Die Engel mit dem nackten Po
Vorn und hinten das Hemdchen zu kurz, der Po lugt hervor. Nicht nur der nackte Hintern ist ihr Markenzeichen - weswegen sie im Volksmund "Nacktarsch-Engel" heißen - , sondern auch die grünen Flügel mit den elf weißen Punkten. Als "Elfpunkt-Engel" werden sie seit 1923 bei "Wendt & Kühn" im Erzgebirgsdorf Grünhainichen hergestellt, haben die DDR überdauert, und werden bis heute in alle Welt exportiert.
"Was die Kinderengel treiben, wenn die Menschen nicht bestellen?
Nun, sie lesen und sie schreiben und sie singen froh
Mit hellen, himmlisch süßen Engelsstimmen
Alte, fromme Kinderlieder. Löschen Sterne, die verglimmen
Und schauen nachts zur Erde nieder."
Jossi Wolf ist acht und lebt in Hamburg. Ziemlich weit weg vom Erzgebirge, doch nah genug an den Engeln. Genauer gesagt: den Engeln mit dem nackten Po und den grünen Flügeln mit den elf Punkten darauf. Denn man kann sie zur Zeit in größeren Scharen in Jossis Heimatstadt bewundern: Im Altonaer Museum ist ihnen die große Weihnachtsausstellung gewidmet.
Und zum anderen ist Jossis Vater, Erhardt Heinold, ein Engel-Experte. Ein begehrter noch dazu: Sein Buch "Himmlische Boten aus dem Erzgebirge" musste im Dezember, gerade vier Wochen nach dem Erscheinen, schon nachgedruckt werden, so groß ist die Nachfrage. Auch in Ausstellungen in Dresden-Radebeul auf Schloß Wackerbarth und in Husum an der Nordsee schweben, stehen und liegen in diesem Jahr diese Engel der anderen Art aus Grünhainichen im Erzgebirge.
"Und sie tanzen, und sie lachen mit dem Spielzeugengelvölkchen
Lernen ferner Betten machen aus den weißen Federwölkchen
Und erfinden goldne Märchen."
Die Geschichte der Grünhainichener Engel beginnt eher weniger märchenhaft. Obgleich es sich fast wie ein Märchen anhört: 1914, die erste Kriegsweihnacht. Der Soldat Johannes Wendt bekommt von seiner Schwester Grete einen Engel an die Front geschickt. Ein Engel, so groß wie eine Hand, im weißen Kleid mit grünen Flügeln, darauf elf weiße Sternchen. Der Engel trägt zwei Kerzen. Johannes Wendt überlebt den Krieg.
Grete Wendt, die an der Königlich-Sächsischen Kunstgewerbeschule in Dresden studiert hatte und deren Herz für klare, moderne Kunst schlug - sie entwarf unter anderem Spielzeug und Möbel für die "Hellerauer Werkstätten" - gründete 1915 mit ihrer Studienfreundin Margarete Kühn in Grünhainichen die Firma "Wendt & Kühn".
Vor 85 Jahren, im Jahr 1923, kamen dort wahrhaft kühne Engelchen zur Welt: Vorn und hinten das Hemdchen zu kurz, der Po lugt hervor, Kugelkopf, pummelige Gestalt, links und rechts ein freches Löckchen, grüne Flügel mit elf weißen Pünktchen. Der Volksmund machte aus Grete Wendts "Elfpunktengeln" - bald die "Nacktarsch-Engel".
"Sie wollte diese Holzfiguren durch Lebendigkeit und diesen puppenhaften Ausdruck wirklich beleben. Und hat damit auch die Herzen der Menschen erreicht. Sie selber hat gesagt: Meine Figuren sind Volksgut geworden."
Der Hamburger Verleger und Autor Erhard Heinold, selbst ein gebürtiger Erzgebirgler, forscht seit Jahrzehnten zum Thema Brauchtum im Erzgebirge. In seinem neuesten Buch "Himmlische Boten aus dem Erzgebirge" taucht er tief ab ins Archiv der Grünhainichener Engel-Firma.
"Es gab einen gewissen Streit unter den Gelehrten, ob das nun Volkskunst sei oder nicht, und die DDR war ja da auch immer sehr kritisch und ließ nicht alles als Volkskunst gelten. Es ist gerade interessant, daß in diktatorischen Regimen - das war im dritten Reich genauso - immer der Staat denkt, dass er entscheiden kann, was Kunst ist erstens. Und zweitens will er entscheiden, was den Leuten gefallen soll.
Die Leute wollen aber gar nicht so, wie der Staat will (lacht). Die wollen so, wie sie selber wollen! Und deswegen sind diese Figuren weltweit bis heute immer beliebt geblieben, weil sie geliebt werden - von den Sammlern, den Käufern und von denen, die sie auch als eine Art Symbol von Schutzengel empfinden. Es gibt eine Reihe von Erzählungen von Sammlern der Wendt-und-Kühn-Engel, die eben sagen, daß sie durch den Zweiten Weltkrieg mit einem solchen Schutzengel gegangen sind und solche Erlebnisse berichtet haben."
Der Hauptberuf der Grünhainichener Engel ist Musizieren, weshalb vor allem auch berühmte Musiker wie Kurt Masur, Otmar Suitner, Rudolf Mauersberger und auch der Urwaldarzt Albert Schweitzer begeisterte Nacktarschengelsammler waren oder sind - für ihr Engelsorchester, aufgestellt auf einer blauen Wolke. Natürlich gibt es auch einen Dirigenten, ebenfalls im allzu kurzen Hemd. An der Hemdenlänge, so ergaben Heinolds Recherchen, nahm seit 1923 übrigens nie jemand Anstoß.
"Es gab nicht nur die mit der kurzen Tunika und dem Popo, die Nacktarschengel, sondern es gab ja auch bei Wendt und Kühn vor dem zweiten Weltkrieg nackte Engel. Und eine dieser nackten Engelgruppen auf einer Spieldose hat ja Marlene Dietrich gekauft, erworben, wahrscheinlich auf der Leipziger Messe, das weiß man nicht ganz genau. Sie hat sie mit nach Amerika genommen. Eine Spieldose mit nackten Engeln. Und die Spieldose spielt 'Leise zieht durch mein Gemüt' nach einem Gedicht von Heinrich Heine. Und in dem Film 'Blonde Venus' ein Joseph-von-Sternberg-Film ..."
"... da singt Marlene Dietrich in einem englischsprachigen Film, singt sie auf deutsch zu der Spieldose 'Leise zieht durch mein Gemüt'. Sie bringt ihren Filmsohn ins Bett, und weil der nicht so richtig schlafen will, nimmt sie die Spieldose vom Tisch, geht mit der Spieldose ans Bett, dreht, weil es eine Handdrehdose war, und singt auf deutsch in einem englischen Film. Einfach beeindruckend."
Tobias Wendt hält eine Spieldose mit Schneeglöckchen in der Hand. Um die Blumen, im Vergleich zu den Figuren baumgroß, drehen sich musizierende Kinder. Keine splitternackten Engel. Diese Warengruppe gibt es schon lange nicht mehr. Die Zeiten sind nicht mehr so unschuldig, meint Tobias Wendt.
Und stellt die Spieldose zurück auf seinen Büroschrank. Dorthin, wo er das wertvollste Stück Firmengeschichte aufbewahrt: die Goldmedaille und den "Grand Prix". Preise, die seine Großtante Grete Wendt zur Pariser Weltausstellung 1937 für das außergewöhnliche Design ihres "Engelsorchesters mit Madonna auf der blauen Wolke" bekam.
Glaubt man an Engel, so hat Tobias Wendt gewissermaßen sein Leben einem Engel zu verdanken. Er ist der Enkel jenes Johannes Wendt, der von seiner Schwester zur Kriegsweihnacht 1914 den Engel bekam. Heute wird dieser Lichterengel - übrigens im langen Kleid - unter dem Titel "Engel Nr.28" noch immer in der Grünhainichener Werkstatt in Handarbeit hergestellt.
"Mit dem Licht, das ist eine ganz wichtige Sache. Das Licht im Erzgebirge kommt von der Bergmanntradition, wo die Leute unter Tage gegangen sind mit ganz, ganz wenig Licht und sich immer gesehnt haben nach dem Licht. Engel und Bergmann, das ist das sehr traditionell. Und in dieser Tradition stehen auch diese Figuren."
Das Leben der Engel beginnt mit sehr viel Dezibel.
"Das sind so die kleinen Fortschritte, die wir selbst in so einem traditionellen Betrieb machen können. Es bleibt natürlich nach wie vor mehr als 90 Prozent Handarbeit. Das werden wir dann in den anderen Abteilungen noch sehen."
An den Drehmaschinen entstehen die Engelskörper, die aussehen wie große Halmafiguren.
"Hier sieht man auch die gestalterischen Proportionen, die meine Tante angesetzt hat. Das sind ja kindliche Proportionen, also ein relativ großer Kopf zum Körper, was diese Figuren natürlich auch besonders lieblich macht. Meine Großtante Grete hat keine eigenen, keine lebendigen, keine Kinder aus Fleisch und Blut gehabt. Sondern sie hat sehr, sehr viele andere Kinder, aber die sind eben alle aus Holz ... Maschinen..."
Himmlische Ruhe, gerade richtig für die Engel-Produkion, herrscht in den anderen Abteilungen. Carola Schubert in der Leimerei klebt gerade einem Geiger den rechten Arm an.
"Das ist die 650/130/2, unser neuer Engel für die Schwebeengel. Da gibt es schon einen mit Flöte, und das ist der mit Geige. Kommt jedes Jahr was Neues dazu. Wir machen immer andere Engel, nicht immer denselben. Wir machen auch Blumenkinder zwischenrein, wie es eben vom Kunden bestellt wird, so wird es hergestellt."
"Ja, und so fängt das an: Das werden Arme. Da sind sie noch geschnitten. Und ehe man da richtig was sieht, dass der eine Haufen größer geworden ist, da muss man schon fleißig sein."
Sehr fleißig.
"6659."
Und die Ruhe muss man weghaben, so wie Cindy Peschel, um nicht vor 6659 Engels-Ärmchen zu resignieren.
"Man muss in einem bestimmten Winkel, dass es genau aneinander passt. Genau aneinander. Keine Lücke."
Und kein Leim, der aus den Ritzen quetscht. Sonst gibt es Ärger mit den nächsten Abteilungen, die der Engel durchwandert: die Taucherei, wo er dreimal ins cremeweiße Farbbad getaucht wird und die Malerei, wo Gesichter angemalt werden, Instrumente und Haare.
"Wir hatten früher mal ein Verhältnis von 70 Prozent blond und 30 Prozent dunkel. Das waren damals wohl die Vorstellungen, wie Engel aussehen, blonde Engel, das hat man sich eher so vorgestellt. Mittlerweile sind wir über den Schritt 60 zu 40 genau bei halbe-halbe angekommen: 50 Prozent blond, 50 Prozent dunkel - das ist ja bloß eine Schätzung. Wir wissen ja auch nicht, wie Engel wirklich aussehen! Es ist ja bloß unsere Vorstellung davon. Und so machen wir sie - aber wissen tun wir das auch nicht."
Brigitte Stump aus der Malabteilung ist, wie viele hier und wie schon Eltern und Geschwister, schon Jahrzehnte in der Firma. Sie ist selbst eine eifrige Engel-Sammlerin - wenngleich sie erst nach der Wende damit begann. Oder: beginnen konnte.
"Es war ja vorher kaum so ein Engel zu bekommen, das ist es ja. Und nach der Wende, da fingen ja hier noch mal alle an, richtig zu sammeln! Weil man jetzt die Möglichkeit hat, von Wendt und Kühn die Figuren zu bekommen. Wenn man da vorher niemanden in einem Laden hatte, der da mal was unterm Ladentisch hatte, da war ja nicht ranzukommen (lacht)."
"Also ein Teil der Figuren wurde ja im Intershop gehandelt in den letzten Jahren der DDR. Und das ist ja furchtbar, wenn ein Mitarbeiter sich für sein Geld, das er kriegt, nicht mal die Figuren leisten kann, die er herstellt. Sondern andere Währung brauchte. Aber es war halt alles diesem Mangel geschuldet, weil die DDR unbedingt die Devisen brauchte."
So mancher unterm Ladentisch erstandene Nacktarsch verließ die DDR in Richtung Westen - im Weihnachtspäckchen neben dem Dresdner Stollen. Obgleich man es im Westen viel einfacher hatte, die Figuren aus dem Erzgebirge zu bekommen - sie mussten ja in Grünhainichen fast nur für den Export produzieren.
1972 konnte Tobias Wendts Vater Hans Wendt, der seit den 50er Jahren die Firma leitete, sich der sogenannten "Verstaatlichung" des Familienbetriebes nicht widersetzen. Aber er durfte als Betriebsleiter des nunmehr volkseigenen Betriebes weiterarbeiten und konnte so die Qualität retten, indem er weiter auf Handarbeit bestand. Und er konnte vor allem die Marke retten - ein Coup, der nur wenigen verstaatlichen Firmen gelang. Tobias Wendt über seinen Vater, der in diesem Jahr verstorben ist.
"Das ist einer der ganz, ganz geschickten Schachzüge von meinem Vater gewesen. Da hat er lange gekämpft, richtig gekämpft und sich mit denen rumgestritten, wie denn die Firma Wendt und Kühn nach der Verstaatlichung heißen soll. Er wollte eben gern so viel wie möglich rüberretten und ist dann auf den Namen 'Werk-Kunst' gekommen. Ein sehr schöner Name, finde ich, mit dem Begriff Werk-Kunst verbindet man auch ein bisschen die Bauhaus-Zeit und diese Herangehensweise.
Und vor allen Dingen die Kunden zu halten durch das W und K. Es gab dann auch so verrückte Begebenheiten, Diskussionen in dem Kombinat: Durch den Namen Wendt und Kühn würde der Kunde zu sehr an Wendt und Kühn erinnert, also an die alte Privatfirma. Da sagt mein Vater: Ja, das mag schon sein, aber am meisten wird er ja durch die Figuren, durch die Engel an Wendt und Kühn und an die Frau Wendt erinnert, die sie gestaltet hat. Das werden wir ja auch nicht abschaffen!"
Am liebsten hätte man wohl all die halbbekleideten Engel, die sich auf den Spieluhren drehten und im Orchester hockten, durch Blumenkinder, Bergleute und holzschleppende Frauen ersetzt - all das hatte Grete Wendt, dem Erzgebirge und den Menschen dort sehr verbunden, ja auch entworfen. Wenn sich nicht gerade die Engel so gut verkauft hätten im Westen.
"Da hat mein Vater mal den neuen Vorsitzenden des Rates des Kreises Flöha besucht. Der hat dann gesagt: Also Herr Wendt, das verspreche ich Ihnen, in ein paar Jahren werden sie hier keine Engel mehr herstellen! So weit ging das, weil man ja die Engel mit der kirchlichen Tradition in Verbindung gesetzt hat. Man war der Meinung, in einem kommunistischen Land dürfen keinen Engel hergestellt werden. Da hat uns immer wieder der Export gerettet, dass durch die Engel Devisen erwirtschaftet worden sind, das war immer unser großes Glück."
Grete Wendt erlebte die politische Wende, die in Grünhainichen auch eine Engel-Wende war, nicht mehr mit. Jedoch die zweite Grand Dame der Firma, Olly Wendt. erlebte sie, Tobias Wendts Großmutter, die auch als Gestalterin für die Firma arbeitete und der unter anderem die russisch anmutenden, knuffigen Madonnen zu verdanken sind, die mit dem Engelsorchester in Paris ausgezeichnet wurden.
"Für meine Großmutter, die hat es ja miterlebt 1990 die Reprivatisierung, war das natürlich eine große Freude. Sie ist dann auch zum ersten Mal Miteigentümerin geworden 1990, das war eine große Freude. Auch für uns war es schon ein großes Ereignis, wir kannten es nicht als Privatbetrieb als Kinder. Ich bin 65 geboren worden, 72 ist die Firma verstaatlicht worden. Das war schon was Besonderes, wenn man hier angerufen hat, ich war damals Student gewesen, vorher hat sich jemand mit der Firma Werk-Kunst gemeldet. Und dann, von einem Tag auf den anderen, hat sich jemand mit Wendt und Kühn gemeldet."
Die Firma blühte auf - der Nachhol- und Kaufbedarf an Engeln war riesig - dort, wo es ihn sonst nur unterm Ladentisch gab. Doch nach ein paar Jahren stand die nächste Herausforderung vor den Toren der inzwischen auf 170 Mitarbeiter gewachsenen Firma: Die Marktwirtschaft und viel Konkurrenz.
"Jetzt sind die Anforderungen in einem gesättigten Markt, seinen Kunden das zu bieten, was sie suchen. Da will ich mal einfach so sagen: Das sind im ersten Moment nicht Holzfiguren. Die Menschen suchen Freude. Die suchen Freude im Leben, und die finden sie in unseren Figuren wieder, in den Blumenkindern und in den Engelchen. In diesen Fantasieprodukten, in dieser heilen Welt, in diesen lieblichen Produkten, dort finden sie das wieder."
Im Haus gegenüber von Wendt und Kühn in der Chemnitzer Straße in Grünhainichen, übt Wolfram Stimpel, pensionierter Lokführer, für seinen Einsatz am Heiligen Abend. Um ihn herum, auf dem Klavier, auf dem Tisch, auf dem Fensterbrett, in der Glasvitrine an der Wand - alles voller Figürchen. Nicht nur Engelchen, auch Weihnachtsmänner und Wichtel, Vertreter der arbeitenden Bevölkerung wie Männer mit Schubkarren und Frauen mit Körben, Kerzenengel, Blumenkinder und sogar Soldaten der königlichen Garde von Dänemark - der ganze Kosmos der 90 Jahre alten Firma von gegenüber entfaltet sich in Familie Stimpels Wohnung.
"Wo man hinkommt, die Läden sind voll. Aber Wendt und Kühn, das sind die schönsten Figuren. Die Wendt, Grete, die hat was geschaffen - mit was für einem Blick! Wenn Sie die Blumenkinder angucken, die Blüten, die Kinder, überhaupt die Kinder und alles, das ist so wunderbar, man kann das einfach gar nicht so beschreiben. Die hat nicht bloß gesessen und gezeichnet, die ist auch mit offenen Augen in die Natur gegangen."
Das sehen die beiden Stimpels noch richtig vor sich, wie die Wendt-Grete mit ihrem Körbchen, in dem sie Blumen gesammelt hatte, den Berg vor ihrem Haus hinunterkam. Und wenn auch die Elfpunkt-Engel auf der ganzen Welt leben mögen, exportiert werden nach den USA und Australien, nach Taiwan und Argentinien, in die Schweiz und nach Russland, so werden sie doch im Erzgebirge mit dem meisten Herzblut gesammelt und gehütet. Margarete Stimmel hält einen Engel in der Hand, so vorsichtig, als hielte sie einen Zitronenfalter.
"Und dann gibt es manchmal auch solche Sonderanfertigungen, wie zum Beispiel die zwei Engelchen, die haben sonst eine blaue Tulpe, und da haben sie dann eben das rote Herzel und das Geburtsdatum. Und es sind eben auch ein paar Figuren, die so ganz alt sind, die ich eben auch mal geschenkt gekriegt habe. Und die hat man ja natürlich besonders aufgehoben, weil man die nie wieder kriegt! Das kommt nicht wieder."
Eine Sammlerin wie Frau Stimpel muss auch immer lauern, welche Figuren nun jetzt wieder aus dem Programm genommen werden. Rund 1.000 Entwürfe von Grete Wendt liegen im Musterschrank der Firma, rund 300 Figuren davon werden produziert und pausieren dann wieder für fünf, zehn oder gar 15 Jahre. Ein Alptraum, da etwas zu verpassen.
Im Musikzimmer hat Wolfram Stimpel jetzt seine Klavierübungen beendet und kommt herüber ins Wohnzimmer, wo als Höhepunkt der Weihnachtsdekoration der Engelsberg mit dem Orchester aufgebaut ist. In der Mitte nicht die Madonna, sondern ein Engel am Flügel. Der Lokführer a.D. versucht es mal in Worte zu fassen, was ihm die Engelchen geben.
"Ein Gefühl der Geborgenheit in der Hektik des Alltags. Man ist doch eigentlich in der heutigen Zeit als moderner Mensch von früh bis abends unter Druck. Wenn man was schaffen will, wenn man was erreichen will, steht man ständig im Stress. Und dann kommt eine Phase der Ruhe und der Besinnlichkeit, und da gehört das irgendwie dazu. Wenn man noch dafür aufnahmefähig ist! Wenn man das nicht mehr ist, dann ist es wirklich bös', wie man so schön sagt."
"Kurze Röckle, grüne Flügln
Mit elf weiße Pünktle drauf,
wenn de Weihnachtszeit is kumme,
weck ich die kleen Englein auf.
All die Sänger, Musikanten,
mancher hält e Licht, en Stern,
und mir is, als könnt ich leise
Weihnachtsliedr klinge hörn.
Engele mit grüne Flügln
Und elf weiße Pünktle drauf,
`s erschte Lichtl will euch weckn:
`S ist Weihnachtszeit, nu kummt, stieht auf!"
Nun, sie lesen und sie schreiben und sie singen froh
Mit hellen, himmlisch süßen Engelsstimmen
Alte, fromme Kinderlieder. Löschen Sterne, die verglimmen
Und schauen nachts zur Erde nieder."
Jossi Wolf ist acht und lebt in Hamburg. Ziemlich weit weg vom Erzgebirge, doch nah genug an den Engeln. Genauer gesagt: den Engeln mit dem nackten Po und den grünen Flügeln mit den elf Punkten darauf. Denn man kann sie zur Zeit in größeren Scharen in Jossis Heimatstadt bewundern: Im Altonaer Museum ist ihnen die große Weihnachtsausstellung gewidmet.
Und zum anderen ist Jossis Vater, Erhardt Heinold, ein Engel-Experte. Ein begehrter noch dazu: Sein Buch "Himmlische Boten aus dem Erzgebirge" musste im Dezember, gerade vier Wochen nach dem Erscheinen, schon nachgedruckt werden, so groß ist die Nachfrage. Auch in Ausstellungen in Dresden-Radebeul auf Schloß Wackerbarth und in Husum an der Nordsee schweben, stehen und liegen in diesem Jahr diese Engel der anderen Art aus Grünhainichen im Erzgebirge.
"Und sie tanzen, und sie lachen mit dem Spielzeugengelvölkchen
Lernen ferner Betten machen aus den weißen Federwölkchen
Und erfinden goldne Märchen."
Die Geschichte der Grünhainichener Engel beginnt eher weniger märchenhaft. Obgleich es sich fast wie ein Märchen anhört: 1914, die erste Kriegsweihnacht. Der Soldat Johannes Wendt bekommt von seiner Schwester Grete einen Engel an die Front geschickt. Ein Engel, so groß wie eine Hand, im weißen Kleid mit grünen Flügeln, darauf elf weiße Sternchen. Der Engel trägt zwei Kerzen. Johannes Wendt überlebt den Krieg.
Grete Wendt, die an der Königlich-Sächsischen Kunstgewerbeschule in Dresden studiert hatte und deren Herz für klare, moderne Kunst schlug - sie entwarf unter anderem Spielzeug und Möbel für die "Hellerauer Werkstätten" - gründete 1915 mit ihrer Studienfreundin Margarete Kühn in Grünhainichen die Firma "Wendt & Kühn".
Vor 85 Jahren, im Jahr 1923, kamen dort wahrhaft kühne Engelchen zur Welt: Vorn und hinten das Hemdchen zu kurz, der Po lugt hervor, Kugelkopf, pummelige Gestalt, links und rechts ein freches Löckchen, grüne Flügel mit elf weißen Pünktchen. Der Volksmund machte aus Grete Wendts "Elfpunktengeln" - bald die "Nacktarsch-Engel".
"Sie wollte diese Holzfiguren durch Lebendigkeit und diesen puppenhaften Ausdruck wirklich beleben. Und hat damit auch die Herzen der Menschen erreicht. Sie selber hat gesagt: Meine Figuren sind Volksgut geworden."
Der Hamburger Verleger und Autor Erhard Heinold, selbst ein gebürtiger Erzgebirgler, forscht seit Jahrzehnten zum Thema Brauchtum im Erzgebirge. In seinem neuesten Buch "Himmlische Boten aus dem Erzgebirge" taucht er tief ab ins Archiv der Grünhainichener Engel-Firma.
"Es gab einen gewissen Streit unter den Gelehrten, ob das nun Volkskunst sei oder nicht, und die DDR war ja da auch immer sehr kritisch und ließ nicht alles als Volkskunst gelten. Es ist gerade interessant, daß in diktatorischen Regimen - das war im dritten Reich genauso - immer der Staat denkt, dass er entscheiden kann, was Kunst ist erstens. Und zweitens will er entscheiden, was den Leuten gefallen soll.
Die Leute wollen aber gar nicht so, wie der Staat will (lacht). Die wollen so, wie sie selber wollen! Und deswegen sind diese Figuren weltweit bis heute immer beliebt geblieben, weil sie geliebt werden - von den Sammlern, den Käufern und von denen, die sie auch als eine Art Symbol von Schutzengel empfinden. Es gibt eine Reihe von Erzählungen von Sammlern der Wendt-und-Kühn-Engel, die eben sagen, daß sie durch den Zweiten Weltkrieg mit einem solchen Schutzengel gegangen sind und solche Erlebnisse berichtet haben."
Der Hauptberuf der Grünhainichener Engel ist Musizieren, weshalb vor allem auch berühmte Musiker wie Kurt Masur, Otmar Suitner, Rudolf Mauersberger und auch der Urwaldarzt Albert Schweitzer begeisterte Nacktarschengelsammler waren oder sind - für ihr Engelsorchester, aufgestellt auf einer blauen Wolke. Natürlich gibt es auch einen Dirigenten, ebenfalls im allzu kurzen Hemd. An der Hemdenlänge, so ergaben Heinolds Recherchen, nahm seit 1923 übrigens nie jemand Anstoß.
"Es gab nicht nur die mit der kurzen Tunika und dem Popo, die Nacktarschengel, sondern es gab ja auch bei Wendt und Kühn vor dem zweiten Weltkrieg nackte Engel. Und eine dieser nackten Engelgruppen auf einer Spieldose hat ja Marlene Dietrich gekauft, erworben, wahrscheinlich auf der Leipziger Messe, das weiß man nicht ganz genau. Sie hat sie mit nach Amerika genommen. Eine Spieldose mit nackten Engeln. Und die Spieldose spielt 'Leise zieht durch mein Gemüt' nach einem Gedicht von Heinrich Heine. Und in dem Film 'Blonde Venus' ein Joseph-von-Sternberg-Film ..."
"... da singt Marlene Dietrich in einem englischsprachigen Film, singt sie auf deutsch zu der Spieldose 'Leise zieht durch mein Gemüt'. Sie bringt ihren Filmsohn ins Bett, und weil der nicht so richtig schlafen will, nimmt sie die Spieldose vom Tisch, geht mit der Spieldose ans Bett, dreht, weil es eine Handdrehdose war, und singt auf deutsch in einem englischen Film. Einfach beeindruckend."
Tobias Wendt hält eine Spieldose mit Schneeglöckchen in der Hand. Um die Blumen, im Vergleich zu den Figuren baumgroß, drehen sich musizierende Kinder. Keine splitternackten Engel. Diese Warengruppe gibt es schon lange nicht mehr. Die Zeiten sind nicht mehr so unschuldig, meint Tobias Wendt.
Und stellt die Spieldose zurück auf seinen Büroschrank. Dorthin, wo er das wertvollste Stück Firmengeschichte aufbewahrt: die Goldmedaille und den "Grand Prix". Preise, die seine Großtante Grete Wendt zur Pariser Weltausstellung 1937 für das außergewöhnliche Design ihres "Engelsorchesters mit Madonna auf der blauen Wolke" bekam.
Glaubt man an Engel, so hat Tobias Wendt gewissermaßen sein Leben einem Engel zu verdanken. Er ist der Enkel jenes Johannes Wendt, der von seiner Schwester zur Kriegsweihnacht 1914 den Engel bekam. Heute wird dieser Lichterengel - übrigens im langen Kleid - unter dem Titel "Engel Nr.28" noch immer in der Grünhainichener Werkstatt in Handarbeit hergestellt.
"Mit dem Licht, das ist eine ganz wichtige Sache. Das Licht im Erzgebirge kommt von der Bergmanntradition, wo die Leute unter Tage gegangen sind mit ganz, ganz wenig Licht und sich immer gesehnt haben nach dem Licht. Engel und Bergmann, das ist das sehr traditionell. Und in dieser Tradition stehen auch diese Figuren."
Das Leben der Engel beginnt mit sehr viel Dezibel.
"Das sind so die kleinen Fortschritte, die wir selbst in so einem traditionellen Betrieb machen können. Es bleibt natürlich nach wie vor mehr als 90 Prozent Handarbeit. Das werden wir dann in den anderen Abteilungen noch sehen."
An den Drehmaschinen entstehen die Engelskörper, die aussehen wie große Halmafiguren.
"Hier sieht man auch die gestalterischen Proportionen, die meine Tante angesetzt hat. Das sind ja kindliche Proportionen, also ein relativ großer Kopf zum Körper, was diese Figuren natürlich auch besonders lieblich macht. Meine Großtante Grete hat keine eigenen, keine lebendigen, keine Kinder aus Fleisch und Blut gehabt. Sondern sie hat sehr, sehr viele andere Kinder, aber die sind eben alle aus Holz ... Maschinen..."
Himmlische Ruhe, gerade richtig für die Engel-Produkion, herrscht in den anderen Abteilungen. Carola Schubert in der Leimerei klebt gerade einem Geiger den rechten Arm an.
"Das ist die 650/130/2, unser neuer Engel für die Schwebeengel. Da gibt es schon einen mit Flöte, und das ist der mit Geige. Kommt jedes Jahr was Neues dazu. Wir machen immer andere Engel, nicht immer denselben. Wir machen auch Blumenkinder zwischenrein, wie es eben vom Kunden bestellt wird, so wird es hergestellt."
"Ja, und so fängt das an: Das werden Arme. Da sind sie noch geschnitten. Und ehe man da richtig was sieht, dass der eine Haufen größer geworden ist, da muss man schon fleißig sein."
Sehr fleißig.
"6659."
Und die Ruhe muss man weghaben, so wie Cindy Peschel, um nicht vor 6659 Engels-Ärmchen zu resignieren.
"Man muss in einem bestimmten Winkel, dass es genau aneinander passt. Genau aneinander. Keine Lücke."
Und kein Leim, der aus den Ritzen quetscht. Sonst gibt es Ärger mit den nächsten Abteilungen, die der Engel durchwandert: die Taucherei, wo er dreimal ins cremeweiße Farbbad getaucht wird und die Malerei, wo Gesichter angemalt werden, Instrumente und Haare.
"Wir hatten früher mal ein Verhältnis von 70 Prozent blond und 30 Prozent dunkel. Das waren damals wohl die Vorstellungen, wie Engel aussehen, blonde Engel, das hat man sich eher so vorgestellt. Mittlerweile sind wir über den Schritt 60 zu 40 genau bei halbe-halbe angekommen: 50 Prozent blond, 50 Prozent dunkel - das ist ja bloß eine Schätzung. Wir wissen ja auch nicht, wie Engel wirklich aussehen! Es ist ja bloß unsere Vorstellung davon. Und so machen wir sie - aber wissen tun wir das auch nicht."
Brigitte Stump aus der Malabteilung ist, wie viele hier und wie schon Eltern und Geschwister, schon Jahrzehnte in der Firma. Sie ist selbst eine eifrige Engel-Sammlerin - wenngleich sie erst nach der Wende damit begann. Oder: beginnen konnte.
"Es war ja vorher kaum so ein Engel zu bekommen, das ist es ja. Und nach der Wende, da fingen ja hier noch mal alle an, richtig zu sammeln! Weil man jetzt die Möglichkeit hat, von Wendt und Kühn die Figuren zu bekommen. Wenn man da vorher niemanden in einem Laden hatte, der da mal was unterm Ladentisch hatte, da war ja nicht ranzukommen (lacht)."
"Also ein Teil der Figuren wurde ja im Intershop gehandelt in den letzten Jahren der DDR. Und das ist ja furchtbar, wenn ein Mitarbeiter sich für sein Geld, das er kriegt, nicht mal die Figuren leisten kann, die er herstellt. Sondern andere Währung brauchte. Aber es war halt alles diesem Mangel geschuldet, weil die DDR unbedingt die Devisen brauchte."
So mancher unterm Ladentisch erstandene Nacktarsch verließ die DDR in Richtung Westen - im Weihnachtspäckchen neben dem Dresdner Stollen. Obgleich man es im Westen viel einfacher hatte, die Figuren aus dem Erzgebirge zu bekommen - sie mussten ja in Grünhainichen fast nur für den Export produzieren.
1972 konnte Tobias Wendts Vater Hans Wendt, der seit den 50er Jahren die Firma leitete, sich der sogenannten "Verstaatlichung" des Familienbetriebes nicht widersetzen. Aber er durfte als Betriebsleiter des nunmehr volkseigenen Betriebes weiterarbeiten und konnte so die Qualität retten, indem er weiter auf Handarbeit bestand. Und er konnte vor allem die Marke retten - ein Coup, der nur wenigen verstaatlichen Firmen gelang. Tobias Wendt über seinen Vater, der in diesem Jahr verstorben ist.
"Das ist einer der ganz, ganz geschickten Schachzüge von meinem Vater gewesen. Da hat er lange gekämpft, richtig gekämpft und sich mit denen rumgestritten, wie denn die Firma Wendt und Kühn nach der Verstaatlichung heißen soll. Er wollte eben gern so viel wie möglich rüberretten und ist dann auf den Namen 'Werk-Kunst' gekommen. Ein sehr schöner Name, finde ich, mit dem Begriff Werk-Kunst verbindet man auch ein bisschen die Bauhaus-Zeit und diese Herangehensweise.
Und vor allen Dingen die Kunden zu halten durch das W und K. Es gab dann auch so verrückte Begebenheiten, Diskussionen in dem Kombinat: Durch den Namen Wendt und Kühn würde der Kunde zu sehr an Wendt und Kühn erinnert, also an die alte Privatfirma. Da sagt mein Vater: Ja, das mag schon sein, aber am meisten wird er ja durch die Figuren, durch die Engel an Wendt und Kühn und an die Frau Wendt erinnert, die sie gestaltet hat. Das werden wir ja auch nicht abschaffen!"
Am liebsten hätte man wohl all die halbbekleideten Engel, die sich auf den Spieluhren drehten und im Orchester hockten, durch Blumenkinder, Bergleute und holzschleppende Frauen ersetzt - all das hatte Grete Wendt, dem Erzgebirge und den Menschen dort sehr verbunden, ja auch entworfen. Wenn sich nicht gerade die Engel so gut verkauft hätten im Westen.
"Da hat mein Vater mal den neuen Vorsitzenden des Rates des Kreises Flöha besucht. Der hat dann gesagt: Also Herr Wendt, das verspreche ich Ihnen, in ein paar Jahren werden sie hier keine Engel mehr herstellen! So weit ging das, weil man ja die Engel mit der kirchlichen Tradition in Verbindung gesetzt hat. Man war der Meinung, in einem kommunistischen Land dürfen keinen Engel hergestellt werden. Da hat uns immer wieder der Export gerettet, dass durch die Engel Devisen erwirtschaftet worden sind, das war immer unser großes Glück."
Grete Wendt erlebte die politische Wende, die in Grünhainichen auch eine Engel-Wende war, nicht mehr mit. Jedoch die zweite Grand Dame der Firma, Olly Wendt. erlebte sie, Tobias Wendts Großmutter, die auch als Gestalterin für die Firma arbeitete und der unter anderem die russisch anmutenden, knuffigen Madonnen zu verdanken sind, die mit dem Engelsorchester in Paris ausgezeichnet wurden.
"Für meine Großmutter, die hat es ja miterlebt 1990 die Reprivatisierung, war das natürlich eine große Freude. Sie ist dann auch zum ersten Mal Miteigentümerin geworden 1990, das war eine große Freude. Auch für uns war es schon ein großes Ereignis, wir kannten es nicht als Privatbetrieb als Kinder. Ich bin 65 geboren worden, 72 ist die Firma verstaatlicht worden. Das war schon was Besonderes, wenn man hier angerufen hat, ich war damals Student gewesen, vorher hat sich jemand mit der Firma Werk-Kunst gemeldet. Und dann, von einem Tag auf den anderen, hat sich jemand mit Wendt und Kühn gemeldet."
Die Firma blühte auf - der Nachhol- und Kaufbedarf an Engeln war riesig - dort, wo es ihn sonst nur unterm Ladentisch gab. Doch nach ein paar Jahren stand die nächste Herausforderung vor den Toren der inzwischen auf 170 Mitarbeiter gewachsenen Firma: Die Marktwirtschaft und viel Konkurrenz.
"Jetzt sind die Anforderungen in einem gesättigten Markt, seinen Kunden das zu bieten, was sie suchen. Da will ich mal einfach so sagen: Das sind im ersten Moment nicht Holzfiguren. Die Menschen suchen Freude. Die suchen Freude im Leben, und die finden sie in unseren Figuren wieder, in den Blumenkindern und in den Engelchen. In diesen Fantasieprodukten, in dieser heilen Welt, in diesen lieblichen Produkten, dort finden sie das wieder."
Im Haus gegenüber von Wendt und Kühn in der Chemnitzer Straße in Grünhainichen, übt Wolfram Stimpel, pensionierter Lokführer, für seinen Einsatz am Heiligen Abend. Um ihn herum, auf dem Klavier, auf dem Tisch, auf dem Fensterbrett, in der Glasvitrine an der Wand - alles voller Figürchen. Nicht nur Engelchen, auch Weihnachtsmänner und Wichtel, Vertreter der arbeitenden Bevölkerung wie Männer mit Schubkarren und Frauen mit Körben, Kerzenengel, Blumenkinder und sogar Soldaten der königlichen Garde von Dänemark - der ganze Kosmos der 90 Jahre alten Firma von gegenüber entfaltet sich in Familie Stimpels Wohnung.
"Wo man hinkommt, die Läden sind voll. Aber Wendt und Kühn, das sind die schönsten Figuren. Die Wendt, Grete, die hat was geschaffen - mit was für einem Blick! Wenn Sie die Blumenkinder angucken, die Blüten, die Kinder, überhaupt die Kinder und alles, das ist so wunderbar, man kann das einfach gar nicht so beschreiben. Die hat nicht bloß gesessen und gezeichnet, die ist auch mit offenen Augen in die Natur gegangen."
Das sehen die beiden Stimpels noch richtig vor sich, wie die Wendt-Grete mit ihrem Körbchen, in dem sie Blumen gesammelt hatte, den Berg vor ihrem Haus hinunterkam. Und wenn auch die Elfpunkt-Engel auf der ganzen Welt leben mögen, exportiert werden nach den USA und Australien, nach Taiwan und Argentinien, in die Schweiz und nach Russland, so werden sie doch im Erzgebirge mit dem meisten Herzblut gesammelt und gehütet. Margarete Stimmel hält einen Engel in der Hand, so vorsichtig, als hielte sie einen Zitronenfalter.
"Und dann gibt es manchmal auch solche Sonderanfertigungen, wie zum Beispiel die zwei Engelchen, die haben sonst eine blaue Tulpe, und da haben sie dann eben das rote Herzel und das Geburtsdatum. Und es sind eben auch ein paar Figuren, die so ganz alt sind, die ich eben auch mal geschenkt gekriegt habe. Und die hat man ja natürlich besonders aufgehoben, weil man die nie wieder kriegt! Das kommt nicht wieder."
Eine Sammlerin wie Frau Stimpel muss auch immer lauern, welche Figuren nun jetzt wieder aus dem Programm genommen werden. Rund 1.000 Entwürfe von Grete Wendt liegen im Musterschrank der Firma, rund 300 Figuren davon werden produziert und pausieren dann wieder für fünf, zehn oder gar 15 Jahre. Ein Alptraum, da etwas zu verpassen.
Im Musikzimmer hat Wolfram Stimpel jetzt seine Klavierübungen beendet und kommt herüber ins Wohnzimmer, wo als Höhepunkt der Weihnachtsdekoration der Engelsberg mit dem Orchester aufgebaut ist. In der Mitte nicht die Madonna, sondern ein Engel am Flügel. Der Lokführer a.D. versucht es mal in Worte zu fassen, was ihm die Engelchen geben.
"Ein Gefühl der Geborgenheit in der Hektik des Alltags. Man ist doch eigentlich in der heutigen Zeit als moderner Mensch von früh bis abends unter Druck. Wenn man was schaffen will, wenn man was erreichen will, steht man ständig im Stress. Und dann kommt eine Phase der Ruhe und der Besinnlichkeit, und da gehört das irgendwie dazu. Wenn man noch dafür aufnahmefähig ist! Wenn man das nicht mehr ist, dann ist es wirklich bös', wie man so schön sagt."
"Kurze Röckle, grüne Flügln
Mit elf weiße Pünktle drauf,
wenn de Weihnachtszeit is kumme,
weck ich die kleen Englein auf.
All die Sänger, Musikanten,
mancher hält e Licht, en Stern,
und mir is, als könnt ich leise
Weihnachtsliedr klinge hörn.
Engele mit grüne Flügln
Und elf weiße Pünktle drauf,
`s erschte Lichtl will euch weckn:
`S ist Weihnachtszeit, nu kummt, stieht auf!"