"Die Eltern können wir nicht ersetzen"

Von Annette Schmidt |
Wenn sie kommen, haben sie meist nichts dabei. Kein Schmusetier, kein Bilderbuch, oft keine passenden Schuhe. Viele sind hungrig und verstört. Im Hamburger Kinderschutzhaus am Südring werden Kinder bis zu sechs Jahren betreut, die zu Hause nicht sicher sind.
Das Hamburger Kinderschutzhaus am Südring liegt direkt am Stadtpark. Auf dem Klingelschild kann der Besucher zwischen drei Kindergruppen wählen – den Sonnenkindern, den Kleinen Strolchen und der Disney Family. Wie in einer Kita – nur dass hier die Tür verschlossen ist.

Erzieherin Vera betreut die Sonnenkinder im ersten Stock. Hier sieht es aus wie in einer privaten Wohnung – mit Küche, Esszimmer, Bad und drei Kinderzimmern. Gelbe Schmetterlinge und bunte Blumen hängen an der Decke, von der Wand grinst freundlich ein Krokodil. Daneben: ein Bilderrahmen mit Fotos und Namen der Kinder. Alle sechs Plätze der Gruppe sind belegt, ein siebter Notplatz ist für ein Baby eingerichtet worden, das vor zwei Tagen gekommen ist.

Es ist zwölf Uhr, Vera ist gerade zum Dienst erschienen. Die Zwillinge Lukas und Paul, 14 Monate alt, runde Lockenköpfe, haben sich auf krummen Beinchen an ihre Fersen geheftet. Die kleine Anna mit den riesengroßen braunen Augen interessiert sich gerade für die rote Messschale, mit der man die Schuhgröße bestimmen kann. Sie ist drei Jahre alt.

"Also wenn man ne Zwölf-Stunden-Schicht zu Ende hat und sie ist die ganze Zeit hinter einem hergelaufen und wiederholt, was man gesagt hat – dann weiß man auch, was man gemacht hat."

Annas Bruder Simon schaut stumm zu, ein Bonbon im Mund. Der etwas pummelige Vierjährige kann noch nicht sprechen und verständigt sich durch unartikulierte Laute – wie ein eineinhalbjähriges Kind.

Simon reagiert prompt: im Laufschritt eilt er zur Küche und kehrt mit zwei Süßigkeiten zurück – gefolgt von Erzieherin Sabine, die heute Tagesdienst hat. Statt die Bonbons Vera zu reichen, beginnt er, die goldenen Papierchen aufzuwickeln.

"Packt er mir den aus … – hast Du Dir denn auch die Hände gewaschen? Hast du, ne?"
"Natürlich haben wir die Hände gewaschen."

Als Simon die Schokoladenbonbons sieht, zögert er einen kurzen Moment. Dann steckt er sich die Süßigkeiten blitzschnell in den Mund - und reicht Vera das leere Papier.

"Nee."
"Oh, nee."

Die Erzieherinnen müssen sich das Lachen verkneifen. Simon läuft weg – er schämt sich. Vera muss ihn trösten.

"Das ist ne Sache von …Er ist eigentlich ein ganz herzlicher Mensch, aber der hat dieses Teilen nie gelernt. Und vor allem hat er so wenig gehabt, dass ihm das wirklich Qual bedeutet, was abzugeben."

Als er kam, sah Simon noch pummeliger aus als jetzt. Weil er seiner Mutter weggelaufen ist, hat sie ihn nicht mehr mit nach draußen genommen - er hatte keine passenden Schuhe. Spielplätze kannte er nicht. Die Erzieherinnen vermuten außerdem, dass er sehr unregelmäßig zu essen bekommen hat – und dann vor allem Süßes. Die Mutter sagt, er habe nichts anderes gewollt.

"Ein Kind, das Hunger und Durst gelitten hat, das gibt nicht ab. Die Anfänge mit ihm waren für uns ganz schrecklich anzusehen, … weil er gebunkert hat, er hat sich Spielsachen zusammengesammelt und hat sie alle in ein Gitterbett geworfen – Decke rüber, versteckt, Essen – er hat gegessen wie so´n kleines Tierchen, alles wollte er haben, und er hatte den Mund voll und er hatte den Teller voll, dann wollte er trotzdem noch was haben und es passte nicht auf den Teller, dann konnte man ihm das nicht auf den Teller legen, weil das ja übergelaufen wäre, dann hat er geschrien, weil er das nicht haben durfte – also es waren ganz viele Sachen, die wir ihm beibringen mussten."
"Mit dem Bonbon-Abgeben jetzt das Geringste."

24 Stunden lang wird Vera nun im Dienst sein – tagsüber unterstützt von Sabine, nachts allein mit den sieben Kindern. Die Erzieherin ist eine große Frau, die resolut und warmherzig wirkt. Als sie das Baby aus der Wippe nimmt, um ihm eine Milchflasche zu geben, liegt es wie ein kleines Tierchen versunken in ihren Armen. Vera heißt eigentlich nicht Vera. Aber ihren richtigen Namen will sie lieber nicht im Radio hören. Man weiß nie, wie die Eltern der Kinder reagieren, sagt sie. Es hat schon Drohanrufe gegeben.

Zum Reden bleibt jetzt wenig Zeit. Vera und ihre Kolleginnen müssen trösten, ermahnen, eine Windel wechseln – und zwischendurch klären, ob ein Arztbesuch fällig ist. Aus dem Zimmer von Maria und Luise sind Stimmen zu hören; die beiden Zweijährigen sollen eigentlich Mittagsschlaf halten.

"Jetzt ist aber gleich Schluss. Ich komm gleich schimpfen. Hinlegen, bitte. Es wird jetzt geschlafen. Die halten sich gegenseitig wach – die sind Freundinnen weil sie in einem Zimmer liegen."

Einen Moment Ruhe gibt es erst bei der Übergabe in dem winzigen Büro. Vera greift zur Kaffeetasse und lässt sich auf einen Hocker sinken – ihre junge Kollegin Nicole setzt sich mit einer dicken Kladde ihr gegenüber. Sie ist am Ende ihrer 24-Stunden-Schicht.

Nicole ist 24 Jahre alt und arbeitet seit zwei Jahren im Kinderschutzhaus. Vera ist 46 und schon seit 25 Jahren hier; als sie angefangen hat, hieß das Haus noch Kinderheim – das war Mitte der 90er-Jahre. Heute soll das Leben im Kinderschutzhaus dem normalen Familienleben ähneln; die Kinder sind nur vorübergehend hier – bis geklärt wird, wie es weitergeht: ob sie zu Pflegeeltern kommen, adoptiert werden oder zurückgehen in ihre Familien. Das kann wenige Tage, Wochen oder Monate dauern – in Ausnahmefällen auch Jahre.

"Ja, gestern war Besuchszeit. Der Papa von Karlotta war da …"

Rund zwei Drittel der Kinder gehen zurück zu den Eltern. Zumindest auf Zeit. Auf der weißen Tafel an der Wand ist nachzulesen, wie die Elternbesuche geregelt sind: Jedes Kind ist mit seiner Bezugsperson aufgeführt. Vater! Steht da mit Ausrufungszeichen neben dem Namen eines Kindes. Und dahinter: Haus, Garten. Nicht alle Eltern dürfen das Gelände mit ihren Kindern verlassen.

Die Übergabe ist beendet. Vera hat heute einen leichten Start: Es gibt keine besonderen Aufträge, keine Aufnahme. Den anstehenden Bericht über eines der Kinder wird sie abends schreiben, der volle Wäschekorb im Flur kann noch warten. Eine Kollegin macht sich fürs Einkaufen fertig, sie will Kleidung besorgen für die Kinder und nimmt Anna mit. Simon braucht neue Schuhe, soll aber zu Hause bleiben. Vera holt ihn zum Füße-Messen.

Ein Blick durchs Fenster. Hinter dem Haus erstreckt sich ein weitläufiges Gelände mit alten Bäumen, Sandkasten und Spielgeräten. Ein Kinderparadies – umgeben von einem hohen Zaun. Vorne, auf dem bunten Karussell, sitzen ein Mann und eine Frau. Gut gekleidet, mittleres Alter. Vor ihnen stehen zwei Jungen – Zwillinge, gut drei Jahre alt. Der Mann lächelt, er spricht mit den Jungen. Die Frau sitzt schweigend daneben. Ein paar Momente später sitzt einer der Jungen bei dem Mann auf dem Schoß. Ein paar Schritte abseits steht eine Erzieherin und sieht den vieren zu. Das war ein Kennenlerntreffen zwischen zwei Jungen und ihren potenziellen Pflegeeltern, erklärt mir anschließend Bianca, die Erzieherin aus dem Garten, die im Erdgeschoss bei den Disneys arbeitet. Es war die zweite Begegnung.

"Wenn Pflegeeltern kommen …das nennt man Anbahnung, genau. … bei den beiden – ist das so, weil die sich ja selber haben, fällt das denen leichter Kontakt aufzunehmen als wenn ein Einzelkind Pflegeeltern kennenlernt. …Und dann kann man auch Abstand halten und von weitem n bisschen gucken. Sonst ist man halt näher dran. Und beobachtet das ganz dicht. Ist gleich übergesprungen der Funke. Merkt man sofort an den Kindern."

Die Zwillinge leben schon seit zwei Jahren im Kinderschutzhaus, erzählt Bianca. Ihr Vater hat lange um sie gekämpft. Die Erzieherin kennt die beiden von Anfang an.

"Ja – ich hab sie aufgenommen. Das weiß ich noch. Sind mit eineinhalb gekommen. Und der eine ist in die Richtung gelaufen und der andere in die Richtung und ich wusste gar nicht, wo ich hinlaufen sollte. Und das waren schon ganz schöne Rocker mit eineinhalb, ja."

Dem Tag des Abschieds sieht Bianca mit gemischten Gefühlen entgegen.

"Auf jeden Fall. Ich freu mich, dass die ein Zuhause gefunden haben und ich bin auch ganz erleichtert. Aber ich möchte an dem Tag keinen Dienst haben – ich komme. Zur Verabschiedung. – Ich könnte an dem Tag keinen Dienst weiter machen, ne. Das ist schon sehr emotional. Weil wenn man Kinder zwei Jahre begleitet. Der Zahn kommt durch. Das erste Wehwehchen. Ne Beule am Kopf. Und man kühlt und man hält das Bäuchlein in der Nacht. Ja, – das ist ne sehr lange Zeit."

Bis die Zwillinge dann tatsächlich zu ihren Pflegeeltern umziehen, kann es noch Wochen oder Monate dauern. Die Kinder geben das Tempo an.

"Am Anfang machen wir das immer so, dass die Eltern die Kinder hier kennenlernen, weil die Kinder sich hier sicher fühlen. Manchmal haben wir dann so Tricks, dann geben wir unser Schlüsselbund mit. Ich sag: pass auf das Schlüsselbund schön auf, ich möchte das wiederhaben. Dann wissen die: ah ja, alles klar, die braucht den Schlüssel, ne, und dann gehen sie auch und geben dann ganz stolz den Schlüssel wieder. …Und – dann gibt’s Tagesbeurlaubungen. Und dann wird’s irgendwann ne Übernachtung. Und irgendwann sagen die Kinder: Ne, ich möchte nicht mehr hier sein, ich möchte zu meinem neuen Zuhause. Und dann ist es soweit."

Es ist ein sonniger Nachmittag. Im Garten bietet sich ein idyllischer Anblick: Kinder, die in der Sonne spielen. Die wippen, rutschen oder mit dem Bobby-Car durch die Gegend sausen. Die blonde Maria kommt angelaufen, beginnt sofort neugierig mein Mikrophon zu betasten. Dann setzt sie sich vertrauensvoll auf meinen Schoß. Simon, mit neuen Turnschuhen, hat sich zu zwei anderen Kindern auf eine Dreierwippe gesetzt. Die Kinder wollen ihn runterschubsen, eine Erzieherin greift ein. In seiner Unbeholfenheit wirkt der pummelige Vierjährige wie ein zu groß geratenes Kleinkind. Er trägt immer noch Windeln.

"Tatsache ist, dass er die elementarsten Dinge – Allgemeinkommunikation – Sprache, Mimik, Gestik, das hat er überhaupt nicht beherrscht. - Kontakte mit anderen Kindern waren ihm völlig fremd. Er hat jetzt erst die letzte Zeit angefangen, mit anderen Kindern zu spielen. Er hat die erste Zeit sich nur abgesondert. Dieses ganze Drumherum – der große, schöne Garten, das Zusammenleben, die Ansprache, das hat ihn teilweise so überfordert, dass er nur geschrien hat. – Der hat hier Fahrrad fahren gelernt. Der hat hier so einiges gelernt. Jetzt hören wir ihn gerade. Lass mich in Ruhe hat er noch nicht gelernt, da kreischt er dann lieber."

Hinten, auf dem asphaltierten Platz, versucht Lukas, der Zwilling mit dem runden Lockenkopf, einen roten Traktor zu erklimmen; das Fahrzeug ist doppelt so groß ist wie er selbst. Als er ins Kinderschutzhaus kam, war er ein anderes Kind, sagt Vera.

"Der Kleine war acht Monate alt, apathisch, antriebslos, normalerweise können die sich ja schon auf den Bauch drehen und umgekehrt, konnte er alles nicht, er hat nur auf dem Rücken gelegen. Ganz platten Hinterkopf gehabt. Uns allen Klar: ein Kind, das überhaupt keine Ansprache hatte. Sondern die meiste Zeit seines frühen Lebens im Bett verbracht hat – das können wir so ganz gut einschätzen."

Oft wissen die Erzieherinnen wenig über die Vorgeschichte der Kinder. Doch sie haben gelernt, vieles an ihrem Zustand abzulesen. Zum Beispiel, dass ein Kind völlig isoliert gelebt hat.

"Das merken wir daran, dass die Kinder einen Blick ins Leere haben, dass sie keinen Blickkontakt aufnehmen, dass sie in ihrer motorischen Entwicklung weit zurück sind, dass sie Bedürfnisse nicht in Form von Schreien oder Weinen anmelden – sondern einfach nur daliegen und oft eben in die Leere blicken. Ja, - das Kind ist jetzt vier Monate hier - da hat sich einiges getan. er nimmt Kontakt auf. Er lautiert, versucht viel mit Sprache zu machen – … – für dieses Kind ist das ein gewaltiger Fortschritt, denn im Prinzip muss er all das, was Kinder, die behütet und umsorgt und mit der passenden Förderung aufwachsen, in dem Alter schon können – das muss er sich jetzt im nachhinein erarbeiten – und ist dabei und wir sind alle ganz froh und alle ganz stolz, dass das eben jetzt seine Anfänge nimmt."

Ein Kind, das fast nur in seinem Bett gelegen hat – das ist für Vera kein ungewöhnlicher Fall.

"Bei dem einen Kind sind es eben die Misshandlungen, die im Vordergrund stehen, die körperlichen Misshandlungen, in diesem Fall war es eben die seelische Misshandlung, in der Form dass eben die Eltern keine Bindung und keine Zuneigung angeboten haben – aber das ist eher unser Alltag."

Manchmal muss aber auch Vera um Fassung ringen. Trotz ihrer langen Berufserfahrung.

"Was mich am meisten berührt, wenn es um sexuellen Missbrauch geht oder auch um Misshandlung, die so stark ist, dass sie das Kind also wirklich in lebensbedrohliche Situationen bringt. Das ist also manchmal nicht auszuhalten, aber ich schaffe eben, das auszuhalten und meinen professionellen Weg zu finden. Also wir haben Kinder aufgenommen, die sozusagen zwei Stunden später tot gewesen wären, weil sie einfach keine Nahrung von ihren Eltern bekommen haben, weil die Eltern feiern waren – da waren Säuglinge unter, wir haben Kinder aufgenommen, die hatten unterblutete Augen, also da war das Weiße vollkommen rot, weil durch die Misshandlungen einfach die Äderchen geplatzt sind – tja. Die werden dann eben in Obhut genommen und eben hier zu uns gebracht."

Und trotzdem: den Erzieherinnen kommt kein böses Wort über die Lippen, wenn es um die Eltern geht. Akzeptierende Elternarbeit – so heißt die Leitlinie des Hauses. Die Situation ist heikel: Die Eltern sind selten damit einverstanden, dass ihnen die Kinder für eine Zeit genommen werden. Aber sie sollen in die Arbeit eingebunden werden. Man merkt: die Erzieherinnen sind entsprechend geschult, Veras Antworten zum Thema Elternarbeit kommen wie aus der Pistole geschossen.

"Tatsache ist, dass Kinder – auch Eltern, die sie misshandeln oder hungern lassen oder darben lassen. Auch diese Eltern lieben, weil sie nichts anderes kennen. Und es ist unheimlich wichtig, dass man in dieser Arbeit als Betreuender die Eltern akzeptiert. Weil die Kinder immer Loyalität zu ihren Eltern haben werden und diese auch behalten müssen, damit sie ihre Identität entwickeln können. Deswegen ist es wichtig, dass versucht wird, Möglichkeiten zu suchen, die es Kindern und Eltern ermöglicht, weiterhin zusammenzuleben. Weil eine Fremdplatzierung für die Kinder wieder viel Arbeit bedeutet im Hinblick auf Bindung herstellen und Beziehung knüpfen."

Aber die Betreuer müssen sich und die Kinder auch schützen. Manche Eltern sind aggressiv, sie randalieren vor der Tür. Der hohe Zaun um den Garten ist nicht für die Kinder gedacht; er soll verhindern, dass ungewünschte Besucher ins Haus gelangen.

"Und es gibt Eltern, die relativ erbost darüber sind, dass ihnen die Kinder weggenommen werden, weil sie sich keiner Schuld bewusst sind. Und je nach dem, wie die gestrickt sind, kann es auch hier und da mal Aggressionen geben. Das hat man sich so vorzustellen, dass Eltern vor der Tür stehen und randalieren. Und wollen, dass wir sie reinlassen. Das tun wir natürlich nicht, weil abends ab 20 Uhr sind wir sozusagen privat mit den Kindern. Uund lassen nicht gerade Eltern rein, die aufgeregt sind."

Beate spielt gerade Flugzeug und wirbelt ein Kind an den Händen durch die Luft: erst eins, dann wollen alle. Wenn man die Kleinen so sieht, sehen sie wie fröhliche Kita-Kinder aus. Dass sie keine glückliche Kindheit haben, sieht man erst auf den zweiten Blick. Mir fällt die zweijährige Luise auf, ein dunkelhäutiges Mädchen, das wenig spricht und selten lacht. Sie wirkt ein wenig unsicher, wenn sie sich bewegt. Und dann ist da der auffällig blasse Junge, etwa vier Jahre alt. Er sitzt die ganze Zeit still vor der Terrasse, mit leerem Gesichtsausdruck. Michel, so erfahre ich, ist neu im Kinderschutzhaus. Eine schlimme Geschichte, sagt Vera.

"Die Mutter hat ihn abgegeben. Weil er seine Mutter tritt. Er sagt zu ihr: Du alte Fickikuh. Und er ist noch nicht so alt. Und es ist oft so, dass Kinder von Müttern, die drogenkrank sind, Verantwortung für die Mütter übernehmen. Es gibt aber auch Kinder, die werden wütend. Die schlagen ihre Mutter und treten ihre Mutter – und vielleicht ist es so, dass er denkt er ist hier, weil er böse ist."

Ich habe Hunger – sagt Michel plötzlich. Das Mittagessen ist noch nicht lang vorbei. Geh zu Beate, sie gibt dir bestimmt was, ermuntert ihn Vera. Der Junge bleibt sitzen. Kurz darauf sehe ich ihn neben dem Kinderwagen stehen, in dem das Baby aus Veras Gruppe liegt. Als ich mich darüber beuge, hält er den Zeigefinger vor die Lippen. Das Baby schläft, ich soll leise sein.

"Sie sind nicht alle grün und blau geschlagen und sexuell missbraucht. Sie sind aber in einem erheblichen Maße emotional vernachlässigt und manchmal auch schlecht versorgt. Die haben ne graue Haut und kriegen hier innerhalb kürzester Zeit, weil sie viel an der frischen Luft sind, ordentlich gepflegt werden und Gemüse essen, nen anderen Teint. …Manche Kinder kommen und haben verdächtig kurze Haare. Dann weiß ich: die hatten gerade Läuse. Wenn sie dann auch noch so blass und ausgelutscht sind."

Sibylle Weidlich möchte die Kinder schützen. Auch vor der Presse. Nein, ich darf nicht dabei sein, wenn ein Kind kommt. Und auch nicht, wenn eins verabschiedet wird. Lieber erzählt sie mir am grauen Dienstbesprechungstisch vom Alltag im Kinderschutzhaus. Und von dem Auftrag, den sie und ihre Mitarbeiterinnen haben.
"Es geht um Normalität, Geborgenheit. Dieser verlässliche Alltag. Dass bestimmte Dinge verlässlich sind. Nachts schlafen wir, hier gibt’s ausreichend zu essen, das ist eine Erfahrung, die manche Kinder erst machen müssen. Die essen auf Vorrat – das ist n bisschen ekelig dann zuzugucken. Muss man sie aber lernen lassen. Weil die haben so gehungert schon in ihrem kleinen Leben. Dass sie auf Vorrat essen. Über das Gefühl 'ich bin satt raus. – es gibt natürlich auch die anderen, die mit Essen ruhig gehalten wurden. Denen müssen wir beibringen, dass es auch noch andere schöne Dinge gibt im Leben außer Essen – regelmäßige Mahlzeiten. Schlafenszeiten – auch wenn Erzieherin A da ist oder Erzieherin B - ist der Tag in etwa gleich.
Der Auftrag den wir haben: Kindern einen gesicherten geborgenen Alltag zu geben. Zu gucken: wo ist Förderbedarf. Zu gucken: wo sind die Stärken des Kindes. Der Eltern. Die dem Kind nicht gut getan haben – aber sie sind die Eltern. Die meisten der Kinder gehen zurück. Was kann man unterstützen. Was geht gar nicht.
Manche Kinder sind mehrfach hier und gehen beim dritten Mal – wir sagen auch nicht auf Wiedersehen, sondern tschüß – weil wir sie ja eigentlich nicht wieder sehen möchten. Höchstens mal als Gast."

"Ich kann nicht jeden Tag ergriffen sein" – sagt Simone Weidlich. Aber auch sie hat immer wieder Erlebnisse, die ihr nahegehen.

"Was mich immer wieder anfasst oder ergreift ist, wenn Kinder erst ganz kurz hier sind und so tun, als ob sie dazugehören. Und sich die erste Nacht ins Bett bringen lassen, als wenn sie hier schon siebten Mal geschlafen hätten. Das ist für mich immer ein Zeichen, das Kind kann es nicht gut gehabt haben – wenn es sofort akzeptiert, dass es hier ist. – Denn verständlich find ich, dass ein Kind hier nicht sein will und sagt: Wo ist meine Mama. Und uns zu verstehen gibt, dass es hier nicht schlafen möchte. Also wenn man hierher kommt am Nachmittag und der Aufforderungscharakter hier groß ist, das kann ich noch verstehen. Aber wenn man dann sagt: So- jetzt gehst du hier schlafen – sich das dann so gefallen lässt. Das finde ich schon ergreifend. Säuglinge, die aussehen wie Greise – die kein Unterfett im Gesicht haben, gar nichts. Das find ich schon sehr tragisch. Das sind so Momente, wo wir alle so um unsere Fassung kämpfen. Oder wenn Kinder erneut vernachlässigt aufgenommen werden, die wir hier schon mal aufgepäppelt haben und wo wir dachten, da ist jetzt eine Perspektive. Beziehungsweise die Kontrolle des Jugendamtes so installiert, dass da dem Kind nichts mehr passieren kann. Das ist schon besonders bitter."

Sibylle Weidlich nimmt es genau mit ihrer Arbeit. Sie legt Wert darauf, dass die Kinder einen guten Sonnenschutz haben, dass die Kleinen nicht zu viel Obst essen, dass sie keine Bewegungen machen, die schädlich sind für die Gelenke. Dass jedes Kind eine Spieluhr zur Begrüßung bekommt und ein schönes Geschenk zum Geburtstag. Sie weiß alles über Lausbekämpfung und erklärt, dass man befallene Stofftiere am besten ins Gefrierfach legt. Und dann zeigt sie Fotos von den Kindern – wie eine stolze Tante von ihren Neffen und Nichten. Dass manchmal Eltern vor der Tür randalieren – dafür hat Sibylle Weidlich Verständnis.

"Ich kann das emotional schon nachvollziehen, dass Eltern, die ihre Kinder aus dem Kindergarten abholen wollen und die dann mitgeteilt bekommen, ihre Kinder sind schon vom Jugendamt abgeholt worden, die befinden sich jetzt im Südring – da kann ich schon nachvollziehen, dass die hier empört vor der Tür stehen. Das kann ich mehr nachvollziehen als sich nicht zu melden oder sich am Telefon angetrunken zu melden. Deswegen lass ich die nicht unbedingt in der Situation rein. Aber ich erleb solche Eltern nicht zwangläufig als Bedrohung. Mich haben zum Beispiel mal drogenabhängige Eltern zutiefst angerührt, die hier abends mit dem Lieblingsspielzeug ihrer Kinder vor der Tür standen und wenn sie schon reingelassen werden, zumindest sicherstellen wollten, dass ihre Kinder diese Sachen bei sich haben. Die hat bekifft gestillt – das kann man doch auch nicht zulassen. Aber dann steht sie hier in ihrem Hippie-Outfit vor der Tür und bringt ihrer Tochter den Puppenwagen. Kann man sie doch nur für drücken."

Und dann muss Frau Weidlich ans Telefon. Es geht um ein Kind, das möglicherweise misshandelt worden ist.

"Das ist jetzt ne Anfrage von einem einjährigen Kind, wo den Betreuern im Tagesheim aufgefallen ist, dass sie blaue Flecken hat. Und schon wiederholt und teilweise sagen auch die Nachbarn, dass sie nachts alleine ist und jetzt sind sie auf dem Weg ins Kompetenz-Zentrum – von der Gerichtsmedizin, um feststellen zu lassen, ob das Kind ernsthaft misshandelt ist oder ob das blaue Flecken sind, die sich ein Einjähriges holt, weil es noch ´n bisschen töffelig ist. Und dann bringen sie es hier her und teilen der Mutter mit, dass das so ist. Und dann guckt man weiter."

Am Abend, gegen 19 Uhr. Vera hat jetzt keine Zeit mehr für Gespräche. Die Kleinen müssen ins Bett. Nach dem Abendbrot folge ich ihr nach oben ins Badezimmer, wo alle Kinder noch einmal kurz in die Wanne kommen. Sand abwaschen.

Luise, das ernste kleine Mädchen, sitzt als erste in der Wanne – und bekommt anschließend eine Milchflasche in die Hand gedrückt. Ruckzuck hat die Erzieherin das kleine Mädchen in ihren Schlafsack gepackt und ins Gitterbettchen gehoben. Und dann kommt der Moment, an dem nach einem turbulenten Tag auf einmal spürbar wird: Hier müsste jetzt eigentlich eine Mama oder ein Papa sitzen.

Der nächste Morgen, gegen halb neun .Die Kinder sitzen auf bunten Hochstühlen um den Esszimmertisch, dazwischen Vera, die noch etwas still wirkt an diesem Morgen. Ihre Kollegin Nicole, die Tagesdienst hat, schmiert Toastbrote mit Marmelade. Die Kinder haben ihre Tischmanieren gelernt - auch Simon wartet geduldig auf das Zeichen zum Essensbeginn. Hinter uns schläft das Baby – vom Geräuschpegel unberührt – in seiner Wippe.

"Der Teller muss. Gut macht er das. Kann's losgehen? Piep Piep Piep, guten Appetit. Danke gleichfalls. Dann lasst euch das mal schmecken. Meinen Morgenmuffel n bisschen pflegen. Hast du ganz doll Durst gehabt und Hunger."

Draußen regnet es in Strömen. Heute ist Besuchstag. Pünktlich um zehn Uhr steht die Mutter der kleinen Maria in der Tür. Sie sieht aus wie Mitte 20. Lange blonde Haare, schüchtern. Barfuß kommt sie ins Esszimmer und setzt sich still neben ihre Tochter. Das Angebot, das Frühstück mit ins Zimmer zu nehmen, schlägt sie aus – ebenso die Socken, die Vera ihr anbietet.

"Wollen Sie nicht Ihre Schuhe anziehen? Morgen sind Sie doch krank. Das kann ich gar nicht mit ansehen."
"Nein, bin ich nicht. Geht so."

Maria, eben noch lebhaft, verstummt und dreht sich weg.

Etwas später erscheint auch die Mutter von Simon und Anna. Eine junge, hübsche Frau, gut gekleidet, große dunkle Augen wie ihre Kinder. Die braune Lederjacke lässt sie an: Sie will raus mit ihren Kindern, in die Eisdiele um die Ecke. Ihre Kinder begrüßen sie stürmisch. Kurz darauf kommt Simon in Straßenkleidung ins Zimmer gelaufen – stolz zeigt er auf seine neuen Turnschuhe. Der kleine, pummelige Junge, der keine passenden Schuhe für draußen hatte, als er ins Schutzhaus kam.

Für Vera und Nicole geht die Morgenroutine weiter. Während Vera den Frühstückstisch abdeckt und Paulas Mutter sich mit ihrer Tochter ins Zimmer zurückzieht, hat Nicole das Baby aus der Wippe genommen. Der kleine Lukas wirft sich daraufhin rücklings auf den Boden und fängt kläglich an zu schreien. Seinen kleinen Arm hat er in das Schutzgitter vor der Tür geschoben. Lukas ist eifersüchtig, Nicole ist seine Lieblingserzieherin.

"Gute Idee sich dazuzulegen. Dann hat er nicht den Kopf durchgesetzt aber du bist trotzdem bei ihm."

Nicole legt sich auf den Boden – direkt neben Lukas. Der guckt sie verdutzt an.

"Komm her. Guck mal wie er guckt. Hallo. Er ist total verunsichert jetzt. Man kann das schon mit ner Großfamilie vergleichen. Mit anderen Kindern teilen müssen und Strategien entwickeln, damit sie zum Zuge kommen. Die Überlebenskünstler sind Kinder so wie hier der Kleine, was kann ich machen, dass ich die Aufmerksamkeit meiner Lieblingserzieherin krieg - der weint dann oder wirft sich hin und weiß: Er kriegt dann Rettung. Eher nicht so schön ist es bei Kindern, die ganz still sind und sich zurückziehen. Das ist schon heftig. Weil man sich da immer wieder zusammenreißen muss, damit man auch den Kindern all das zukommen lässt, was sie brauchen."

Nicole hat sich bewusst für das Kinderschutzhaus entschieden. Weil man näher an den Kindern dran ist als etwa in einer Kita, wie sie sagt. So nah, dass es manchmal schwer fällt, die professionelle Distanz zu wahren.

"Ich glaub, das Kind, in das ich mich ganz doll verliebt hab – ein kleines Mädchen, drei Jahre alt – das war wirklich: komm her - und sie war da. Das war ne ganz enge Bindung. Die war wirklich in meinem Herzen und nicht nur davor. Da steuer ich gegen. Ich überleg dann zum Beispiel auch: Im Moment bade ich die Zwillinge nicht, da baut man ganz viel Nähe auf. Also versuch ich solche Sachen n bisschen abzugeben. Und dann nehme ich dafür eins der anderen Kinder."

"Unser pädagogischer Auftrag lautet, dass wir Beziehung anbieten, aber keine Bindung. In dem Moment, wo wir Bindung anbieten, wird es schwierig, wenn sie zu Pflegeeltern kommen. Und es kommen immer wieder Kinder, die es einem schwer machen. Und für die Kinder, die nah an einem dran sind, ist das ganz schrecklich, wenn man in Urlaub geht. Weil die ein zweites Mal verlassen werden."

Da ist er wieder, der Auftrag. Maria und ihre Mutter streifen gerade miteinander durch die Wohnung. Genauer gesagt: Die Mutter läuft hinter der Tochter her.

Maria ist ihr zweites Kind, erzählt die junge Frau. Die ältere Tochter lebt in einer Pflegefamilie. Maria wollte sie behalten. Aber sie wollte nicht in der Mutter-Kind-Einrichtung bleiben, in der sie zuletzt untergebracht war. Als der Sozialarbeiter die Tochter dann abholte, hat sie geweint und sich verkrochen. Wie es weitergeht, ist offen – was bleibt, ist die Besuchszeit. Marias Mutter kommt dreimal die Woche.

"Ich würde jetzt gerne Übergabe machen. Gestern Abend war relativ entspannt. Bei den Disneys Abendbrot gegessen. … Geschlafen haben alle toll. Lange. – Baby um halb eins gefüttert. Und dann um halb vier. Sonst war eigentlich nicht viel."

Zweimal in der Nacht aufstehen – das ist für Vera und ihre Kolleginnen Routine. Sie schlafen mit offener Tür, immer ein Ohr bei den Kindern - wie junge Eltern. Nur dass für sie diese Phase nie zu Ende geht. Kinder, die neu ins Schutzhaus kommen, haben oft Albträume, sie wachen schreiend auf. Dann halten die Betreuerinnen Nachtwache an ihrem Bett. Sie haben zwei Nachtdienste pro Woche – manchmal sind es auch drei.

"Von Maria die Mama ist da, die spielen im Zimmer. Maria hat am Anfang mucksch geguckt und war nicht gleich ganz warm – aber jetzt inzwischen beschäftigen die sich da ganz gut – gucken Bilderbücher an. Luise ist auch da im Zimmer. Baby hat kein Fieber heute. – Geh ich morgen zum Arzt. Chefin hat uns noch mal alles genau hingelegt."

Vera ist erschöpft. Die Anstrengung der letzten 24 Stunden ist ihr anzusehen.

"Ja, jetzt reicht 's. Jetzt geh ich zum Sport und dann geh ich auf meine Couch. Also wenn ich so ´n Dienst hinter mir hab, dann ist nicht mehr viel an Action. Weil wenn man rund um die Uhr im Dienst ist und ständig n Ohr auf die Kinder hat, dann ist man ausgelaugt, dann braucht man Ruhe."

Ein Job, der mit Familie nur schwer zu vereinbaren ist. Sie ist geschieden, erzählt Vera, für die Beziehung blieb neben Kindererziehung und Arbeit zu wenig Zeit.

"Dieser Schichtdienst an sich macht einsam. Weil man eben Freundschaften nicht so pflegen kann. Für Menschen, die im Leben stehen.- Ich hab n relativ kleinen Freundeskreis. Für die jungen Kollegen wenn die sich so engagiert aufreiben. Und dann fokussiert sich das Leben auf diese Arbeit hier und suggeriert so ´n bisschen n Gefühl von Zuhause. Von Familie. Und dann muss man gucken, dass man da den Absprung findet. Das ist ne ganz gefährliche Sache. Gerade für junge Leute. Weil es eben auch sehr erfüllend ist. Man hat ständig Trubel, man hat ständig Leute, mit denen man auch kommunizieren muss. Aber es ersetzt kein Privatleben. – Es gibt auch Kollegen, die schon länger hier arbeiten, die schon längst Feierabend haben, die aber noch zwei drei Stunden länger hier rumlaufen, weil die so tief bewegt oder so eng an den Kindern sind, dass sie nicht sagen können: Ich geh jetzt und geb die Verantwortung ab."

Vera gibt die Verantwortung ab. Sie packt ihre Sachen zusammen und verlässt das rote Backsteinhaus. Nicole ist jetzt am Anfang ihrer Schicht. Vor ihr und den Kindern liegt ein langer, verregneter Sonnabend-Nachmittag.