"Die Erde kommt ohne diese Arten aus"

Lothar Frenz im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 25.07.2012
Um an ganz wunderbare Tiere zu erinnern, die bis gerade eben noch da waren, hat der Biologe Lothar Frenz Geschichten zum Artensterben zusammengetragen. "Lonesome George" heißt es - nach der kürzlich verstorbenen letzten Galapagos Pinta-Riesenschildkröte.
Stephan Karkowsky: 100 Jahre alt wurde Lonesome George, das letzte Exemplar der Pinta-Riesenschildkröten auf den Galapagosinseln. Was hat man nicht alles versucht, um seine Gene nicht ganz zu verlieren: Auch Paarungen mit anderen Arten, aber nichts hat richtig funktioniert. "Lonesome George", so hat der Biologe und Journalist Lothar Frenz auch sein Buch genannt über das Verschwinden der Arten. Herr Frenz, guten Morgen!

Lothar Frenz: Guten Morgen, Herr Karkowsky!

Karkowsky: Tauben, Frösche, Schildkröten – Sie porträtieren eine Riesenzahl von ausgestorbenen Arten und liefern auch die vielfältigen Gründe für das Artensterben mit. Warum ist denn die Art von Lonesome George eigentlich ausgestorben, diese Pinta-Schildkröte?

Frenz: Die Riesenschildkröten von Galapagos, die wurden ja in den letzten Jahrhunderten von Walfängern vor allem als lebende Konservendosen mitgenommen. Das war die Hauptursache, warum auf allen Galapagosinseln die Zahl der Schildkröten drastisch zurückging. Und dann haben die ganzen Seefahrer noch Ziegen und Hunde und Esel ausgesetzt, die haben die Vegetation weggefressen beziehungsweise die ganzen Gelege der Schildkröten zerstört. Und deswegen, ja, sind fast alle Galapagosschildkröten vom Aussterben bedroht gewesen.

Karkowsky: Ihr Buch ist ein ganz wunderbares Lesebuch geworden, weil Sie eben nicht nüchtern, knapp, sondern spannend und anekdotisch erzählen. Ein paar dieser Geschichten wollen wir gleich noch hören, aber ich springe zunächst mal an den Schluss des Buches. Da berichten Sie von einer immer wieder gehörten Frage, nämlich: Wozu braucht man überhaupt diese und jene Art, was also ist so schlimm am Aussterben von Lonesome George, wo es doch noch viele andere Unterarten der Riesenschildkröte gibt?

Frenz: Ja, wozu braucht man denn eigentlich den HSV? Was ich damit meine, ist, man kann alle möglichen nützlichen Aspekte aufzählen, warum Arten bestehen bleiben sollen. Ein wichtiger Aspekt, der aber immer wieder ein bisschen zu kurz kommt, ist, dass es einfach Menschen gibt, die Freude daran haben, dass diese Arten da sind, genau so wie Menschen Freude haben, dass der eine oder andere Fußballverein da ist. Die Freude ist genau die gleiche. Und das ist auch eine Berechtigung dafür.

Karkowsky: Aber die Erde kommt auch ohne diese Arten aus?

Frenz: Die Erde kommt ohne diese Arten aus. Der Erde, der Natur ist es völlig egal, ob diese Arten da sind oder nicht.

Karkowsky: Sie sind dann also nicht Moralist, sondern Beobachter?

Frenz: Genau. Ich habe versucht, die Geschichten zu erzählen, wie sie passiert sind, und eben nicht mit dem moralischen Zeigefinger daherzukommen. Meine Haltung ist ganz klar: Ich liebe es, dass diese Arten da sind, und möchte nicht, dass sie verschwinden. Aber ich glaube, die Geschichten alleine, wenn man sie erzählt, und gerade auch in der Fülle, wie sie in diesem Buch sind, die ergeben dann schon das Bild, dass man merkt, wenn diese Tiere und Pflanzen ja auch verschwunden sind, dass dann etwas fehlt, dass es eintöniger wird auf dieser Welt.

Karkowsky: Stimmt es denn, dass der größte Teil aller jemals auf Erden lebenden Arten längst ausgestorben ist?

Frenz: Es heißt, 99 Prozent aller Arten seien schon ausgestorben in der Weltgeschichte, die ja allein schon vier Milliarden Jahre beträgt. Das letzte große Massensterben war das der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren, und dann sind immer wieder neue Arten entstanden. Und was heute noch da ist, ist ja immer noch ganz viel. Aber über diese ganze lange Zeitspanne hinweg gesehen, sind die meisten schon verschwunden.

Karkowsky: Halten Sie das für den natürlichen Lauf der Dinge?

Frenz: Ja, als Biologe sage ich, es gehört zum natürlichen Lauf der Dinge, dass Arten verschwinden. Sie können zum einen in andere neue Arten übergehen oder sie können ganz aussterben, keine Nachfolgearten hinterlassen.

Karkowsky: Welche Rolle spielt dabei der Mensch? Können Sie das am Beispiel der Wandertaube erklären, über die es ein ganz wunderbares Kapitel gibt in Ihrem Buch?

Frenz: Die Wandertaube war bis vor 200 Jahren, kann man sagen, der häufigste Vogel der Erde. Heute kennt ihn kaum noch jemand. Der ist in riesigen Schwärmen durch Nordamerika gezogen, Schwärme von Milliarden, die über Stunden und Tage den Himmel verdunkelt haben. Wenn die eingefallen sind, sind überall im Wald die Äste abgebrochen und der Boden war mit Exkrementen bedeckt. Und als die weißen Siedler kamen, haben die die Wandertauben als billiges Fleisch genutzt, in Massen abgeschossen und überhaupt gar nicht damit gerechnet, dass diese Fülle einmal zu Ende sein könnte. Aber dann sind die Bestände zusammengebrochen und 1914 ist die letzte Wandertaube einsam im Zoo von Cincinnati gestorben.

Karkowsky: Und hat sie Folgen hinterlassen? Der Verlust der Wandertaube, gibt das ein ökologisches Nachspiel?

Frenz: Das ist eine interessante Frage, weil, ich habe dazu nichts gefunden. Was auch damit zu tun haben kann, dass, nachdem die Tauben gegangen waren und verschwunden sind, sind auch die ganzen Wälder abgeholzt worden an der amerikanischen Ostküste, in denen die Tauben hauptsächlich gelebt haben. Sodass der eigentliche Lebensraum der Tauben und die Tauben, die in dieser Fülle nur von diesen Wäldern leben konnten, auch nicht mehr da war.

Karkowsky: "Lonesome George", so heißt das Buch des Biologen und Journalisten Lothar Frenz, über das wir mit ihm selbst sprechen. Herr Frenz, eines der bekanntesten Beispiele für das Artensterben hängt zusammen mit dem Nilbarsch im afrikanischen Victoriasee. Dieser Räuber, ausgesetzt von Menschenhand, hat den halbe See leer gefressen, zahlreiche Arten des einheimischen Buntbarsches für immer vernichtet. Sie beschreiben auch das sehr anschaulich. In Ihrem Buch erfahre ich, dass sich der See langsam wieder erholt von diesem Kahlfraß und dass sogar neue Buntbarscharten auftauchen?

Frenz: Also, zunächst mal gab es unvorhergesehene ökologische Folgen. Mal haben sich Krebse mehr vermehrt, mal Fliegen, weil die ganzen Buntbarsche, die sehr spezialisiert waren, verschwunden waren, aufgefressen von diesem Nilbarsch. Auch die Nilbarschzahlen haben wieder abgenommen, zum Teil weil er überfischt wurde, zum Teil aber auch, weil dort die Bestände dann zusammengebrochen sind.

Jetzt ist es so, dass man feststellen kann, dass sich die verbliebenen Buntbarsche wieder erholen, dass sie an der Zahl wieder mehr werden und dass sich wieder die verbliebenen Arten ändern. Die passen sich an den Nilbarsch an in einem, ja, unglaublichen Tempo. Was aber auch damit zusammenhängt, dass diese Fülle im Victoriasee, die vorher bestand, dass die sowieso in einem relativ kurzen Zeitraum von 12.000 bis 15.000 Jahren entstanden ist, was in evolutionären Gesichtspunkten her sehr, sehr wenig ist. Und das kann man jetzt weiter beobachten.

Karkowsky: Heißt das, dass das Eingreifen des Menschen nicht automatisch zum Aussterben der Arten führen muss, es kann auch sein, dass die Natur sich wieder erholt?

Frenz: Also, dort hat es erst mal zum Aussterben von Hunderten von Fischarten geführt. Die Natur hat sich immer wieder erholt bei den ganzen Massenaussterben, die es auf der Erde gab, das letzte eben das der Dinosaurier. Jetzt im Victoriasee ist es eine Ausnahme, dass sich Wirbeltierarten so schnell wieder erholen. Normalerweise sind das Zeiträume von Hunderttausenden oder Millionen von Jahren. Und diese Fische – das ist das Spannende an denen –, die haben ein ungeheures Evolutionstempo.

Karkowsky: Sie erzählen auch an anderer Stelle, wie intelligent die Natur entstandene Lücken füllt am Beispiel einer Insel namens Funk Island.

Frenz: Funk Island, ja, war die letzte große Kolonie der Riesenalke. Das waren pinguinähnliche Vögel auf der Nordhalbkugel, die von Seefahrern abgeschlachtet wurden wegen ihres Fettes, ihres Fleisches, aber auch, um aus den Federn Matratzen herzustellen. Und in kürzester Zeit ist dort diese letzte Kolonie verschwunden. Und das war ein Felsen, der war wirklich ganz blank und die Männer haben die Kadaver dort hinterlassen. Diese Kadaver sind verrottet und heute ist dort, wo diese Kadaver verrottet sind, sind ein paar Flecken Erde auf dieser Insel, und in dieser Erde können diese Papageientaucher, diese lustigen, melancholisch blickenden Vögel brüten, die es da wahrscheinlich vorher nicht gab, weil die Erde zum Brüten brauchen.

Karkowsky: Die herkömmliche Definition einer Art, auch darüber machen Sie sich Gedanken, ist so etwas wie eine Fortpflanzungsgemeinschaft, aus der fruchtbare Nachkommen entstehen können. Gilt diese Definition eigentlich noch?

Frenz: Kein Wissenschaftler kann wirklich sagen, was genau eine Art ist. Es gibt einfach so viele Sonderfälle. Ein Beispiel ist jetzt gerade – auch im Zuge des Klimawandels kann man das gut sehen –, dass der Eisbär nicht nur bedroht ist, weil das Eis schmilzt und der Lebensraum schwindet, aber auch, weil die Grizzlybären immer weiter nach Norden wandern und die Eisbären an die Küste gedrängt werden. Dort treffen sie sich, man hat zunehmend in den letzten Jahren Mischlinge zwischen denen gefunden der ersten und zweiten Generation. Man dachte, es sind getrennte Arten, die sich nicht fortpflanzen, aber sie pflanzen sich unter natürlichen Bedingungen fort. Sodass es wirklich keine hundertprozentig eindeutige Definition für den Artbegriff gibt.

Karkowsky: Dann bleibt mir zum Schluss zu fragen, ob wir uns eigentlich Sorgen machen sollten? Sie haben so viele Geschichten gesammelt über aussterbende Arten, Tiere und Pflanzen, dass sie damit ja quasi selbst eine Arterhaltung betreiben, zumindest eine schriftliche. Reicht es, dass der Mensch von diesen Verlierern der Evolution weiß? Wenn die alle zurückkehren würden, würde ja Chaos auf der Erde herrschen?

Frenz: Sie haben jetzt ja nicht verloren in der Evolution, weil sie dem Leben auf dieser Erde nicht mehr gewachsen waren, sondern sie waren dem Menschen nicht gewachsen, den Gewehren, die plötzlich da waren, oder dem schnellen Tempo der Veränderung, das gerade auf der Erde stattfindet. Und ich glaube, das ist etwas, das muss der Mensch, müssen wir entscheiden: Wie soll denn diese Erde aussehen? Soll sie mcdonaldisiert sein mit Arten, überall auf der Welt ähnlich, die dem Menschen nützen oder einfach Generalisten sind wie Ziegen, Ratten, Schweine? Oder wollen wir auch noch wirklich spezielle Tiere haben, die interessante Lebensgeschichten haben? Und mir war es wichtig, in diesem Buch ein paar dieser Geschichten zu erzählen, weil es einfach ganz wunderbare Tiere sind, die bis gerade eben noch da waren, und man ist schon dabei, sie zu vergessen!

Karkowsky: Um noch mal auf Lonesome George zurückzukommen, der ja bestimmt nie vergessen wird: Wie wenige Menschen gibt es wohl, die seine Art erkannt hätten, und wie viele, die einfach nur gesagt hätten: Guck mal, eine Schildkröte!

Frenz: Gute Frage! Natürlich muss man schon Spezialist sein, um Lonesome George von anderen Riesenschildkröten zu unterscheiden. Lonesome George war einfach so ein typisches Flaggschiff des Naturschutzes mit einer bewegenden Geschichte, einem tollen Namen, dieser Einsamkeit und der Suche nach diesem Weibchen. Und dafür ist er ja auch zu Recht genutzt worden.

Karkowsky: "Lonesome George", so hat der Biologe und Journalist Lothar Frenz auch sein Buch genannt über das Verschwinden der Arten. Erschienen ist es im Rowohlt Verlag. Herr Frenz, danke für das Gespräch!

Frenz: Danke, Herr Karkowsky!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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