Die enormen Leistungen Ost-Roms

Judith Herrin zeigt in ihrem Buch durch eine Fülle von Fallbeispielen, wie die hohe politische und strategische Intelligenz von Byzanz Westeuropa jahrhundertelang geschützt hat. Unser schlechtes Byzanzbild gehe auf die Zeit der Kreuzfahrer zurück, meint sie.
Seit Jahrzehnten arbeitet sie dafür, dass der Beitrag, den Byzanz für das, was wir unter Europa verstehen, im Westen endlich Anerkennung findet.

So wie im 20. Jahrhundert der Eiserne Vorhang Europa in zwei miteinander verfeindete Hälften spaltete, entwickelte sich im Mittelalter, nach der Teilung des imperialen Rom zwischen der westlichen und der östlichen Machthemisphäre, ein tiefsitzender Antagonismus, dessen Feindbilder noch immer virulent sind. Mit der systematischen Brandschatzung und Plünderung von Byzanz im Jahr 1204 durch die Kreuzritter erreichten die Beziehungen zwischen den zwei christlichen Hälften Europas den absoluten Gefrierpunkt.

249 Jahre vor seinem offiziellen Ende durch die Eroberung durch die Türken hatten die Kreuzfahrer auf ihrem Weg zum Heiligen Grab Byzanz praktisch den Todesstoß versetzt. Ohne die systematische Zerstörung der Stadt und damit des Lebensnervs des Oströmischen Reichs hätten die Türken 1453 die Hauptstadt des byzantinischen Reichs höchstwahrscheinlich nicht erobern können. Lange vor den Türken hatten die Araber davon geträumt, Konstantinopel zu ihrer Hauptstadt zu machen und als Einfallstor für die geplante Eroberung ganz Europas zu benutzen.

Judith Herrin zeigt in ihrem Buch durch eine Fülle von Fallbeispielen, wie die hohe politische und strategische Intelligenz von Byzanz Westeuropa jahrhundertelang geschützt hat. Seit Jahrzehnten arbeitet die international anerkannte Byzanzforscherin dafür, dass der Beitrag, den Byzanz für das geleistet hat, was wir unter Europa verstehen, im Westen endlich Anerkennung findet.

Unser negatives Byzanzbild ist, wie Judith Herrin ausführt, auf das schlechte Gewissen des christlichen Kreuzfahrerabendlands zurückzuführen, das durch die barbarische Zerstörung von Byzanz in Erklärungsnotstand geraten war. Wie sollte man rechtfertigen, dass die Kreuzfahrer, denen es angeblich um die Befreiung Jerusalems von den Ungläubigen ging, das für Westeuropa überlebensnotwendige christliche Bollwerk Byzanz dem Erdboden gleichmachten? Der besonders seit 1204 gegen Byzanz gestreute Rufmord hatte die Funktion, von diesem Sündenfall abzulenken.

Das schwierige Unterfangen, die 1129 Jahre lange, äußerst komplexe Geschichte Ostroms in allgemein gut verständlicher Sprache zu vermitteln, löst Judith Herrin bravourös. Sie beschränkt sich in ihrer Rehabilitierung von Byzanz im Wesentlichen auf seine großen beispielhaften Errungenschaften, wie das Rechtssystem, die Bildung, die Wirtschaftsordnung, die mächtige Rolle der Frauen und das auf Kriegsvermeidung fokussierte diplomatisch-strategische Knowhow des osteuropäischen Kaiserreichs.

Byzanz verfügte seit Kaiser Justinian über ein bis heute vorbildliches Rechtswesen, das die gründliche Ausbildung fähiger Juristen gewährleistete, das Rechtssicherheit für alle garantierte, einschließlich dem Petitionsrecht gegen Rechtsmissbrauch. Es herrschte Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Religionen. Eine Inquisition hatte Byzanz nie. Anders als im christlichen Abendland erlaubte Ost-Rom den slawischen Christen ihres Machtbereichs den Gebrauch der Volkssprachen in der Liturgie, eine Reform, die bei uns erst durch Luther durchgesetzt wurde und die der Vatikan erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts zuließ.

Bildung, zumindest für alle männlichen Bürger, war Grundstandard. Wesentlich mehr Frauen als in Westeuropa hatten Zugang nicht nur zur Bildung, sondern übten höchste politische Macht aus. Homer und die griechischen Tragiker wurden durch die Jahrhunderte in ungebrochener Tradition in Schulen gelesen und prägten die Kultur. Nur durch die Vermittlung von Ostrom konnte seit der Frührenaissance das westliche Europa die griechische Kultur der Antike für sich erschließen. Durch eine vorbildlich organisierte Wirtschaftsordnung war die Grundernährung für alle Bürger gesichert. Über einen Zeitraum von 700 Jahren verfügte Ostrom über eine stabile Goldwährung.

Judith Herrin gelingt es in ihrem mit überragendem Sachverstand und Empathie geschriebenen Buch, ihren Lesern die Augen zu öffnen für die enormen kulturellen Leistungen der lange Zeit verfemten anderen Hälfte Europas.

Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr

Judith Herrin: "Byzanz -Die erstaunliche Geschichte eines mittelalterlichen Imperiums"
Aus dem Englischen von Karin Schuler
Reclam, Ditzingen 2013
416 Seiten, 29,95 Euro
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