Die eigenen Hemmschwellen überschreiten

Von Carolin Pirich |
Die Mitglieder sind bei jeder Probe andere und die Sänger müssen nicht einmal Noten lesen können: Der Ich-kann-nicht-singen-Chor aus Berlin ist ein niederschwelliges Angebot für Leute, die zwar gern singen, sich aber eigentlich nicht trauen.
Nein, das sind nicht wir. Noch nicht. Unser Chor heißt heute "Ich-kann-nicht-singen-Chor". Das hier ist der Jazzchor Berlin Vokal. Mit ihnen sollen wir in drei Stunden zusammen singen. Sie auf der Bühne, wir unten im Saal.

Um 11 Uhr versuchen wir es noch allein mit "Raummusik". Ein schönes Wort für das Chaos. 80 Personen singen einen langen Ton, jeder für sich, wie hoch oder tief er will. Draußen sticht die Sommersonne herab. Drinnen im Radialsystem in Berlin, in einem fensterlosen Saal mit Holzboden, dagegen ist es angenehm kühl. Musternde Blicke. Fünf, sechs Männer, sonst Frauen: Die jüngste ist zwölf Jahre alt, die älteste vielleicht Mitte 70. Sie tragen Kleider, Röcke, weite Hosen, jedenfalls etwas Luftiges.

"Guten Tag meine Damen und Herren. Mein Name ist Michael Betzner-Brandt und Euer Name ist der 'Ich-kann-nicht-singen-Chor'. Ich freue mich, dass Ihr hier seid, im Radialsystem. Was haben wir denn heute vor: Wir arbeiten an unserer Selbstauflösung. Am Ende werden wir sagen: Ich kann eigentlich doch ein bisschen singen."
Der Mann, der Großes vor hat, ist der Chorleiter. Ein dynamischer Enddreißiger in Turnschuhen, der seine grauen Locken zu einem Zopf zusammenbindet. Die Mitglieder des "Ich-kann-nicht-singen"-Chors wechseln - er bleibt. Michael Betzner-Brandt leitet fünf professionelle Chöre und unterrichtet Chordirigieren an der Universität der Künste in Berlin. Aber er findet, es sollte auch ein "niederschwelliges Angebot" für Leute geben, die zwar gern singen, sich aber eigentlich nicht trauen.

"Es sind viele Leute, die singen in Situationen, in denen sie sich wohl fühlen. Sie singen unter der Dusche, da ist warmes Wasser, und dann klingt es auch noch gut im Badezimmer mit gekachelten Wänden. Und wenn man in so einem Klang ist – ich weiß nicht, was im Körper passiert - aber singen macht glücklich."

Beim ersten Mal kamen zum "Ich-kann-nicht-singen"-Chor in die Probe 350 Menschen. Da war es noch nicht so warm draußen. Beim zweiten Mal waren es 70. Heute steht Michael Betzner-Brandt zum dritten Mal in einer Menschenmenge. Alle Augen richten sich auf ihn.

Jetzt muss er uns davon überzeugen, dass wir unsere Hemmschwelle überschreiten.

"Pflückt mal alle einen Ton von der Decke. Haltet den so in der Mittellage und lasst ihn fallen."

Einer nach dem anderen greift in die Luft und streckt dann die Hand aus als biete er ein Stück Kuchen an. Einer der wenigen Männer sieht aus, als wäre er stolz auf seine Töne.

Barbara ist Ende 30, eine sehr große schlanke Dame mit fein geschnittenem Gesicht und kurzem, dunklem Haar. Sie will gerne singen, aber nicht in einem normalen Chor, wo alle zeigen wollen, wie gut sie sind:

"Das nervt, das macht keinen Spaß. So ein bisschen rumprobieren können, auch nicht nur singen, was vorgegeben ist, so ein bisschen spielerisch. Das würde ich gerne machen."

In den nächsten beiden Stunden vergeht kaum eine Minute ohne Geräusch. Wir bilden einen riesigen Kreis und werfen uns Töne zu wie Bälle. Das soll die Hemmschwelle überwinden.

Dann verteilt Michael Betzner-Brandt Zettel auf dem Boden. Jeder Bereich hat eine bestimmte Funktion. Lange Töne singen. Ein Motiv singen. Ein rhythmisches Grundmuster. Einen Bereich zum Zuhören gibt es auch. Und einen Solo-Bereich mit Mikrophon an einem Ständer. Ein paar Frauen schleichen um ihn herum. Dann trauen sich überraschend viele, ihre Soloqualitäten zu testen.
Natalie ist 12 Jahre alt, die jüngste.

"In der 6. Klasse hatte ich mal ein Solo beim Sommerkonzert in der Schule und da hat meine Stimme aufgehört. Seitdem traue ich mich nicht mehr, eigentlich."

Sie fand es zwar gerade "gruselig", solo zu singen, wie sie sagt, aber hier hat es ganz gut geklappt. Außerdem:

"Die sind alle gut drauf, das ist schön."

"Jetzt versucht mal jeder ein Motiv zu singen, dass er oder sie dann beibehält."

Es wird ernst: Der Chorleiter sortiert uns in Gruppen. Jede Gruppe einigt sich auf ein Motiv. Erst klingt es anarchisch. Aber nach einer Weile einigt sich das Chaos auf eine Harmonie, wenn auch eine zurückhaltende, dennoch: eine Harmonie.

"Wenn wir hier ohne Noten singen, da muss man sich fragen, was ist ein falscher Ton? Nur, wenn man mit wenig emotionaler Beteiligung singt! Wenn dann jemand mit wenig stimmlicher Übung dudududududab singt, was seiner Stimmung entspricht, dann gibt es eine Ahnung davon, wie es dem geht. Dem geht es ein bisschen dudududududab."

Einige sinken schon müde auf gepolsterte Hocker, als der Profi-Chor sich auf der Bühne positioniert. Mit ihm zusammen improvisieren wir jetzt. Besser gesagt: die anderen. Drei Stunden laut mitgesungen – jetzt reicht die Kraft gerade noch dafür, das Mikrofon in die Menge zu halten. Es sinkt auf die Höhe von Tristan, einem blonden Siebenjährigen, der auf einem Hocker sitzt und mit den Knien im Takt wippt. Er ist auch etwas müde. Aber:

"Schön fühlt sich singen an, irgendwie. Singen fühlt sich schön an."

Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.