Die Faszination des Drohenden

Von ferne erinnert das Werk von Brigitte Giraud ein wenig an Tolstoi, der in „Krieg und Frieden“ schrieb, alle glücklichen Familien seien sich ähnlich, nur die unglücklichen unterschieden sich. Aber der leise, behutsame Roman versagt sich alle dramatischen Effekte des Glücklich- oder Unglücklichseins. Er liest sich wie eine Übung in genauem Hinhören und Hingucken.
Die kleine Nadia ist das, was man ein aufgewecktes Kind nennt. Sie lernt gern, geht gern in die Schule, genießt es auch, hier in eine andere Welt eintauchen zu können, als diejenige es ist, die sie in ihrem Elternhaus umfängt.

Denn in demselben stimmt etwas nicht. Man bekommt es als Leser erst nicht richtig mit, wundert sich nur über die Erleichterung, die die Erstklässlerin, aber auch im letzten Teil noch die pubertierende Gymnasiastin, immer wieder erfüllt, wenn sie die 90-Quadratmeter-Wohnung am Stadtrand von Lyon verlassen kann, die sie mit Vater, Mutter, Schwester, Bruder bewohnt, um mit den Mädchen und Jungen ihres Alters in der Schule zusammen zu sein.

Doch allmählich wird man hellhörig. Allzu penetrant heißt es nämlich zum Beispiel immer „die Frau, die nicht meine Mutter ist“. Allzu oft ist auch von den Depressionen der Schwester die Rede, die schließlich in einer psychiatrischen Anstalt verschwindet. Und allzu sehr beharrt Nadia auch darauf, dass der Bruder nur ein „Halbbruder“ ist. Kurzum, in der Familie lauert ein Konflikt. Aber welcher? Er wird nur sehr en passant berührt, zu sehr ist die gesamte Darstellung dieser Kindheitsgeschichte dem gedanklichen Horizont einer Heranwachsenden verpflichtet.

Aber dann bekommt man es als Leser doch heraus: Es gibt ein geheimes Trauma, das diese Familie quält, und das hat mit dem Algerienkrieg zu tun. Wenn die Erzählung beginnt, in den späten sechziger Jahren, ist er schon vorbei. Aber aufgearbeitet ist er darum noch lange nicht. Nadias Vater, soviel lässt sich am Ende erschließen, war in erster Ehe mit einer Algerierin verheiratet, die er in der ehemaligen französischen Kolonie kennen und lieben gelernt hat. Von ihr sind seine beiden Töchter.

Was aus dieser Frau wurde, erfährt man nicht. In der Familie wird nicht über sie gesprochen. Tatsache bleibt aber, dass die neue Mutter, mit der der Vater den Halbbruder von Nadia gezeugt hat, eine reine Französin und nicht gut auf das algerische Vorleben ihres Mannes zu sprechen ist. Die Mädchen spüren diese Verachtung diffus, aber doch. Nadias Schwester beispielsweise, die so verzweifelt wie erfolglos versucht, sich die Haare „entkräuseln“ zu lassen, möchte endlich so französisch wirken wie die anderen Kinder in ihrem Umkreis auch. Aber auch dies ist nur eine Andeutung, die ein Licht auf ihre seelische Krankheit wirft, Genaueres erfahren wird nicht.

Von ferne erinnert das alles ein wenig an Tolstoi, der in „Krieg und Frieden“ schrieb, alle glücklichen Familien seien sich ähnlich, nur die unglücklichen unterschieden sich. Aber der leise, behutsame Roman von Brigitte Giraud versagt sich alle dramatischen Effekte des Glücklich- oder Unglücklichseins. Er liest sich wie eine Übung in genauem Hinhören und Hingucken.

Bemerkenswert ist, wie die 1960 in Sidi Bel-Abès geborene Autorin diese Tonlage des schwebenden, lastenden, aber nie vollends zum Ausbruch kommenden Unheils in ihrem kurzen Roman durchhält. Dadurch entsteht eine Faszination des Lauernden, Drohenden, der man sich nicht entziehen kann. Unglücklich ist allerdings der Titel des Buches, der den Leser auf eine falsche Fährte lockt, denn bei aller sprachlichen Sensibilität der kleinen Nadia, auch bei aller Vorliebe für Gedichte, die das Mädchen erstaunlicherweise schon sehr früh entwickelt: um das „Leben der Wörter“ geht es hier nicht.

Da ist der französische Titel „J’apprends“ (ich lerne, ich erfahre) in seiner Mehrdeutigkeit angemessener. Als männlicher Leser wird man vielleicht zudem beklagen, dass das an sich ja sehr interessante Politische in diesem Buch so vage bleibt. Dass der Algerienkrieg, die Ablösung Algeriens vom französischen Mutterland, zu Verwerfungen in der französischen Gesellschaft geführt hat, weiß man inzwischen. Da dürfte eine Kindheitsgeschichte im Schatten dieses Traumas durchaus ein wenig mehr Informationen über das genaue Wie und Was enthalten.


Rezensiert von Tilman Krause

Brigitte Giraud: Das Leben der Wörter
Aus dem Französischen von Anne Braun.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 137 Seiten, 16,90 Euro