Die Erinnerung wach halten

12.12.2007
Die Juden bereichern im 19. und 20. Jahrhundert das gesellschaftliche Leben Deutschlands. Erst in der Weimarer Republik sind sie gleichberechtigte Bürger. Nur wenige Jahre später werden sie Opfer eines Vernichtungswahns, der alle mittelalterlichen Katastrophen in den Schatten stellt.
Es gibt Bücher, die nicht bahnbrechend Neues erzählen und dennoch besonders wichtig sind. Dieses Buch ist ein solches. Eine prachtvoll gestaltete, reich illustrierte "Geschichte der Juden in Deutschland". Ein bewegendes Buch über jene Minderheit, die gebraucht wurde und wohl gelitten war, die dann verfolgt wurde, schließlich in die bürgerliche deutsche Gesellschaft hineinwuchs und maßgeblich zur Weltgeltung deutschen Geisteslebens beitrug – bis sie plötzlich wieder Objekt grenzenlosen Hasses wurde. Was nach 1933 zerstört worden ist, weiß nur, wer sich vergegenwärtigt, was sich zuvor entfaltet hatte. Die Erinnerung daran hält dieses Buch wach.

"Soll man von `jüdischer Geschichte in Deutschland´ oder von `deutsch-jüdischer Geschichte´ sprechen?" Im ersten Satz seiner Einleitung wirft Reinhard Rürup diese Frage auf. Deutsch-jüdische Geschichte: da läge die Betonung auf der gemeinsamen Geschichte. Doch der Titel betont die Differenz. So sehr die Juden im 19. und 20. Jahrhundert mit der deutschen Gesellschaft verschmolzen – am Ende machten sie die bittere Erfahrung, dass ihre Hinwendung zu Deutschland als Heimatland nicht erwidert wurde.

"Die Geschichte der Juden in Deutschland" ist ein Sammelband mit 28 Beiträgen von (gutteils jüngeren) Historikern, einem Glossar und einer Daten-Chronik zur jüdischen Geschichte von ihren mythischen Anfängen bis in die Zeit um 1990. Die Geschichte beginnt ungefähr in der Zeit Karls des Großen, sie ist aber nur verständlich, wenn man die Entstehungsgeschichte des Volkes Israel kennt, die daher im ersten Kapitel kurz nachgezeichnet wird: wie aus einer Reihe von Stämmen ein Volk wird, das im Glauben an den einen Gott Jahwe zusammenwächst wie kein anderes Volk auf der Erde. Sie werden vertrieben, zerstreut, leben in ganz verschiedenen Welten, entwickeln sich auseinander und verlieren doch nicht ihren inneren Zusammenhalt.

In Deutschland tauchen in der Zeit Karls des Großen jüdische Händler auf, am Rhein entstehen ab dem 10. Jahrhundert erste jüdische Gemeinschaften. Die Zahl ihrer Mitglieder wächst bis Ende des 11. Jahrhunderts auf 20–25.000. Bemerkenswert: In diesen Jahrhunderten verläuft das Zusammenleben mit den Alteingesessenen weitgehend konfliktfrei. Erst die Kreuzzugspropaganda schürt eine antijüdische Stimmung in der Bevölkerung, und ab 1096 kommt es ein halbes Jahrtausend lang immer wieder zu Pogromen, Verfolgungen und Vertreibungen. Nach den Pest-Pogromen ab 1348 (die weniger von der Angst vor der Seuche als vielmehr von der Gier nach den Besitztümern der Juden angetrieben wurden) dauert es lange, bis sich neues jüdisches Leben entfalten kann.

Umso faszinierender ist die Entwicklung ab dem 17./ 18. Jahrhundert: wie der Funke der Aufklärung in der christlichen wie in der jüdischen Welt zündet; wie sich die Juden, die zuvor "in ärmlichen Verhältnissen am Rande der Gesellschaft" lebten, zur Kerngruppe des deutschen Bürgertums entwickeln; wie z. B. der Maler Moritz Daniel Oppenheim in der traditionsschweren engen jüdischen Welt aufwächst und dann ein bedeutender Künstler des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert wird. Oder wie das Frankfurter Getto-Kind Mayer Amschel Rothschild lernt, dass man mit der schnellen Bewegung des Geldes die Grundlage für Reichtum und Macht in der neuen Zeit schafft.

Auf ungeahnte Weise bereichern die Juden im 19. und 20. Jahrhundert das geistige, kulturelle, wirtschaftliche und politische Leben Deutschlands – obwohl der Prozess ihrer rechtlichen Emanzipation nur mühsam vorankommt. Erst mit der Gründung der Weimarer Republik sind sie gleichberechtigte Bürger. Unvorstellbar, dass sie wenige Jahre, nachdem sie dies endlich erreicht haben, Opfer eines Vernichtungswahns wurden, der alle mittelalterlichen Katastrophen in den Schatten stellt.

Das Buch endet mit Beispielen jüdischer Kultur in Deutschland und macht so den Verlust schmerzhaft bewusst, den die jüdische und die deutsche Gesellschaft erlitten haben. Beide gehören nach 1945 nicht mehr zusammen, auch wenn noch Juden in Deutschland leben. Das ist das Fazit dieses Buches. Die Aufgabe, die es erfüllen will, hat Reinhard Rürup in seiner Einleitung so formuliert: "Dem Tod der Menschen darf nicht der Verlust ihrer Geschichte folgen. Deshalb ist die Aufarbeitung dieser zu Unrecht vergessenen Geschichte und ihre Vermittlung an ein breites Publikum eine dringende und notwendige Aufgabe."

Es wäre gut, wenn dieses Buch in allen Schulbibliotheken stünde und in jedem Haushalt in Deutschland gelesen würde.

Rezensiert von Winfried Sträter

Arno Herzig / Cay Rademacher (Hg.):
Die Geschichte der Juden in Deutschland

Verlag Ellert & Richter, Hamburg 2007
352 Seiten, 29,95 Euro