Die florale Linie

Von Sven–Claude Bettinger |
Die Ausstellung "Jugendstil und Design 1830-1958" wird am Dienstag eröffnet und ist bis zum 31.12.2005 in <papaya:link href="http://www.mrah.be/" text="Brüssels Königlichen Museen für Kunst und Geschichte" title="Königliches Museen für Kunst und Geschichte Brüssel" target="_blank" /> zu sehen.
Die Ausstellung zeigt über 400 belgische Möbel und Objekte aus der Zeit zwischen der Unabhängigkeit Belgiens und der Brüsseler Weltausstellung 1958. Sie findet anlässlich der 175-Jahrfeier des Königreichs statt und bildet den Mittelpunkt eines ganzen "Jugendstil-Jahres" der Brüsseler Landesregierung.

So sind im Architekturmuseum und im Kulturzentrum "Rouge Cloître" weitere Ausstellungen zu bewundern, zur Fassadengestaltung im Jugendstil und zum Jugendstil im Alltag jener Zeit. Das Brüsseler Fremdenverkehrsamt schlägt Jugendstil-Spaziergänge vor und bietet Führungen an - denn immerhin sind, trotz Abrisswut der Bauten, die in den 1960er Jahren schmähend mit "Nudel-Stil" abqualifiziert wurden, noch rund 1500 Jugendstil-Bauten in der Stadt erhalten: Von Patrizierpalais bis zu Sozialwohnungen, von Denkmälern und Gräbern bis zu Kindergärten oder Krankenhäusern, von Lagerhallen bis zu Restaurants

Nicht in Nancy, Glasgow oder Wien entstand der Jugendstil, sondern in Brüssel. Dort bauten zwei Architekten, Paul Hankar und Victor Horta, 1893 zeitgleich und in unmittelbarer Nähe Häuser, die zu Manifesten der Stilrichtung wurden. Die revolutionären Gesamtkunstwerke wurden als "Art nouveau", als Neue Kunst umschrieben.

Hankar und Horta, etwas später auch Henry van de Velde, gestalteten selbst das kleinste Detail, etwa einen Schlüssel, mit der typischen floralen oder flammenden, elegant geschwungenen Linie. Der Grundriss war - und ist heute noch - revolutionär. Ein zentrales Treppenhaus führt in offene Räume, Lichtkuppeln und großzügige Fenster bringen Helligkeit. Eisenelemente wie Träger oder Säulen werden offen gezeigt. Dabei handelte es sich um mehr als nur Anspielungen auf Prinzipien der Freimaurer - zu denen Hankar und Horta gehörten. Wie die meisten ihrer Auftraggeber, offene, wohlhabende Großbürger, die in der in Brüssel dominierenden Liberalen Partei den Ton angaben. In "Art nouveau" sahen sie den nationalen Stil Belgiens, zu dem Zeitpunkt ein relativ junger Staat, eine wirtschaftliche Großmacht und mit der Literatur und Malerei der Symbolisten auch kulturell tonangebend. Allerdings relativiert Dr. Claire Leblanc, die die große Ausstellung "Jugendstil und Design 1830 bis 1958" in Brüssels Königlichen Museen für Kunst und Geschichte gemacht hat:

Claire Leblanc: "Wenn man vom Jugendstil spricht, dann erscheint er oft als "Wunder" in der Kunstgeschichte. Er scheint aus dem Nichts zu kommen. Die Jungendstilkünstler haben kräftig zu dieser Auffassung beigetragen. Sie betrachteten sich als absolute Avantgardisten und Erneuerer, die mit der Vergangenheit radikal gebrochen hatten. Selbstverständlich schöpfte die Bewegung jedoch aus gewissen Quellen."

Auf den ersten Blick fällt das in der Ausstellung, die ausschließlich das Design im Zeitraum von über hundert Jahren untersucht, nicht auf. Da stehen die schweren, überladenen Möbel, Gläser, Silberkannen, Porzellanserviese in den Neostilen, Neogotik, Neorenaissance, Neo-Rokoko. Und dann folgen die unendlich leichten, verspielten Stücke der Jugendstilmeister. Eines haben sie gemeinsam:

Claire Leblanc: "Die Jugendstilmeister setzen sich von den Neostilen ab, die während des gesamten 19. Jahrhunderts tonangebend sind. Aber sie gehen streng genommen vom gleichen Konzept aus: Schöne Gegenstände in bester Handarbeit aus kostbaren Materialien, die Liebe zum ästhetisch gestalteten Gesamtkunstwerk."
Details sorgen für eine ganze Reihe von Überraschungen: Flügel und Gewandsaum eines neogotischen Engels oder eine japanisch stilisierte Blume auf einer Neo-Rokoko-Silberschale kündigen die Linien an, die Hankar, Horta, Van de Velde und viele Kunsthandwerker des belgischen Jugendstils dann verallgemeinern. Parallel dazu entstehen aber auch die viel strengeren, geometrischeren, roheren Möbel eines Gustave Serrurier-Bovy. Die schiere Materialmasse erinnert an die Neorenaissance, während die schnörkellosen Linien bereits die Glasgower und Wiener Jugendstil-Schule ankündigen. Der begnadete Silberschmied Philippe Wolfers und der geniale Keramiker Willy Finch wechseln geradezu organisch von den Neostilen zum Jugendstil, von dessen züngelnden Flammen zu eckigeren, dekorativen Formen eines Art déco, lange bevor der Begriff geprägt war. Da tauchen auch Anspielungen auf die Neorenaissance auf, etwa wenn Weingläser schwere Füße bekommen. Finch geht immer weiter und gelangt allmählich zu kühlen Silhouetten und abstrakten Glasuren in wenigen, zerfließenden Farbtönen.

So wie der Beginn der Ausstellung einen scharfen Blick auf Details verlangt, so auch ihr Ende. Tisch- und Stuhlbeine belgischer Möbel der 1950er Jahre weisen für diese Zeit unübliche Krümmungen auf, die den Einfluss des Jugendstils verraten. Und dann steht da - als eine von mehreren, markanten Abweichungen vom Enddatum 1958 - ein einarmiger Silberleuchter des jungen Designers Xavier Lust. Der breite, geschwungene Fuß, der daraus emporzüngelnde Arm beziehen sich eindeutig auf das berühmte Vorbild Henry van de Veldes.

Exemplarische Meisterwerke zeigt diese spannende Ausstellung. Sie vernachlässigt die industriell hergestellte Ware, obwohl nicht zuletzt der Jugendstil in Belgien, im Unterschied zu anderen Ländern, zwanzig Jahre lang ein Massenstil war. Viele Entwürfe der bedeutenden Designer wurden von der Glashütte Val Saint-Lambert oder der Keramikfabrik Boch auch in größeren Serien gefertigt. Claire Leblanc:

Claire Leblanc: "Es ist schwierig, die Industrieproduktion zu zeigen. Denn diese Möbel und Objekte sind nicht oder nicht gut erhalten. Deshalb stehen wir in der Tat vor einem Paradox. Es gab die industrielle Massenproduktion, aber wir können die verschiedenen Stile des 19. und 20. Jahrhunderts nur mit Meisterwerken illustrieren."

Andererseits wird dadurch jedoch die lange Tradition und hohe Qualität belgischer Möbel und Einrichtungsgegenstände deutlich. Sie stehen in nichts der Malerei und, auf dem Höhepunkt des Jugendstils, der Architektur nach. Auch die wenigen jungen Designer, die in der Ausstellung punktuell vorgestellt werden, sind nicht aus der Luft gefallen, sondern haben solide Wurzeln in der Geschichte.


Alle Informationen dazu auf der Internetseite Art-Nouveau Bruxelles.