Die etwas andere Bibliothek

Von Andrea Gerk |
Jeder, der gerne liest, kennt die wohltuende Wirkung der Lektüre auf Geist und Gefühl. Die Bibliothek, Hort der Bücher, gibt es an ganz unterschiedlichen Orten. Die erfundenen Bibliotheken der Weltliteratur dagegen haben keinen Ort.
Die wohl berühmteste Bibliotheksfantasie der Weltliteratur stammt von Jorge Luis Borges, dem blinden Direktor der argentinischen Nationalbibliothek in Buenos Aires:

"Das Universum, das andere die Bibliothek nennen, setzt sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefasst sind. Von jedem Sechseck aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: ohne ein Ende."

Ein ebenso überwältigendes wie beunruhigendes Szenario entwirft Borges mit seiner phantastische Erzählung: schon räumlich wirkt die "Bibliothek von Babel" wie ein wucherndes Monstrum. Die "ungeheuer weiträumige Bibliothek" enthält keine zwei identischen Bücher, sondern eine unüberblickbare Zahl "aller möglichen Bücher". Die Menschen verbringen ihr ganzes Leben in ihr, sie bilden Gruppen und Clans, die in Anbetracht der sich ständig verändernden, unbegreiflichen Büchermenge dieser "fiebernden Bibliothek" resignieren, abstumpfen und sogar die Verbrennung aller Bücher fordern.

"Ich vermute, dass die Gattung Mensch im Aussterben begriffen ist und dass die Bibliothek fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim."

Borges surrealistisches Gedankenspiel ist zu einer Metapher für die Unendlichkeit geworden - in Kunst, Literatur und Wissenschaft. In Umberto Ecos Weltbestseller "Der Name der Rose" hat sie ihre Entsprechung gefunden:

"Der Raum hatte sieben Wände, aber nur vier davon enthielten Öffnungen, breite Durchgänge zwischen schlanken, halb in die Mauer eingelassenen Säulen, überwölbt von Rundbögen. Vor den Wänden erhoben sich mächtige Bücherschränke voller säuberlich aufgereihter Bände."

Doch die vordergründige Ordnung trügt - schon bald wird man sich in diesem Bücherlabyrinth verirren. Darin versteckt, hütet der alte, blinde Klosterbibliothekar Jorge de Burgos, dessen Name zweifellos eine Hommage an Borges ist, ein Buch, dessen Wirkung er für so ungeheuerlich hält, dass er dafür sogar bereit ist zu sterben - und zu morden.
Die geheime, gut gehütete Schrift ist Aristoteles' fehlendes "Zweite Buch der Poetik". Kein Aufruf zu Umsturz und Weltrevolution also, sondern lediglich eine theoretische Abhandlung über die Komödie und ihre erheiternde Wirkung. Doch gerade diese Kraft der Komödie, die Menschen zum Lachen zu bringen, fürchtet der alte Jorge wie der Teufel das Weihwasser. Denn das Lachen wird den Menschen ihre Angst nehmen und damit, so seine berechtigte Befürchtung, verlieren sie auch ihre Gottesfurcht. Ohne dieses äußerste Druckmittel aber, wird es überhaupt keinen Glauben mehr geben. Wenn gegen Ende von Ecos Kloster-Thriller die geheimnisvolle Bibliothek in Flammen aufgeht, zerfällt mit ihr auch der dogmatische Glaube zu Asche - und markiert den Auftakt zu einem neuen, aufgeklärten Zeitalter.

Während bei Borges und Eco die fiktiven Bibliotheken als Metaphern des Universums, bzw. des Glaubens lesbar sind, gibt es auch immer wieder literarische Bibliotheksphantasien, in denen die Bücherordnung ein Psychogramm ihres Besitzers zeichnet. In Régis de Sá Moreiras Roman "Das geheime Leben der Bücher" beispielsweise führt ein Buchhändler seinen Laden auf sehr eigenwillige Weise; er verkauft grundsätzlich nur Bücher, die er selbst gelesen hat und sogar die nur schweren Herzens. Außerdem pflegt er eine schöne Marotte:

"Wann immer er beim Lesen das Gefühl hat, dass er eine gelesene Stelle einem seiner Geschwister unterbreiten möchte, so reißt er die Stelle sogleich aus dem Buch und schickt sie ohne weiteren Kommentar an die entsprechende Person. Das beschädigte Buch legt er in einen Raum im oberen Stockwerk, der übersät ist von Exemplaren mit fehlenden Seiten."

So entsteht im Obergeschoss dieser bibliomanen Buchhandlung eine Bibliothek der beschädigten Bücher.

Derart tätliche Angriffe auf sein Allerheiligstes würde der berühmte Sinologe Kien aus Elias Canettis 1935 erschienenem Roman "Die Blendung" niemals dulden:

"Vor acht Jahren hatte Kien folgende Annonce in die Zeitung gesetzt: 'Gelehrter mit Bibliothek von ungewöhnlicher Größe sucht verantwortungsvolle Haushälterin. Nur charaktervollste Persönlichkeiten wollen sich melden. Gesindel fliegt die Treppe herunter. Gehalt Nebensache.'"

Doch der Gelehrte, der sich mit Büchern besser auskennt als mit Menschen, greift natürlich daneben. Die Haushälterin Therese Krumbholz verführt ihn zur Heirat, und da Kien den Anforderungen des Ehe-Alltags in keiner Weise gewachsen ist, flüchtet er sich in einen Bücher-Irrsinn, der im Verlauf dieses seltsam mäandernden Textes als eigentlicher Normalzustand erkennbar wird. Ein wirres, verwirrendes Werk, zu dem - so Hans Magnus Enzensberger -

"Canetti, der Anthropologe, vor wenigen Jahren den theoretischen Schlüssel geliefert (hat) - eine gelehrte Untersuchung über "Masse und Macht". Sie handelt von Häuptlingen, Führern und anderen Irren, die vom selben Wahn geblendet sind wie die Haushälterin Therese und ihr Herr: dem Wahn der Herrschaft. Die ihm ganz verfallen sind, lesen keine Bücher."

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