergbauern und so weiter, kämpft die Familie jeden Tag ums physische Überleben. Da spielen diese Themen, wie wir sie haben, wie Sie sie angesprochen haben, eine ausgesprochen untergeordnete Rolle. Wenn Sie jeden Tag sich physisch reproduzieren müssen, wie Karl Marx das ausgedrückt hat, dann gilt halt auch der Satz von Bertolt Brecht: Erst kommt das Fressen, das Überleben, und dann können wir über Moral reden. Und in Afghanistan müssen wir uns einfach noch viel, viel mehr über das in Anführungszeichen "Fressen" unterhalten, über das physische Überleben, dann das kulturelle Leben und so weiter, und dann kommen wir zu solchen Ergebnissen.

Kassel: Ja, aber man kann doch daraus jetzt nicht schließen, wenn 400 Frauen, die unschuldig sind, im Gefängnis sitzen und da – das dürfen wir, glaube ich, beide vermuten – auch nicht besonders zuvorkommend behandelt werden, dann müssen wir das aufgrund der Armut in dem Land einfach hinnehmen.

Erös: Noch mal, wer hat die Polizisten ausgebildet, die die Frauen da reingebracht haben? Wer hat die Staatsanwälte und die Richter, die die Frauen dort festhalten, in die Gefängnisse gebracht? Das waren – was die Richterausbildung oder die Ausbildung in Sachen Rechtsstaat – das waren italienische Verfassungsrechtler, und italienische Gelehrte, die die letzten zwölf Jahre oder zehn Jahre in Afghanistan für Afghanistan das Justizsystem aufgebaut haben.

Kassel: Aber die haben doch sicherlich nicht gesagt, sperrt die Frauen ein.

Erös: Nein, aber sie waren anscheinend nicht sehr erfolgreich. Darauf will ich doch raus. Wenn ich als deutscher Innenminister Schily 2001 in Petersberg den Finger hebe, also bei der Konferenz, als es losging, Afghanistan wieder aufzubauen nach dem Sturz der Taliban und ich sage, wir Deutschen übernehmen die Verantwortung, wir übernehmen die Lead-Nation-Funktion für die Polizeiausbildung, und der italienische Kollege oder Justizkollege sagt das Gleiche, wir übernehmen die Verantwortung für die Justizausbildung, und beide Länder hatten jetzt zehn Jahre Zeit, das zu tun, und wir kommen zu einem Ergebnis, wie Sie es, und auch wie Human Rights Watch es jetzt nicht nur schildert, sondern anprangert, dann liegt auch bei uns was falsch, und nicht nur bei den Afghanen.

Kassel: Das bringt uns, Herr Erös – Sie gehen zurück zu den Anfängen mit der Petersberger Konferenz. Gucken wir mal in die Zukunft: Eigentlich diskutieren wir nicht darüber, ob das klappen kann, aber rein theoretisch sollen schon im kommenden Jahr sämtliche ausländischen Streitkräfte abziehen aus Afghanistan. Wenn sich die Internationale Gemeinschaft da wirklich zurückzieht, was wird das für die Lage der Frauen bedeuten?

Erös: Sehen Sie, und da komme ich jetzt zum Hinterfragen dieses – also nicht der Aussage von Human Rights Watch, aber zum Zeitpunkt. Was Human Rights Watch jetzt veröffentlicht hat, können Sie in den Jahresberichten der UNO auch im Prinzip nachlesen, nicht so detailliert, aber etwa die Berichte, die Jahresberichte von der UNODC, also der United Nations Office on Drugs and Crime, so heißt diese furchtbare Name, die berichten exakt das Gleiche. Nicht mit diesen Zahlen, aber dass es diese Brutalität in der Familie gibt, und so weiter, dass Frauen weglaufen, dass sie eingesperrt werden. Dass ist eigentlich für uns Insider oder für Leute, die sich damit beschäftigen, überhaupt nichts Neues, das ist das eine. Also diese Information, die gab es schon. Warum kommt die jetzt raus, zehn Tage nachdem ein amerikanischer Soldat ein Riesenmassaker in Südafghanistan angestellt hat? Das ist jetzt natürlich aus den Headlines der Medien weg. Jetzt geht es um die bösen afghanischen Männer und die bösen Polizisten und Gerichte.

Und das Zweite ist – und das haben gestern einige Zeitungen ja schon so betitelt –, es ist wieder wie bei den Taliban. Sie haben das ja auch so ähnlich formuliert, oder Human Rights Watch formuliert das, es ist eh jetzt schon wieder wie bei den Taliban, und dann ist quasi der Folgesatz, dann macht das ja auch nichts aus, wenn wir jetzt abziehen, dann kommen die Taliban halt wieder an die Macht, und es wird sich eigentlich nicht viel ändern – und das ist das Fatale am Zeitpunkt und am Tenor dieses Berichts. Und deshalb muss man den wirklich hinterfragen und ausführlich diskutieren.

Kassel: Herzlichen Dank, Reinhard Erös war das, Gründer und gemeinsam mit seiner Frau Leiter der Kinderhilfe Afghanistan über die Rolle der Frauen in Afghanistan, die als sehr kritisch gesehen wird von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die mit 58 inhaftierten Frauen und Mädchen gesprochen hat. Herr Erös, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!

Erös: Ich bedanke mich!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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