"Die Eindrücke sind sehr gemischt"

Bärbel Dieckmann im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 12.01.2011
Die Präsidentin der Welthungerhilfe, Bärbel Dieckmann, hat Haiti zwölf Monate nach dem Erdbeben besucht. Die Hauptstadt Port-au-Prince sei noch stark zerstört, während in eher ländlichen Regionen schon viel passiert sei, sagte Dieckmann.
Matthias Hanselmann: Heute vor einem Jahr in den späten Abendstunden gingen die Meldungen von einer unfassbaren Katastrophe um die Welt: Eines der ärmsten Länder der Erde, Haiti, wurde von einem Erdbeben heimgesucht, das innerhalb von wenigen Sekunden mindestens 220.000 Menschen tötete. Hunderttausende wurden verletzt, viele verloren Arme oder Beine.

Haitis Hauptstadt Port-auf-Prince war mit einem Schlag zerstört, über eine Million Menschen wurden obdachlos. Dann setzte schnell die Hilfe für Haiti ein, die internationale Staatengemeinschaft sagte zehn Milliarden Dollar für Haiti zu. Hunderte von Hilfsorganisationen unterschiedlicher Art kamen in das Land, und eine von ihnen ist die Deutsche Welthungerhilfe, mit deren Präsidentin Bärbel Dieckmann sind wir jetzt verbunden. Guten Tag, Frau Dieckmann!

Bärbel Dieckmann: Guten Tag!

Hanselmann: Sie waren gerade selbst in Haiti, sind am Sonntag zurückgekehrt - mit welchen Eindrücken?

Dieckmann: Also die Eindrücke sind sehr gemischt. Port-au-Prince selbst, die Hauptstadt Haitis, ist noch stark zerstört, es gibt große Zeltlager, in denen zehntausende Menschen noch wohnen, es ist aber auch viel weggeräumt. Wenn man dann ein bisschen außerhalb von Port-au-Prince kommt, (…), Petit Goâve, eher ländliche Regionen, dann ist auch schon viel passiert, es sind Häuser repariert worden, es sind Schulen repariert worden, der Unterricht läuft wieder, es sind neue Häuser gebaut worden, Holzhäuser, die Cholera wird inzwischen relativ erfolgreich bekämpft, die Zahlen steigen zwar noch, aber die Todeszahlen sinken. Es bleibt trotzdem die Tatsache, dass Haiti ein extrem fragiler Staat war, ein Land, was über 200 Jahre nicht auf die Beine gekommen ist, und in diesem Land wirkt sich eine solche Katastrophe doppelt und dreifach aus.

Hanselmann: Ein sehr düsteres Bild zeichnet der Leiter der britischen Hilfsorganisation Oxfam, Herr van Hauwermeiren, er sagt, das Jahr 2010 war das Jahr der verpassten Chancen für den Wiederaufbau Haitis, nur 5 bis 15 Prozent des Schutts seien weggeräumt, und 15 Prozent der Übergangsbehausungen gebaut worden. Warum ging das so langsam voran?

Dieckmann: Das hat sehr viele Gründe. Einmal liegt es natürlich an der Fülle der zerstörten Gebäude, ich bin da immer sehr vorsichtig, auch in anderen Ländern, Italien, aber auch Deutschland, nach dem Krieg ist es nicht nach einem halben Jahr aufgeräumt gewesen. Es hat aber auch natürlich Gründe, dass es noch mehr Gerät geben müsste, da wo mit Handarbeit was zu machen ist, haben die Menschen angepackt, aber es liegen eben riesige Gebäude wie der Präsidentenpalast, es sind Trümmer von Tonnen Gewicht, die muss man mit schwerem Gerät wegräumen.

Es liegt auch daran, dass es im Moment keine funktionierende Regierung gibt - die Präsidentenwahlen stehen aus, der zweite Wahlgang muss durchgeführt werden, das heißt, immer schon fragile Regierungen oder schwache Regierungen, diktatorische Regierungen sind jetzt überhaupt ... sie ist überhaupt nicht handlungsfähig. Deshalb ist für mich übrigens die Präsidentenwahl auch ein Schlüssel für die nächsten Wochen, die ein Stück zum Fortschritt beitragen kann.

Hanselmann: Das heißt, es fehlt an Ansprechpartnern, an kompetenten Ansprechpartnern?

Dieckmann: Ja, es fehlt an Ansprechpartnern, es werden viele Entscheidungen nicht getroffen, es gibt zum Beispiel ungeklärte Eigentumsverhältnisse in Haiti, es gibt keine Kataster, vor Ort gibt es oft die Bürgermeister, wir versuchen, ganz eng mit den Kommunalen zusammenzuarbeiten, aber viele große Entscheidungen sind noch nicht getroffen worden.

Hanselmann: Worauf legen Sie, worauf legt Ihre Organisation zurzeit das Schwergewicht?

Dieckmann: Ja, also wir haben am Anfang Nothilfe, Nothilfe, Nothilfe, das haben fast alle Organisationen gemacht, also Nahrungsmittel, Zelte, Wasser, Medikamente. Die Phase ist dann eine Phase von sechs, sieben Wochen.

Inzwischen ist das: erste Häuser bauen, Häuser reparieren, also Unterkünfte schaffen, und zwar auch außerhalb von Port-au-Prince, weil viele Leute Port-au-Prince auch verlassen haben, sind zu Verwandten aufs Land gegangen, es gibt ein hohes Interesse, dass die da bleiben, Schulen reparieren, dann natürlich weiterhin auch die Nahrungssicherung, damit nicht noch eine katastrophale Ernährungssituation entsteht, und Wasser, das ist auch ganz wichtig gewesen, sauberes Wasser.

Und wir haben uns jetzt vor einigen Wochen entschlossen, auch bei der Cholerabekämpfung uns zu beteiligen, und zwar nicht mit Ärzten, weil wir keine spezialisierte Gesundheitsorganisation sind, aber wir unterstützen eine Reihe von Gesundheitsstationen, in denen kubanische Ärzte arbeiten, mit Infrastruktur, also mit Medikamenten, mit sauberem Wasser, mit Hygienemitteln, damit die Cholera sich nicht weiter ausbreitet.

Hanselmann: Die Häuser, die Sie eben erwähnt haben, sind ganz spezielle Holzhäuser, so habe ich gelesen.

Dieckmann: Ja.

Hanselmann: Was hat es damit auf sich?

Dieckmann: Ja, das ist aus ökologischem Holzanbau, es ist praktisch ein, wenn Sie so wollen, standardisiertes Haus, was in mehreren Werkstätten hergestellt wird. Das ist relativ eben schnell herstellbar, es ist erdbebensicher, und woran man sehen kann, wie arm Haiti auch vorher war, ist, dass ich selbst erlebt habe, dass Menschen zu mir sagen, sie haben sich nicht vorstellen können, noch mal in ihrem Leben ein so schönes Haus zu bekommen, und es handelt sich dann um ein Holzhaus mit zehn Quadratmetern Grundfläche. Also die haben auch vor dem Erdbeben nicht in großen wohlhabenden Häusern gewohnt.

Hanselmann: Wo nehmen Sie das Holz her? Haiti soll praktisch abgeholzt sein.

Dieckmann: Aus der Dominikanischen Republik, und das ist zertifiziertes Holz, das versuchen wir ja immer, wir versuchen, so gut es geht in der Region zu kaufen, um auch in der Region eben die Kaufkraft herzustellen. Übrigens haben wir ganz viele, und das machen wir auch weiter, Cash-for-Work-Programme durchgeführt, also diese Häuser werden von Einheimischen, werden von Betroffenen gebaut, genauso wie Trümmer wegräumen, die Straßen freimachen. Wir sind über Straßen gefahren, die waren auch vorher schon in katastrophalem Zustand, und dann kommen eben jetzt noch die Erdbebenfolgen. Damit wird auch wieder Geld verdient, viele Menschen sind ja arbeitslos, damit einfach Wirtschaft auch wieder in Gang kommt.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Barbara Dieckmann von der Deutschen Welthungerhilfe über die Situation in Haiti ein Jahr nach der Erdbebenkatastrophe. Frau Dieckmann, es sind rund 12.000 Hilfsorganisationen in Haiti anwesend, eine unglaubliche Zahl, teils mit sehr jungen und unerfahrenen Mitarbeitern. Wie ist das, schadet das der Bevölkerung mehr, als es hilft, auf längere Frist gesehen?

Dieckmann: Ich bin da sehr vorsichtig. Es sind ungefähr 600 größere Erfahrene, es sind viele Kleine, es sind zum Teil Einzelinitiativen von Haitianern, die lange im Ausland leben, die jetzt irgendwo einen Kindergarten, eine Schule unterstützen. Die großen Hilfsorganisationen haben zum Teil langjährige Erfahrungen in der Nothilfe, auch in Haiti, die stimmen sich übrigens auch ab.

Die Welthungerhilfe ist zum Beispiel seit 1974 da, wird sind auch bewusst dann wieder in die Region vorrangig gegangen, die wir schon kannten, wo wir Strukturen kennen, wo es Kontakte gibt. Ohne die Hilfsorganisationen – ich sage das ganz deutlich, und da mag auch mal ein Fehler passieren, das will ich überhaupt nicht ausschließen – wäre die Situation der Menschen katastrophal.

Es hapert im Moment nicht bei den Hilfsorganisationen, sondern es mangelt an einer ausreichenden Koordination in einem Koordinationsgremium, das es ja gibt, an dem übrigens auch die Hilfsorganisationen, die haben sechs Vertreter entsandt, die auch von den Organisationen ausgewählt worden sind. Es mangelt da an der Koordination, und dann an der Durchsetzung durch die Regierung. Ich sage mal, Eigentumsfragen können wir nicht lösen als Hilfsorganisation, das ist am Ende eine Regierungsfrage.

Hanselmann: Einen Punkt muss ich unbedingt noch ansprechen. Ich habe es in der Anmoderation erwähnt, dass die Staatengemeinschaft Milliarden Dollar zugesagt hat für Haiti. Warum kommen die dort nicht an beziehungsweise warum wird das Geld gar nicht erst losgeschickt, und wieso halten diese Länder ihre Versprechen nicht ein?

Dieckmann: Also ich sage mal, ich teile das nicht ganz, weil natürlich immer klar war, dass man diese Milliarden nicht im ersten Jahr ausgeben kann. Das heißt, das Geld muss dann fließen, wenn es notwendig ist. Es ist eine große Summe schon geflossen. Wir haben zum Beispiel ein Fünf-Jahres-Programm gemacht, wir haben das auch nicht alles im ersten Jahr ausgegeben. Deshalb bin ich da ein bisschen vorsichtig. Ich glaube, dass im Moment nicht in erster Linie Geld das Problem ist, sondern dass die Entscheidung darüber, wo und wie das Geld ausgegeben wird, das Problem ist. Sollte es so kommen, dass die Länder nicht zahlen, ihre Zusagen, ist das ein anderes Problem, aber das sehe ich im Moment noch nicht.

Hanselmann: Haiti war schon vorher eins der ärmsten Länder der Welt, es hat verschiedene politische Systeme, verschiedene korrupte Systeme überstanden, aber jetzt hat sich die Armut noch zugespitzt. Was meinen Sie, Sie haben es ja selber gesagt, das politische System liegt am Boden und gebildetere Haitianer wandern aus – was glauben Sie, wie schätzen Sie denn die Erfolgschancen überhaupt ein jetzt beim Wiederaufbau?

Dieckmann: Ja, ich sage mal, ich versuche immer mehr ein Stück noch meinen Optimismus zu erhalten. Natürlich ist das eine grauenhafte Geschichte und eine Geschichte auch des Misserfolgs. Ich habe andererseits Menschen kennengelernt – und unsere Mitarbeiter sagen das auch, die lange da sind und die von anderen Organisationen, mit denen ich gesprochen habe –, die aktiv sind, die ihre Zukunft gestalten wollen, die Wert auf ihre Kinder legen.

Wir haben Menschen getroffen, die gerade ein Einkommen wieder haben und das nutzen, um die Schule zu bezahlen, 80 Prozent der Schulen sind Privatschulen, weil sie wollen, dass aus ihren Kindern was wird. Und manchmal gibt es ja auch die Situation, dass eine solche Katastrophe einen noch mal neu beginnen lässt. Die Haitianer selbst sprechen übrigens auch nicht von Restauration, also Wiederherstellen, sondern von Erneuern, von rénovation.

Ich glaube, das ist das Denken, was man jetzt im Moment anwenden muss. Aber ich gebe zu, dass es auch ein bisschen, ja, von Optimismus getragen ist, weil es nicht so weitergehen kann, und ich viele Menschen getroffen habe, die entschlossen sind, diese Katastrophe jetzt doch zum Guten zu wenden.

Hanselmann: Vielen Dank, Barbara Dieckmann, Präsidentin der Deutschen Welthungerhilfe, über Hilfe für Haiti, das heute vor einem Jahr von der Erdbebenkatastrophe heimgesucht wurde. Dankeschön, Frau Dieckmann!

Dieckmann: Vielen herzlichen Dank, einen schönen Tag wünsche ich Ihnen. Danke!

Hanselmann: Ihnen auch, danke!