Die europäischen Werte und Russland

Von Eberhard Schneider |
Russland bekennt sich in seinen Verträgen mit der EU zu den europäischen Werten Demokratie, Herrschaft des Rechts und unabhängige Rechtsprechung. Das Problem, das wir mit Russland haben, besteht darin, dass es diese Werte völlig anders interpretiert. Diese Distanz im Wertverständnis ist inzwischen so groß, dass der Eindruck einer faktischen Absage Russlands an die europäischen Werte entsteht.
Wie hält es die russische Bevölkerung mit den europäischen Werten? Mehr als Hälfte der Russen hält laut Umfragen Demokratie für die beste Staatsform, aber nur ein Viertel ist der Meinung sind, dass im heutigen Russland schon eine demokratische Staatsform entstanden ist. Fast die Hälfte der Russen möchte allerdings in naher Zukunft in einem demokratischen Staat leben. Nur rund ein Sechstel verbindet mit Demokratie die Unabhängigkeit der Medien. Demokratie ist für die Mehrheit der Russen in erster Linie ein System zur Absicherung der rechtlichen und sozialen Gleichheit und erst in zweiter Linie ein System zur Einbeziehung der Bürger in die Gestaltung des politischen Entscheidungsprozesses.

In letzter Zeit hat man von Moskau den Eindruck, als ob versucht würde, die Marktwirtschaft in einem autoritären System zu betreiben. Doch Marktwirtschaft und Demokratie gehören zusammen. Auf der einen Seite macht erst eine relativ entwickelte Marktwirtschaft Konkurrenzdemokratie als Verfahren zur innerstaatlichen Interessenaustragung leistungsfähig. Auf der anderen Seite erscheint Demokratisierung als Voraussetzung für wirtschaftliche Liberalisierung.

Versuche, die weitere wirtschaftliche Entwicklung von der politischen Transformation zu trennen, sind letztlich zum Scheitern verurteilt. Denn auf Dauer kann eine Gesellschaft nicht in verschiedene Teilbereiche zerlegt werden, die sich unabhängig voneinander entwickeln. Man kann versuchen, diese Zusammenhänge für eine gewisse Zeit zu ignorieren. Aber ab einer gewissen Größenordnung des Abstandes zwischen der Wirtschaftsordnung und dem politischen System muss sich entweder das politische dem wirtschaftlichen System anpassen oder die wirtschaftliche Entwicklung wird abgebremst. Das kann sich Russland nicht leisten, das als Großmacht, die heutzutage weitgehend ökonomisch definiert wird, auf die internationale Bühne zurückkehren will.
Wenn mit der Einführung autoritärer Tendenzen begonnen wird, können sie leicht eine Eigendynamik entwickeln. Wer will sie dann noch abbremsen, wenn sie anfangen, sich in Richtung Diktatur zu bewegen, wenn es kein demokratisches Korrektiv mehr gibt? Wer will dann wann anhand welcher Kriterien feststellen, dass die Zeit des Autoritarismus nun vorbei ist und dass zur Demokratie zurückgekehrt werden kann?

In der breiten öffentlichen Diskussion über die Wertefrage in der Russlandpolitik im letzten Jahr stritten zwei Positionen miteinander: Die einen forderten die Aufgabe der reinen Interessenpolitik mit Russland. Andere vertraten die gegenteilige Position: Das Werteproblem sollte nicht weiter vertieft werden, weil es die konkrete Zusammenarbeit erschwere.

Wenn die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland immer enger, vielgestaltiger und intensiver werden, wird nicht die EU die russische Rechts- und Wirtschaftsordnung übernehmen, sondern umgekehrt wird sich Russland der europäischen Rechts- und Wirtschaftsordnung anpassen müssen und anpassen wollen. Wenn Russland dann in diesen Teilbereichen einer Gesellschaftsordnung die europäischen Werte umsetzt, wird das Land dies über kurz oder lang auch in anderen Gesellschaftsbereichen tun.

Wenn europäische Firmen in größerem Umfang und in einem längeren Zeithorizont in Russland investieren, brauchen sie Rechtssicherheit und unabhängige Gerichte. Diese praktizierte Gewaltenteilung wird dann eine andere staatliche Gewalt stärken: das Parlament. Dieses Parlament wird, damit es seiner Funktion der Kontrolle der Exekutive wirklich nachkommen kann, demokratisch gewählt sein müssen. Dies wiederum setzt die Existenz eines Parteiensystems voraus, das die bestehenden unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen repräsentiert und vermittelt, sowie eine vielgestaltige unabhängige Medienlandschaft, die darüber berichtet und in deren Organen öffentliche Debatten geführt werden können usw.

Der Streit, ob mit Russland eine Interessen- oder eine Wertepolitik geführt werden muss, ist letztlich müßig, denn wer eine intensive Interessenpolitik betreibt, wird sich letztlich auch an gemeinsamen Werten orientieren.


Eberhard Schneider ist Russlandexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, apl. Professor Uni Siegen.