Reformpädagogik
Noch kurz vor ihrem Tod befürwortete Maria Montessori die Errichtung eines „Ministry of Race“. „Man könnte es übersetzen mit ‚Ministerium zur Verbesserung der menschlichen Rasse‘“, so die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter. © IMAGO / piemags / IMAGO
Die dunkle Seite der Maria Montessori
Das pädagogische Konzept von Maria Montessori wird heute überwiegend positiv wahrgenommen. Die Schattenseiten in ihrem Werk und in ihrem Denken sind weniger bekannt. Darauf legt die Pädagogikprofessorin Sabine Seichter einen Fokus.
Mit der Montessori-Pädagogik verbindet man meistens Schlagworte wie „selbstbestimmtes und soziales Lernen“ oder „Kinder als Baumeister ihrer selbst“. Montessori-Schulen verzichten weitgehend auf Frontalunterricht, setzen auf selbständige Gruppen- und Projektarbeiten und führen ihren Unterricht in altersgemischten, jahrgangsübergreifenden Klassen durch. In vielen Montessori-Einrichtungen wird eine kindgerechte Pädagogik umgesetzt.
Die Namensgeberin dieses Konzepts, die italienische Ärztin und Biologin Maria Montessori (1870 - 1952), erscheint in einem bedenklichen Licht, wenn man sich ihre Schriften anschaut. Ihr Hauptwerk wurde erst vor wenigen Jahren erstmals auf Deutsch übersetzt. Das könnte ein Grund sein, warum einige Aspekte ihres Denkens einer breiten Öffentlichkeit bisher nicht bewusst waren.
Das vor Kurzem erschienene Sachbuch der österreichischen Pädagogikprofessorin Sabine Seichter, „Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind“, offenbart die dunkle Seite der montessorischen Gedankenwelt: ihr Eintreten für Eugenik und die sogenannte Rassentheorie.
Warum ist die Montessori-Pädagogik so beliebt?
Entwickelt hat die Italienerin Maria Montessori ihr pädagogisches Konzept als junge Ärztin. Dafür begleitete und beobachtete sie Kinder mit erhöhtem Förderbedarf und geistigen Behinderungen. Auf dieser Grundlage entwickelte sie ihre ersten Lernmaterialien. Daraus entstanden die Grundzüge der Pädagogik, die heute nach ihr benannt ist.
Auf der Webseite von Montessori Deutschland kann man diese Grundsätze nachlesen: „Das Ziel der Montessori-Pädagogik ist, das individuelle Wachstum von Kindern und Jugendlichen so zu fördern, dass sie in einem hohen Maß frei und ganzheitlich lernen und gleichzeitig ihren Platz in der Welt erkennen. Außerdem sollen sie sich die Fähigkeit aneignen, Verantwortung für sich zu übernehmen und am Frieden in der Gesellschaft mitzuwirken.“
Der Aufbau eines guten Lern- und Arbeitsverhaltens gelingt nach Auffassung Maria Montessoris am besten in einer altersgemischten Gruppe. Diese sei die natürlichste Form einer menschlichen Gemeinschaft – wie eine Familie, in der immer Menschen verschiedenen Alters zusammenlebten.
Im Mittelpunkt steht das Kind und nicht das Schulsystem
Was vielen Eltern gut daran gefällt: Das forschende, entdeckende Lernen wird besonders gefördert, im Mittelpunkt steht das Individuum Kind, nicht das Schulsystem. Das geschieht idealerweise in einer freundlich zugewandten Atmosphäre, in der die Kinder ermuntert werden, Probleme eigenständig und kreativ zu lösen.
In der Schule erschließen sie sich zum Beispiel über mehrere Monate ein bestimmtes Thema – Klimawandel, Umweltschutz, Dinosaurier, Europäische Union etc. –, um dieses in einer Projektarbeit aufzubereiten, die sie anschließend präsentieren müssen.
Im Montessori-Schulalltag können die Kinder meistens selbst entscheiden, welche Aufgaben sie wann und wie lösen, ohne den Druck von Schulnoten. Denn ähnlich wie an Waldorfschulen werden statt einer Benotung regelmäßig Einschätzungsgespräche geführt und entsprechende Berichte verfasst.
Rund 40.000 Montessori-Einrichtungen weltweit
Noten wie an anderen Schulen führen viele Montessori-Schulen dann aber doch mit Beginn der Oberstufe, meistens schon etwas früher ein.
Weltweit existieren rund 40.000 Montessori-Einrichtungen, alleine in Deutschland gibt es über 1.000 Kinderhäuser (Kindergärten) und Schulen. Die meisten sind Privateinrichtungen. Die Schulen haben eine staatliche Anerkennung. Alle Schulabschlüsse können dort gemacht werden. In einigen Bundesländern wie etwa in Berlin gibt es auch einige staatliche Kitas und Schulen mit Montessori-Ansatz.
Welche Kritik gibt es an Maria Montessori?
So positiv und fortschrittlich Montessoris Ansatz heute wahrgenommen wird: Ihr erklärtes Ziel war, das perfekte Kind zu „erschaffen“. Es sollte nicht nur intellektuell und moralisch, sondern auch körperlich vollkommen sein. Das geht aus dem kürzlich erschienenen Buch der Erziehungswissenschaftlerin und Pädagogikprofessorin Sabine Seichter hervor. Sie trägt darin Ansichten und Äußerungen von Montessori zusammen, die im Prinzip schon lange bekannt sind, weil sie in ihren Schriften nachzulesen sind.
Montessoris Rassenideen
Dazu gehört, dass sich die von 1870 bis 1952 lebende Ärztin – als Pädagogin bezeichnete sie sich selbst nie –intensiv mit Eugenik und der sogenannten Rassentheorie beschäftigt hat und dass sie den Ideen des Faschismus gegenüber nicht abgeneigt war.
„Ihr Denken speist sich vor allem aus eugenischen Ansichten der Zeit, aus einer sehr fundierten rassenanthropologischen Perspektive, die sie als Medizinerin, als Biologin von ihren ersten Schriften bis ein Jahr vor ihrem Tod kontinuierlich publiziert, verkündet und propagiert hat“, sagt die österreichische Pädagogikprofessorin Sabine Seichter.
Das perfekte Kind war für Montessori dabei "das Kind einer perfekten Rasse", so Seichter. Diese perfekte Rasse sei "der Inbegriff und das Narrativ des weißen europäischen Mannes. Sie stellt sich ständig griechische Schönheitsstatuen vor, die körperlich makellos sind, ästhetisch vollkommen. Und ihr Traum, ihre Vision, fast schon Obsession war es nun, aus diesen Statuen, die in Marmor gehauen sind, das Kind aus Fleisch und Blut zu erzeugen, zu züchten, also ein Kind, das perfekt ist.”
Stigmatisierendes Menschenbild
Ihrem Menschenbild nach gab es die sogenannten "normalen" und "anormalen“ Menschen – also Menschen mit weniger intellektuellen Fähigkeiten oder körperlicher Behinderung. Deshalb findet Seichter es „grotesk“, wenn Montessori von Anhängern ihrer Pädagogik auch als Vorreiterin der Inklusion betrachtet wird, denn „sogenannte ‚anormale‘ Kinder nannte Montessori unverblümt ‚Monster‘ und ‚Parasiten der Gesellschaft‘“.
Für Montessori sei klar gewesen, dass diese von sogenannten „normalen Kindern“ in Erziehungseinrichtungen getrennt werden müssten. „Denn aus den sogenannten Normalen sollte eine bessere Gesellschaft in der zukünftigen Zeit aufgebaut werden.“
Hitler und Mussolini sah Montessori als Verbündete
Auch der Pädagoge Heinz-Elmar Tenorth, emeritierter Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, sieht Montessori und ihr Werk sehr kritisch. Er könne es nach wie vor kaum ertragen, die Schriften mit ihren Gedanken über das perfekte Kind zu lesen, sagt der Forscher. „Dafür hat sie Propaganda gemacht und dafür hat sie Verbündete gesucht von – man muss das ganz deutlich sagen – Hitler bis Mussolini, von denen sie meinte, dass sie die einzigen seien, die ihr helfen könnten, ein solches Kind zu produzieren.“
Offenbar ist sie von dieser Idee auch nach dem Ende des Faschismus in Italien und Deutschland nicht abgerückt. Noch 1951, kurz vor ihrem Tod, befürwortete sie die Errichtung eines „Ministry of Race“. „Man könnte es übersetzen mit ‚Ministerium zur Verbesserung der menschlichen Rasse‘“, erläutert Sabine Seichter. „Weil sie überzeugt war, dass es nach wie vor einer politischen Steuerung bedurfte, um die Reproduktion, also den Nachwuchs eines Landes, zu steuern und zu planen.”
Warum wurde Montessoris pädagogisches Konzept so wenig hinterfragt?
Von den Schattenseiten der Montessori-Pädagogik scheint heute wenig bekannt zu sein. Stattdessen wird ihr Konzept Größtenteils positiv bewertet. Das mag hierzulande auch mit daran liegen, dass ihr Hauptwerk erst seit fünf Jahren als deutschsprachige Übersetzung vorliegt. Ein weiterer Grund ist aus Sicht von Heinz-Elmar Tenorth die Fähigkeit von Montessori gewesen, „Mitakteure zu finden, die sie weltweit überzeugen konnte, dass das, was sie tut, die beste, kinderfreundlichste Pädagogik ist“. Schon zu Lebzeiten war sie ein Medienstar, der sich international vermarktete. Ihre Anhänger hätten sich dann von anderslautenden Nachrichten und Texten „überhaupt nicht irritieren lassen“.
Heute würden viele Montessori-Einrichtungen außerdem auch nicht mehr eine reine, pure Montessori-Pädagogik vertreten. „Da wird unter dem Namen Montessori eine ganz eigene und dann wirklich zuwendende, kinderfreundliche Pädagogik gemacht, die mit den Fantasien von Maria Montessori nicht viel zu tun hat.“
Ist der Montessori-Ansatz für alle Kinder geeignet?
Dass es an Montessori-Schulen wie an Waldorfschulen keine Noten gibt, wird häufiger mal kritisiert: Dies widerspreche der rauen Realität der Leistungsgesellschaft, der sich die jungen Menschen spätestens nach dem Schulabschluss stellen müssten, heißt es dann. Da es aber etliche prominente Beispiele von Montessori-Schulabsolventen gibt, die später Unternehmensgründer oder Konzernlenkerin wurden – Jeff Bezos (Amazon), Larry Page (Google), Jimmy Wales (Wikipedia), Simone Bagel-Trah (Henkel) – braucht man sich darum vielleicht keine großen Sorgen zu machen.
Von Schulen, die die Montessori-Lehre eins-zu-eins umsetzen, rät der Pädagoge Heinz-Elmar Tenorth Eltern jedoch aus einem anderen Grund ab, wie er betont: Wie andere reformpädagogische Ansätze hat auch der von Montessori für ihn etwas „Dirigistisches“, das die Kinder „normiert“.
Eltern sollten jede Einrichtung einzeln bewerten
Viele Montessori-Einrichtungen vertreten diese stark reglementierte Pädagogik in der ursprünglichen Form inzwischen nicht mehr oder haben sie gar nicht erst eingeführt, wie Tenorth erklärt: „Zum Glück, würde ich sagen, sind viele Montessori-Kindergärten und -Schulen nicht Stätten einer reinen, puren Montessori-Pädagogik. Sie benutzen den Namen, leben davon, werben auch damit, machen aber eine Pädagogik, die wirklich kinderfreundlich ist“ – weil sie eben nur einige, aber nicht alle Ideen von Montessori im Schul- oder Kitaalltag umsetzen. Eine Montessori-Einrichtung kann also trotz der Überzeugungen ihrer Namensgeberin eine gute Schule oder ein guter Kindergarten sein.
Abgesehen davon sind speziell die Montessori-Schulen nicht für alle Kinder gleichermaßen geeignet. Schülerinnen und Schüler sind dort zwar weniger einem Leistungsdruck ausgesetzt. Doch während ein Schulalltag mit freierem Lernen für das eine Kind ideal ist, überfordert es das andere: Wer Lernprobleme hat und sich nicht gut konzentrieren und strukturieren kann, braucht deutlich mehr Begleitung und Anleitung beim Lernen.
mkn, lkn, jfr