"Die Entführung aus dem Serail" in Genf

Verblüffende Abgründe in Mozarts Singspiel

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Das Foto zeigt eine Szene aus der Neuinzenierung von Mozarts Oper "Die Entführung aus dem Serail". Zu sehen sind einige der Hauptdarsteller.
Erfahrung von Fremdheit, Verlorenheit und Migration im Mittelpunkt: "Die Entführung aus dem Serail", inszeniert von Luk Perceval und Asli Erdogan an der Oper in Genf. © Carole Parodi
Von Bernhard Doppler · 22.01.2020
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Kann man der "Entführung aus dem Serail" noch neue Seiten abgewinnen? Ja, meint der Kritiker Bernhard Doppler nach der Inszenierung von Luk Perceval in Genf. Das Libretto von Asli Erdogan macht aus Mozarts Oper die Geschichte einer Migrantin.
Eine moderne hektische Großstadt, vielleicht Genf, ist der Schauplatz. Die Bühne ein Holzgerüst, das sich fast ständig dreht, und um das Großstadt-Passanten meist eilig laufen. Denn das Serail an der türkischen Küste, in der in Mozarts Oper Selim Bassa seine Sklavinnen hält, gibt es in der Inszenierung von Luc Perceval nicht. Auch Selim Bassa tritt nie auf. Wenn er – ein autoritärer Politiker wohl - im Chor gepriesen wird, dann schwenken die Passanten große Fahnen.
Dafür treten den Sängern aus Mozarts Oper Sprechfiguren entgegen. Es sind alt gewordene alter Egos der Opernfiguren, die mit der eigenen Jugend und der eigenen Lebenseinstellung hadern. Old Belmonte als Schauspieler hadert mit dem Sänger Belmonte, Old Osmin, ein Penner im Rollstuhl vergleicht sich mit dem brutalen jungen Osmin und eine alt gewordene Migrantin denkt an ihr früheres Leben, als sie als Blondchen oft aus Verzweiflung in sexuelle Abenteuer flüchtete und glücklich zu sein glaubte.

Nicht nur Komik, auch Einsamkeit und Todeswunsch

Eine solche Verdoppelung der Figuren in Sprech- und Gesangspartien ist nicht neu, eine legendäre Inszenierung von Hans Neuenfels hat das bereits 1999 gemacht. Doch Luc Perceval hat Mozarts Singspiel vor allem neu getextet. Ausgangspunkt ist der teils biografische Roman der kurdischen Physikerin, Journalistin und Schriftstellerin Asli Erdogan "Der wundersame Mandarin", der in Genf spielt. Dort hatte Asli Erdogan, 24-jährig, am europäischen Kernforschungsinstitut CERN als einzige Türkin in einem Team von 40 französischsprachigen Männern gearbeitet.
Szenenfoto aus der Neuinszenierung von "Die Entführung aus dem Serail" an der Oper Genf, Das Foto zeigt einige der Darsteller und Sänger auf der Bühne.
Die Exotik des Genres Türkenoper ist ausgeklammert in der Perceval-Erdogan-Fassung von Mozarts Werk.© Carole Parodi
Einen vordergründig politischen Text stellt das Libretto der 2016 verhafteten, im Gefängnis gefolterten und nun im Exil in Deutschland lebenden Autorin allerdings nicht dar. Die Aufführung greift viel tiefer: In der Tat geht es in Mozarts Singspiel wohl nur vordergründig um Komik und Intrigen, sondern durchaus auch um Einsamkeit, um Sich-Selbst-Fremdsein, um Verzeihen, um Suchen nach dem vermeintlichen Glück einer verlorenen Beziehung und vor allem immer wieder – wie übrigens auch in der Zauberflöte – um Todeswunsch und um Selbstmord. Die Exotik der Türkenoper ist dagegen in Perceval-Erdogans Fassung konsequent ausgeklammert. "Allmählich wuchs die Migrantin in mir auf", erzählt Old Blondchen, "aber die Hölle war weder mein Land, wo ich herkomme, noch das Land wo ich war, sondern ich habe sie in mir selber getragen."

Teils heftige Buhrufe aus dem Premierenpublikum

Auch musikalisch wird dieses Konzept von Fabio Biondi und dem Orchestre de la Suisse Romande mitgetragen, nicht nur weil die Nummern der Oper etwas umgestellt sind und statt des ursprünglichen Finales (einer lustvollen Ekloge auf Selim Bassa) die Genfer Aufführung mit Mozarts Lied "Ich würd´auf meinem Pfad der Tränen" schwermütig ausklingt. Ein ruhiger, reflektierender Gestus bestimmt allgemein die Musik. Selbst Ausbrüche von Blondchen - "Welche Wonne, welche Lust" oder "Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln" - werden eindrucksvoll in fast verzweifelter Einsamkeit (Claire de Sevigne) vorgeführt. Ernst und Nachdenklichkeit bestimmt sogar auch die Koloraturen der unstet umhergehenden Konstanze (Olga Pudova); und auch Julien Behr ist ein fast rauher schwermütiger, aber durchaus bestimmter junger Belmonte.
Im Premierenpublikum entlud sich die Irritation über die ungewöhnliche Sicht auf Mozarts Singspiel in teils heftigen Buhrufen. Doch die Genfer Entführung macht Mozarts Werk verblüffend abgründig und existentiell. Im Mittelpunkt eine Erfahrung von Fremdheit, Verlorenheit und Migration, die dabei auch musikalisch die fast ein halbes Jahrhundert später aufgeführte "Winterreise" von Franz Schubert vorwegzunehmen scheint.
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