Die dunkle Seite des Dionysischen

Von Michael Böhm |
Es ist paradox: Heute unterbinden Erzieher oft schon jede kleinste Rauferei im Kindergarten, suchen Konfliktprogramme an Schulen Prügeleien zu verhindern - doch laut einer Studie hat jeder fünfte Hauptschüler schon einmal so hart zugeschlagen, dass sein Opfer zum Arzt musste.
Auch versuchen Fußballklubs mit Fanprojekten das Treiben von Hooligans in Stadien einzudämmen, verläuft kein erster Mai ohne "deeskalierende Maßnahmen" – doch nach der Statistik der Polizei, schlägt ihr bei Großveranstaltungen immer massivere Gewalt entgegen. Ganz zu schweigen von Medienberichten, in denen Rowdys Passanten zu Tode treten oder Schüler mit Gewehren um sich schießen.

Noch nie, das ist sicher, war in Deutschland Gewalt so geächtet, aber noch nie, so scheint es, war die Hemmschwelle so niedrig, sie auszuüben. Gewalt ist ein soziales Problem, sagen die einen und dass sie eher in der Unterschicht vorkommt; Gewalt wird bestärkt durch Killerspiele am Computer, sagen die anderen und dass sie zu verbieten sind; Gewalt, so sagen wieder andere, gehört bekämpft und ausgetrieben; Gewalt gab es schon immer und überall – sagen Ethologen und Philosophen. Für sie ist Gewalt eine Grundstruktur des Menschen: Für Konrad Lorenz war sie das "sogenannte Böse", das allenfalls weggezüchtet werden könne und für Carl Gustav Jung die "andere Seite" des Selbst, ohne die der Mensch keine Ganzheit finde.

So ist Gewalt Bestandteil einer jeden Kultur: Für die Griechen verkörperte Apollon die Ordnung der Welt, die aber stets bedroht war durch die destruktive Kraft des rauschhaften Dionysos; und selbst das Christentum begann mit dem Tod des Erlösers am Kreuz, bis heute ist diese Bluttat präsent – in der Idee, sie sei gottgewollt. Aber dennoch versucht die westliche Welt, bis heute Gewalt zu verdrängen: Das Christentum predigt Gewaltlosigkeit, und in seinem Gefolge versprach die Aufklärung, Gewalt sei durch Vernunft zu besiegen. Der technische Fortschritt beflügelte diese Idee: Mit ihm gedieh der Reichtum – und so schien auch er dem rationalen Geist entsprungen.

Im 19. Jahrhundert begann sich so die Gesellschaft von Gewalt zu entgiften: mit Pädagogen, die meinten, Strafe müsse nun weniger den Körper denn die Seele disziplinieren; mit "Friedensgesellschaften", die Kriege verbieten wollten; mit Bürgern schließlich, die immer mehr Sicherheit forderten, weil die Städte wuchsen, die ihnen Wohlstand brachten. Die Menschen, die in früheren Epochen Gewalt noch häufig sahen, ertrugen und ausübten, entfremdeten sich von ihr: gemäß der modernen Fortschrittslogik, die immer komplexere Maschinen schafft, um zu produzieren und immer rationalere Köpfe braucht, um sie zu bedienen.

Wie das Dionysische sich heute in unserer individualisierten Kontrollwelt in Massenpartys wie der Love Parade zu einem neuen Kollektivismus entlädt, so ist auch die dunkle Seite des Dionysischen in und unter uns geblieben – und sei es nur als Imagination: Das zeigen nicht zuletzt Kino und Fernsehen, die vielleicht deshalb immer blutrünstiger werden, da man im normalen Leben gewöhnlich keinen toten Menschen mehr sieht. Gewalt – vielleicht verschafft sie sich tatsächlich dort umso stärker eine Bahn, wo man versucht, sie auszugrenzen.

Wir sollten sie daher als anthropologische Konstante betrachten und sie integrieren in unser Leben, um ihre Zügellosigkeit zu verhindern. Offenbar ist es nicht gewaltlose Erziehung, was wir heute brauchen, sondern Erziehung zum bewussten Umgang mit Gewalt: Eine Pädagogik, die sie nicht verleugnet und verdrängt, sondern, die davon ausgeht, dass sie denkbar ist und ihre Grenzen und Regeln benennt.

Warum nicht Kampfsport in den Schulen fördern, das Boxen und Ringen? Gerade in ihrer sportlichen Variante verfügt Gewalt heute noch über Hegungen, die in ihren anderen Formen oft verschwunden sind. Aggressive Spannungen könnten sich so geordnet entladen und wer weiß: Vielleicht führt es dazu, dass – wenn es denn sein muss – sich Menschen wieder ritualisierter und damit zivilisierter prügeln, statt besinnungslos aufeinander einzutreten oder sich dadurch gar zu töten.

Vor allem aber sollte man vom Moralismus lassen, der Gewalt mit der "Null-Toleranz-Idee" immer mehr verteufelt. Denn mit der Gewaltlosigkeit ist es wohl wie mit dem Glück. Dieses sei eine neue Idee in Europa, sagte einst Saint-Just, der französische Revolutionär. Aber wie man weiß, pulste dafür das Blut Tausender von den Schafotten in den Staub der Marktplätze.


Michael Böhm, Publizist, geboren 1969 in Dresden, studierte Politikwissenschaft in Berlin und Lille und lebt als freier Publizist in Berlin. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften, so unter anderem für "Du - Das europäische Kulturmagazin". Letzte Buchveröffentlichung: "Alain de Benoist - Denker der Nouvelle Droite".
Michael Böhm
Michael Böhm© privat