Die Entstehung des modernen Menschen

22.07.2012
Lebendig und anschaulich erzählt der englische Bestsellerautor Brian Fagan von unseren direkten Vorfahren, den "Cro-Magnon-Menschen". Seite an Seite lebten sie mit den Neandertalern und boten der Wildnis am Ende der Eiszeit einzig durch Intelligenz die Stirn: ein fesselndes Buch.
Als Europa noch baumlos war und Rentierherden über die endlos weite Tundra zogen, als der Norden von Gletschereis bedeckt und die Winter lang und kalt waren, zu dieser Zeit vor über 40.000 Jahren teilten sich unsere Vorfahren das Land mit den Neandertalern. Von dieser Zeit, als die ersten modernen Menschen aus Afrika über den Nahen Osten nach Europa zogen, berichtet der Anthropologe und Archäologe Brian Fagan in seinem Buch "Cro-Magnon".

Die Geschichte, die Brian Fagan rekapituliert, umfasst mehrere zehntausend Jahre und endet nach der letzten Eiszeit vor etwa 12.000 Jahren. Was die Archäologen seit Generationen in mühevoller Kleinarbeit aus metertiefen Bodenschichten über diese Zeit wieder ans Licht gegraben haben, sind vor allem Steinwerkzeuge, haufenweise Knochen und Felsmalereien. Sie lassen erkennen, wohin die Menschen damals gewandert sind, was sie gejagt und welche zunehmend geschickten Techniken der Steinbearbeitung sie entwickelt haben.

Aber über ihre Kultur und ihren Alltag ist fast nichts bekannt: Welche Rituale, Gesänge, Festlichkeiten pflegten sie? Wie viel Wert legten sie auf Körper- und Kleiderschmuck? Wie verlief das Zusammentreffen der alteingesessenen Neandertaler mit den ersten anatomisch modernen Menschen? Worin unterschieden sie sich? Und warum war die Neandertaler - das "stumme Volk", wie Brian Fagan sie nennt - am Ende dieser zehn bis 15.000 Jahre dauernden Überlappungsphase verschwunden?

Besonders dieses Aufeinandertreffen alter und neuer Menschen steht im Zentrum des Buches. Brian Fagan kommt zu dem Schluss, dass die geistigen Fähigkeiten der Neandertaler denen der Homo sapiens unterlegen waren. Die Neandertalerkultur, die 170.000 Jahre lang stabil existiert hatte, ging zugrunde an mangelnder Innovationsfähigkeit und fehlender Sprachbegabung. Das sehen manche Forscher heute anders. Sie halten die Neandertaler durchaus für sprachbegabt.

Wie spekulativ die Arbeit der Archäologen ist, wird auch in Brian Fagans Buch immer wieder deutlich. In seinen Text flicht er Beschreibungen von imaginierten Jagd- und Alltagsszenen. Die konkreten aber fiktiven Schilderungen stehen im Kontrast zu vielen kritischen Fragen, bei denen er nicht verhehlt, wie unklar die Antworten auf sie sind. Oft gibt es nur mehr oder weniger plausible Vermutungen: Wie erwarben wir unsere kognitiven Fähigkeiten? Was wissen wir über die Entstehung von Homo sapiens in Afrika? Wie zuverlässig sind die Datierungsmethoden der Forscher?

Dank seiner kritischen Grundhaltung und den reichlich vorhandenen Fundbeschreibungen ist "Cro-Magnon" eine beachtenswerte Lektüre. Ein fesselndes Buch, das man bis zur letzten Seite nicht mehr aus den Fingern geben will, ist es nicht. Dafür verliert es sich mitunter in zu vielen Details.

Aber es bietet einen soliden Blick in die Zeit, in der sich die Menschenaffen zum Homo sapiens entwickelten und beleuchtet dabei vor allem auch die Rolle des Klimas und großer Katastrophen für die Entstehung des modernen Menschen.

Besprochen von Gerrit Stratmann

Brian Fagan: Cro-Magnon. Das Ende der Eiszeit und die ersten Menschen
Aus dem Englischen übersetzt von Bettina von Stockfleth
Theiss Verlag, Stuttgart 2012
288 Seiten, 29,95 Euro
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