Die Familie des Patriarchen

Rezensiert von Susanne Mack · 01.03.2006
Sigmund Freud - sein Geburtstag jährt sich in diesem Jahr zum 150. Mal. Anlass genug, nicht nur den Vater der Psychoanalyse genauer in Augenschein zu nehmen, sondern auch die Familie Freud. In "Die Freuds. Biographie einer Familie" von Eva Weissweiler kommen seine Frau Martha, seine Kinder und viele Freunde des Hauses zu Wort.
Wenn Sie’s mit einem Satz auf den Punkt bringen sollen – was war denn Freud für ein Charakter?

Freud war ein klassischer Patriarch. Oberhaupt einer siebenköpfigen Familie. Mit Ehefrau Martha, drei Söhnen und drei Töchtern - Martha erzieht die Kinder und befehligt die Dienstboten. Die Söhne studieren, die Töchter natürlich nicht: "Bildung ist nichts für Frauenzimmer" meint Freud: Die sollen heiraten. Wen, entscheidet der Vater. Im Hause Freud wird – zeitgemäß - über Sex kein Wort verloren. Die Kinder kennen den Vater nur im feinen Anzug und die Damen des Hauses in hochgeschlossenen Kleidern. Arme und Beine komplett verhüllt (der kleine Martin, Freuds ältester Sohn, kann lange nicht glauben, dass seine Schwestern überhaupt Beine haben) - Alles in allem: eine ganz normale gutbürgerliche Familie, Wien um 1900.

Das steht in ziemlich krassem Gegensatz zu dem, was Freud in seinen Büchern und Vorträgen erörtert …

Krasser geht’s nicht. Und was ihr Ehemann beruflich betreibt, das war Frau Martha auch immer ziemlich peinlich. Stellen Sie sich vor: Ein Mann im feinen Maßanzug, bester englischer Tweed, referiert vor vollen Sälen über perverse Väter, die ihre Frauen regelmäßig im Ehebett vergewaltigen, über hysterische Töchter voller Penisneid und über die verschämte Lust der Söhne auf Sex mit ihrer Mutter. - Eva Weissweiler zitiert reichlich aus Freud-Büchern und -Vorträgen. Da wirkt vieles - auch auf den Leser von heute – wie eine schräge Mischung aus Wissenschaft, Literatur und Pornographie. Und so haben das die Hörer um 1900 anscheinend auch empfunden. Wo Sigmund Freud referiert, da scheiden sich sofort die Geister: ein Teil des Auditoriums ist angeekelt, der andere feiert ihn als Bahn brechenden Wissenschaftler, den grandiosen Entdecker des Unbewussten, den Streiter gegen die gesamtgesellschaftliche Neurose der Prüderie. Wenn je einer sein Publikum vollständig polarisiert hat in Freundes- und Feindeslager, dann war das sicher Sigmund Freud.

Und es gab ja auch genug Freunde, die später zu Feinden geworden sind …

Und es waren die engsten Freunde. Jene, die das häusliche Milieu von Freud gekannt haben: Sein alter Freund und Kollege Wilhelm Fließ zum Beispiel hat sich verabschiedet, weil Freud ganz offensichtlich mit zwei Frauen lebte, das aber nie vor irgendjemand zugegeben hat. Denn die Schwester von Freuds Ehefrau Martha wohnt mit Familie Freud unter einem Dach. Und nachdem Martha sechs Kinder bekommen hat (vielleicht hatte sie dann keine Lust mehr auf Sex?) verlegt Freud sein Interesse nun auf ihre Schwester Minna, reist mit Minna regelmäßig und wochenlang durch Italien, schickte nette Postkarten an Frau und Kinder, und ansonsten wird das Thema "Freud und Minna" einfach nicht besprochen – weder zu Hause noch anderswo. Diese jahrzehntelange Heuchelei – unter anderem - hat so manchen Freud-Verehrer in die Flucht geschlagen.

Also war der Vater der Psychoanalyse selbst ein Verdrängungskünstler …

Klar. Und das haben im seine Schüler auch übel genommen. Und vor allem, dass er sich immer aufgeführt hat "als ein Prophet, den keiner am Bart zupfen darf". - Das hat Carl Gustav Jung einmal geschrieben, Freuds Lieblingsschüler und lange Zeit auch sein "Kronprinz". Der Satz steht in einem Brief an den "Meister". Dem letzten natürlich, denn danach war das Verhältnis beendet. - Carl Gustav Jung hat später geschrieben, bei den vielen krankhaften Zuständen der Seele, die Freud beschreibt, würde er meistenteils sich selber meinen: "Seine Psychologie ist die eines Neurotikers von bestimmter Prägung".

Und warum hatte dieser (vermeintliche) "Neurotiker" so einen immensen Erfolg?

Da gibt es verschiedene Gründe. Der erste ist sein Sendungsbewusstsein und der dementsprechende Auftritt. Freud war ein brillanter Schriftsteller, der in seinem Ton den Zeitgeist getroffen hat. Dazu ein glänzender Rhetoriker mit einer poetischen, beinah sakralen Aura. Der sprach wunderbar in Bildern und konnte ganze Säle in seinen Bann ziehen. Außerdem schlugen die Freudschen Themen beim Wiener Bildungsbürger ein wie eine Bombe. Man hatte anscheinend nur darauf gewartet, dass einer dieser prüden und bigotten Gesellschaft, die Neurosen am laufenden Band produziert, mal unter die bodenlangen Röcke schaut. Und Freud war der erste. Und er sprach als Arzt und Universitätsprofessor, also mit der Aura des Wissenschaftlers. Wäre er als Literat mit solchen Themen aufs Katheder gestiegen, man hätte ihn sicher verhaftet.

Wem würden Sie das Buch empfehlen?

Jedem, der Interesse hat an Psychologie und auch an europäischer Geschichte. Das Buch ist ein wunderbares Zeitgemälde, es begleitet über fast 100 Jahre das Schicksal der Familie Freud, interessiert sich auch dafür, was aus Freuds Kindern und aus seinen Enkeln geworden ist. Diese große jüdische Familie hat natürlich einiges durchgemacht in den Jahren des Zweiten Weltkrieges, das liest sich stellenweise wie ein Abenteuerroman.

Insgesamt: ein tolles Buch. Sorgfältig recherchiert, brillant geschrieben. In einem Stil, der dem Gegenstand sehr angemessen ist. Auch wenn der Inhalt des Buches Sigmund Freud wahrscheinlich auf die Palme gebracht hätte, dem Stil hätte er vermutlich applaudiert.


Eva Weissweiler: Die Freuds. Biographie einer Familie
Kiepenheuer & Witsch
320 Seiten, 22.90 Euro