Die edlen Wilden waren echt

10.03.2008
Indianer-Fans dürfen aufatmen: Karl Mays Bild von der edlen Rothaut in den Weiten der nordamerikanischen Prärie ist nicht nur Mythos, sondern Realität - zu diesem Ergebnis kommt zumindest Thomas Jeier in seinem Werk "Das große Buch der Indianer". Eine Neuerscheinung, die das Zeug zum Standardwerk hat.
In einer amerikanischen Talk-Show wurde er als bester Indianer-Kenner Europas angekündigt, der Deutsche Thomas Jeier, Jahrgang 1947. Jeier hat sein Leben dem Thema Indianer verschrieben, ob als Journalist für Rundfunk und Fernsehen oder als Autor von zahlreichen historischen Romanen und Reisebüchern; er hat auf über 50 Reisen alle 50 Staaten der USA und Kanada bereist. Seine lebenslange Arbeit hat Jeier nun in einem Sachbuch zusammengefasst: "Das große Buch der Indianer - Die Ureinwohner Nordamerikas".

Der Autor geht ethnografisch wie topografisch vor. Von Kanada bis zum Golf von Mexiko porträtiert Jeier acht große Völkerschaften mit insgesamt 29 Stämmen, was das Buch sehr übersichtlich macht. In abgeschlossenen Kapiteln wird jede der einzelnen Völkerschaften - von den pazifischen Walfängern im Nordwesten bis zu den agrarischen Kulturen in Florida - historisch, politisch und kulturell vorgestellt.

Hinzu kommen zwei weitere Kapitel, eins zur Situation der Indianer heute und ein Reiseführer. "Das große Buch der Indianer" ist akribisch recherchiert und zeichnet sich durch ein perfektes Layout aus. Was das Buch aber darüber hinaus herausragend wertvoll macht, das sind die vielen und zum Teil sehr seltenen Fotografien - über 300, ausgeführt in hervorragendem Druck auf wirklich angemessen edlem Papier, zu einem äußerst fairen Preis.

Der Leser darf geballtes Wissen erwarten, aber das Buch lädt auch zum Blättern ein, wobei man unweigerlich magisch von den Fotos angezogen wird und auf kurze Einzelgeschichten trifft: Schöpfungsgeschichten, Porträts einzelner historischer Indianer, Frauen wie Männer, Augenzeugenberichte von Massakern und Friedensverhandlung - ein Buch mit einem starken Sog, sprachlich und stilistisch gut gelungen.

Neben einer lückenlosen historischen Anthologie der nordamerikanischen Indianer eröffnet Autor Thomas Jeier einen tiefen Einblick in die sozialen Strukturen der Indianer, mit einem für den Laien sicherlich überraschenden Resultat: Karl Mays Bild vom "edlen Wilden" entsprach der Wirklichkeit. Trotz der Vielfältigkeit der insgesamt 500 nordamerikanischen Indianer-Völker lässt sich bei fast allen Stämmen eine ähnliche Weltanschauung finden, die nach einem Werte-System funktionierte, wie wir es uns in Europa immer wieder erträumen: Ökologie, Achtung der Natur, Toleranz.

Homosexualität zum Beispiel wurde toleriert. Frauen konnten die Scheidung aussprechen. Es galten Demokratie und ein verbindlicher Ehr-Begriff, Ehre allerdings nicht als Ideologie oder Heroismus, sondern als Prinzip der Gegenseitigkeit - so gab es bei den Kriegern eine "Hit-Liste" der Ehren: Einen Feind zu töten, rangierte erst auf Platz zehn. Ihn nur zu berühren, ohne ihn zu verletzen, galt als die ehrenhafteste Form, Ruhm zu erlangen und Mut zu beweisen. Die indianischen Kulturen zeichneten sich durch Menschlichkeit aus; das Kind, das Kindliche und das Spiel standen im Vordergrund des sozialen Lebens.

"Das große Buch der Indianer - Die Ureinwohner Nordamerikas" hat die Qualitäten eines Standard- und Nachschlagewerkes. Es ist gleichzeitig auch ein Reiseführer, bietet packende Sachbuchliteratur und auch noch hilfreiche Internet-Links: also eine gute Einstiegsdroge für Anfänger und wegen der vielen, zum Teil sehr seltenen Fotos ein unverzichtbares Erlebnis für Insider.

Rezensiert von Lutz Bunk

Thomas Jeier: Das große Buch der Indianer – Die Ureinwohner Nordamerikas
Ueberreuter Verlag 2008
304 Seiten, 350 Fotos und Landkarten, 24.95 Euro