Die enttäuschte Treuherzigkeit

Von Wolfgang Sofsky |
Souverän ist, wer für die Zukunft Verantwortung übernimmt. Obwohl niemand den Fortgang der Ereignisse wissen kann, sind Menschen ständig damit beschäftigt, Überraschungen auszuschalten und die Freiheit, diese unerschöpfliche Quelle der Unsicherheit, auszutrocknen. Dennoch ist das Kardinalproblem der sozialen Existenz nicht zu lösen. Souveränität ist eine seltene Gabe.
Kaum einer ist imstande, sich auf sich selbst zu verlassen. Zu Selbstvertrauen besteht nur wenig Grund. Die Folgen seines Tuns vermag der Mensch weder zu überblicken noch gar im voraus zu steuern. Er ist weder Herr im eigenen, geschweige denn im fremden Haus. Ein Abgrund klafft zwischen den Menschen: die Freiheit des einzelnen, jederzeit anders handeln zu können, als man es von ihm erwartet hat.

Im Meer der Ungewissheit sind Versprechen Inseln sozialer Sicherheit. Wer etwas verspricht, bindet sich selbst. Er verzichtet auf seine Freiheit und schenkt dem anderen Gewissheit. Er kündigt nicht nur an, was er tun wird. Er verpflichtet sich, auch unter Umständen, die er unmöglich voraussehen kann, seine Zusage einzuhalten. Der Bund der Ehe gilt für gute und schlechte Zeiten, das Band der Freundschaft überdauert auch kritische Episoden. Wer seine Ehre verpfändet, sagt, was er will; und er tut, was er sagt. Diese Unterwerfung unter das eigene Wort erspart anderen die Anwendung von Zwang. Macht sucht die Freiheit einzuschränken, um die Welt berechenbar zu machen. Sie ist das wirksamste Instrument zur Ordnung und Orientierung. Das Versprechen indes ist freiwillige Selbstbeherrschung. Es offeriert einen Vertrag zum gegenseitigen Vorteil: „Hältst Du Dich an Deine Verpflichtung, so halte ich mein Versprechen.“ Jeder Vertrag, sei es unter Geschäftsleuten, Ehepartnern oder Diplomaten, beruht auf der bindenden Kraft des Versprechens. Verträge sind einzuhalten, sagt ein altes Gebot. Wer sie bricht, verliert jeden Kredit. Man kann nicht mehr weiter mit ihm handeln, weil er jede Selbstbeherrschung, jede Souveränität eingebüßt hat.

In politischen Angelegenheiten gelten Versprechen wenig. Hier regiert nicht das Vertrauen, sondern das Interesse, nicht der Vertrag, sondern das Gesetz der Macht. Versprechen sind hier nur ein Mittel für die taktischen Manöver des Machterwerbs und Machterhalts. Treue oder Zustimmung erlangt der Amtsinhaber durch Vergünstigungen für die eigene Gefolgschaft, nicht durch Verlässlichkeit oder gar Glaubwürdigkeit. Obwohl viele Politiker das Wort von der Verantwortung fortwährend im Munde führen und sich als Sachwalter der Zukunft aufspielen, zählt in den öffentlichen Machtspielen kein Eid und kein Ehrenwort.

Argwohn bestimmt die Politik. Demokratie ist nichts anderes als institutionalisiertes Misstrauen. Zweifel ist die erste Bürgerpflicht. Der Opposition ist aufgetragen, Versprechen der Regierung in keinem Falle Glauben zu schenken. Die Judikative hat die Entschlüsse der Exekutive zu überwachen, um Machtmissbrauch zu unterbinden. Aber auch die herrschende Elite wird von Misstrauen regiert. Intrigen, Finten, Lügen durchziehen die Kabinette und Fraktionen. Ehrgeizige Kronprinzen, Landesherren und Sekretäre streben nach dem Thron des Chefs. Rivalitäten zwischen Veteranen und Emporkömmlingen unterhöhlen den Behördenapparat. In den Parteien verteilen Seilschaften Posten und Pfründe. Nur gutgläubige Neulinge nehmen Beteuerungen für bare Münze. Im täglichen Machtkampf täuschen Versprechen Sicherheit nur vor. Politik ist keine moralische Anstalt, sondern ein Machtfeld, auf dem Moral lediglich als rhetorische Waffe taugt.

Besonders beliebt sind Versprechen während der Wahlkampagnen. Um Stimmen zu erlangen, verkünden Parteien Leitsätze und Programme. Sie versprechen Geld und Geschenke, Gerechtigkeit und Sicherheit, Solidarität und Wohlstand, Arbeit und Brot. Und wenn nichts mehr zu verteilen ist, geloben sie zumindest, dem Volk endlich die Wahrheit zu sagen. Der kritische Bürger vernimmt es mit Verdruss, denn er weiß, dass Beteuerungen nichts wert sind. Wahlversprechen sind dazu da, gebrochen zu werden. Ihre öffentliche Verkündung ist eine Beleidigung der Urteilskraft. Jedermann weiß, dass es nichts als leere Versprechen sind. Sie werden mit dem Vorsatz abgegeben, nicht erfüllt werden zu müssen. Im Besitz der Macht braucht keine Regierung für die Zukunft Verantwortung zu übernehmen.

Die Klage über die Verdrossenheit des Wahlvolks ist weit verbreitet. Doch nicht die fehlende Glaubwürdigkeit der politischen Klasse ist das Problem, sondern die enttäuschte Treuherzigkeit vieler Wahlbürger. Sie sind verstimmt, weil sie den Versicherungen nur zu gern glauben möchten, weil sie Politik insgeheim für eine Veranstaltung zum öffentlichen Wohl halten. Noch immer suchen sie Beweise für Ehre und Ehrlichkeit, nach Garantien für die Zukunft. Sie übertragen ihre privaten Ansprüche auf das politische Personal. In den Amtsträgern sehen sie keine angestellten Treuhänder mit widerrufbarem Auftrag zur Versorgung mit öffentlichen Gütern. Sie wünschen sich glaubhafte Leitfiguren, denen sie folgen und an die sie glauben können. Begierig saugen sie jede Geste, jede Nachricht aus dem Privatleben der politischen Prominenz auf, um weiter vertrauen und hoffen zu dürfen. Doch Hoffnung ist nur Mangel an Information. Die Sehnsucht nach Glaubwürdigkeit beruht auf einer Verwechslung. Sie beurteilt Politik nach den Maßstäben des Privatlebens. Nicht nach Leistung, nach Sympathie wird gewählt. Anstatt das politische Personal wegen Unfähigkeit zu entlassen, wechselt man nur von einer Allerweltspartei zur anderen. Alle versprechen sie, was keiner halten und woran niemand ernsthaft glauben kann. So wäre es nur konsequent, wenn im Wahlkampf dieser Tage vollständig auf jedes Programm und jedes Versprechen verzichtet würde. Die Politik käme endlich dort an, wo sie hingehört. In einer Gesellschaft, welche ihre Zukunft hinter sich hat, ist Politik nur noch ein Hohlraum organisierter Verantwortungslosigkeit. Hier bekundet einzig das Schweigen noch innere Souveränität.

Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: „Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager“ (1993), „Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition“ (mit Rainer Paris, 1994) und „Traktat über die Gewalt“ (1996). 2002 erschien „Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg“, und zuletzt der Band „Operation Freiheit. Der Krieg im Irak“.