Die Feststellung als Provokation

26.10.2010
Michel Houellebecq ist einer der radikalen und provozierenden Romanciers unserer Zeit, sein Werk "Elementarteilchen" ein moderner Klassiker. Nun erscheint ein neuer Band des Essayisten Houellebecq, der von Kennern sogar mehr geschätzt wird als der Romanautor.
Der Furor der Lebensverzweiflung und die intelligente Durchdringung gesellschaftlicher Erosionsphänomene, die Radikalität der Glückssuche, der aggressive Witz und die instinktive Lust am Tabubruch – durch solche Qualitäten wurde der Romancier Michel Houellebecq berühmt.

Sie finden sich auch in seiner Sammlung "Ich habe einen Traum. Neue Interventionen", von der nun ein zweiter schmaler Band in deutscher Übersetzung erschienen ist. Houellebecq greift ein in aktuelle Debatten, sofern er sie nicht selbst angestoßen hat. Das Problem besteht darin, dass diese Debatten außerhalb Frankreichs oft nur Spezialisten bekannt sind. Der Essay "Philippe Muray im Jahre 2002" etwa stellt hiesige Leser vor das Problem, dass dieser französische Schriftsteller – und erst recht seine Leistungen im Jahr 2002 – hierzulande bisher kein Echo fanden.

So wundert es nicht, dass die deutsche Fassung auf ein Drittel der Originalausgabe geschrumpft ist – übrig geblieben sind Ausführungen über den Feminismus und den Islam, Interviews, Stellungnahmen zum eigenen Werk und zur Literatur im Allgemeinen, schließlich Essays über transnationale Berühmtheiten wie Auguste Comte und Neil Young, dem Houellebecq eine bemerkenswerte Hommage widmet. Die zerbrechliche Schönheit und Seelenausdruckskraft seiner Lieder lassen das Herz des Zynikers bluten.

Ansonsten liebt es Houellebecq, Provokationen im Ton bloßer Feststellungen vorzubringen. Knapp zehn Jahre ist es her, dass er den Islam als die "nun wirklich dümmste aller Religionen" bezeichnete und die wachsende Unfreiheit im Gespräch über Glaubensfragen kritisierte.

Von anderen Islamkritikern unterscheidet er sich freilich durch seine vernichtende Haltung zur eigenen Kultur. Höhnisch führt er Selbsttäuschungen des Feminismus vor oder analysiert die Ableitungsfunktion des Kinderschänder-Diskurses. "Mir scheint, als sei der Pädophile der ideale Sündenbock einer Gesellschaft, die alles dafür tut, die Begierde zu wecken, ohne die Mittel zu ihrer Befriedigung bereit zu stellen." Houellebecq positioniert sich gegen Baudrillard und Bourdieu, gegen Sartre und Beauvoir, verachtet die Psychologie; für ihn ist die Biologie die Leitwissenschaft.

Das größte Kapital des Schriftstellers Michel Houellebecq ist seine Authentizität als Schmerzensmann: "Über sich selbst zu reden ist mühsam und sogar widerlich. Doch in der Literatur ist es die einzige Sache, die sich lohnt", schreibt er in "Technischer Trost". Denn "die Menschen gleichen einander viel mehr, als sie sich in ihrer Überheblichkeit ausmalen" – und so stellt der Schriftsteller Allgemeingültigkeit her, indem er möglichst taktlos von sich selbst spricht.

Wenn dieser Autor, wie ein verprügelter Hund wirkend, Fernsehinterviews gibt – dann scheint er porentief echt. Aber er konstruiert seine schriftstellerische Identität wie seine Romane: fleißig und methodisch. In diesem Sinn bedient auch dieser etwas dürre Band – bis zum Erscheinen der Übersetzung seines neuen Romans "La carte et le territoire" – die Marke Houellebecq.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Michel Houellebecq: Ich habe einen Traum. Neue Interventionen
Aus dem Französischen von Hella Faust
Dumont Verlag, Köln 2010
109 Seiten, 17,95 Euro
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