Die Entwestlichung Deutschlands

Von Jacques Schuster |
Das deutsche Wesen trägt die Signatur eines ewigen Frühlings, in der Gebärde des Erwachens und Zu-sich-selber-Kommens nach Jahrhunderten der Überfremdung und Selbstentfremdung, der Empörung aus untergründiger und gestaltloser Tiefe", schrieb der Philosoph Helmuth Plessner in seiner Studie über die "Verspätete Nation". Dann und wann fühlt man sich heute daran erinnert. Erneut ist ein unruhiger Geist in der Gesellschaft zu spüren. Er ist voll von nostalgischer Sehnsucht nach einer anderen Zukunft in anderen Bündniskonstellationen oder – im Notfall – allein bei sich selbst.
Deutschland entwestlicht sich, schleichend zwar und auf leisen Sohlen, dafür aber beständig. Offenbar trafen die Westbindung durch die USA, ihre Amerika-Häuser, die 15 Millionen Bücher, die ihre Schiffe schon 1944 nach Europa trugen, ihre Zeitschriften wie der "Monat" und andere Kultureinrichtungen nur das Gemüt jener Generation, die des Krieges müde war und gelernt hatte, was es bedeutet zwischen Ost und West hin- und herzupendeln, fortwährend die eigene Identität suchend.

Diese Generation der Willy Brandts und Helmut Kohls, der Otto Graf Lambsdorffs und Helmut Schmidts aber geht dahin; und mit ihr die Überzeugung, selbst Teil des Westens zu sein.
Je schwächer sie wird, desto häufiger erheben sich die Gespenster der Vergangenheit. Der amerikanische Deutschlandkenner Fritz Stern – alles andere als ein Neocon – nahm sie jüngst wieder wahr. In seinen Erinnerungen beklagt er den fortdauernden "Kulturpessimismus als politische Gefahr. "Die Revolte gegen ‚den Westen’ mit seinem vermeintlichen Materialismus und seiner angeblich geistigen Leere, verbunden mit hegemonialer Arroganz, hat um sich gegriffen", schreibt Stern. Tot geglaubte Bekannte der Zwischenkriegszeit tauchen wieder auf. Attackierten einst Kulturkritiker wie Arthur Moeller van den Bruck und Julius Langbehn, aber auch Thomas Mann den Liberalismus als Grundübel der Gesellschaft, so beschimpft ihn heute eine Mehrheit in Politik und Publizistik als "Neoliberalismus", der ähnlich wie die Neokonservativen oder Neonazis nur Böses bringe. Wieder steht er für alles, was Angst auslöst: das Manchestertum, die Globalisierung und die Kälte der Gesellschaft. Keiner seiner Kritiker nimmt wahr, dass gerade der "Neoliberalismus" das Gegenteil dessen verheißt, was Manchestertum bedeutet.

Die Väter des Neoliberalismus traten nach den Erfahrungen der kommunistischen und faschistischen Diktatur für einen schlanken, aber starken Staat ein, der die Kraft hat, Sonderwünschen zu widerstehen. Nach Alexander Rüstow und Walter Eucken, deren Ideen Ludwig Erhard umsetzte, sollte das Gemeinwesen im Neoliberalismus der Heuschrecke gerade nicht das Feld überlassen, sondern über der Wirtschaft stehen und als Schiedsrichter über den Wettbewerb wachen. Den Vordenkern des Neoliberalismus, der sich 1938 in Paris formierte, ging es um die Suche nach einer Wettbewerbsordnung, die niemandem Vorzüge gewährt, sondern Möglichkeiten für alle schafft - eben der sozialen Marktwirtschaft. Oskar Lafontaine, Franz Müntefering und Kurt Beck müssten es wissen.

Sie aber schielen auf die Stimmung im Land und die abnehmende Bedeutung der Freiheit für die Bevölkerung, die in den übrigen westlichen Ländern seit Jahren ungebrochen an der Spitze der Werteskala liegt und der Hauptwesenszug der Westlichkeit ist.

Seit Beginn der Neunzigerjahre verliert die Freiheit zugunsten der Gleichheit und sozialen Sicherheit in den Umfragen beständig an Boden. Den Einwand, die Deutschen träten eben nicht für das ein, was sie schon hätten, konnte die Allensbach-Chefin Elisabeth Noelle-Neumann mit Blick auf die westlichen Nachbarn entkräften. In den alten Demokratien "wird der Wert der Freiheit nicht etwa geringer, sondern höher geschätzt als in Deutschland". Zwar haben sich die Zahlen seit einiger Zeit wieder verbessert, auf den Stand von vor 1989 aber kamen sie nicht mehr zurück.

Die Lehren daraus deuten sich bereits an. Über kurz oder lang wird die Linksunion, das Bündnis zwischen Sozialdemokraten, den Kommunisten und den Grünen, einer Mehrheit der Deutschen hinnehmbar erscheinen. Das mag noch nicht in der nächsten Legislaturperiode geschehen, aber es wird kommen. Außenpolitisch wird das Land hin- und herschwanken, unberechenbarer werden und der Welt durch lautstarken moralischem Rigorismus auffallen.

1877 schrieb Fjodor Dostojewski von "Deutschland, dem protestierenden Reich". Dieser Worte wird man sich erinnern. Möge die Vernunft verhindern, dass auch seine weiteren Ansichten ins Gedächtnis zurück kehren: "Der charakteristischste, wesentlichste Zug dieses großen, stolzen und besonderen Volkes bestand schon seit dem ersten Augenblick seines Auftretens in der geschichtlichen Welt darin, dass es sich niemals, weder in seiner Bestimmung noch in seinen Grundsätzen, mit der westlichen Welt hat vereinigen wollen."


Jacques Schuster, 1965 in Berlin geboren, studierte Geschichte und Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. Von 1994 bis 1997 war er regelmäßiger Autor der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der "Süddeutschen Zeitung" und des "Tagesspiegels". Von 1998 bis 2006 leitete Schuster das Ressort Außenpolitik bei der ‚Welt’, jetzt ist er Mitarbeiter der "Literarischen Welt". 1996 erschien sein Buch "Heinrich Albertz – Ein Mann, der mehrere Leben lebt".