Die dramatische Melodie eines Großmutterlebens
Wie schon in einem seiner früheren Romane verschränkt Peter Henisch auf angenehm lesbare Art die große mit der kleinen Geschichte. Dass das 20. Jahrhundert unerhört viel menschliches Unglück mit sich gebracht hat, ist nicht neu. Gut zu lesen aber, wie hier eine Frau der fortgesetzten Misere hartnäckig Glücksmomente abtrotzt – mit einem Klavier, mit vielen Romanen, im Umgang mit dem Enkel.
Ein Schriftsteller, der seit langem nicht mehr geschrieben, sondern an einer amerikanischen Universität österreichische Literatur unterrichtet hat, kehrt zurück in seine Heimatstadt Wien. Anscheinend hatte Paul Spielmann längst abgeschlossen mit seinem früheren Leben, war nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter herübergekommen. Nun aber, auf seinen Streifzügen durch die Straßen seiner Kindheit, überwältigt ihn die Erinnerung.
Er beschließt, über seine Großmutter zu schreiben. War sie doch die entscheidende Portalfigur seines Lebens. Und er, als Kind, ihr wichtigster und einziger Zuhörer. Sie war eine Frau, die viel und gern erzählte, Erlebtes und vor allem Erlesenes. Ihr eigenes Leben war eine fortgesetzte Enttäuschung gewesen, sie hatte sich immer gerne in die Welt der Bücher geflüchtet, bevorzugt in die sogenannten Unterhaltungsromane.
Deren Handlung erzählt sie nach wie dringliche eigene Erfahrungen, auf langen Spaziergängen mit dem Jungen, der der Schriftsteller einst gewesen ist. Und der Schriftsteller, der nun über die Großmutter schreibt, erzählt nun auch noch einmal mit, was so vorgefallen ist in „Menschen im Hotel“ oder „Vom Winde verweht“.
So mischen sich die berühmten Melodramen mit der keinen, dramatischen Melodie des Großmutterlebens. Sie hat sich früh in eine Mesalliance gestürzt, weshalb sie von ihren Eltern verstoßen wurde. Aber die vermeintlich große Liebe, ein böhmischer Friseur, ließ sie sitzen, kaum dass sie schwanger war. Das Kind kam vorübergehend ins Heim. Die Großmutter schlug sich durch, arbeitete als Krankenschwester in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs und lernte dort einen Versehrten namens Wilhelm Prinz kennen, Postbeamter im Zivilleben, bald fanatischer Anhänger der Nazipartei im Nachbarland. Also Antisemit.
Es ist keine Liebesehe, die da auf den Weg kommt, denn die Großmutter ist Jüdin, und sie wird nun gewissermaßen zwangsarisiert von ihrem Gatten. Während die Frau des „alten Kameraden“ später, in den Jahren des Holocaust, eine gewisse Protektion genießt, hat Wilhelm Prinz selbst allerdings wenig Glück mit seiner politischen Leidenschaft. In den Jahren der Schuschnigg-Regierung wird er interniert; die Erfüllung seiner Träume, den „Anschluss“ Österreichs, erlebt er nicht mehr, weil er am Silvesterabend 1937 in den Armen einer Prostituierten stirbt – ein steckengebliebenes Projektil aus dem Ersten Weltkrieg hat nach zwanzig Jahren doch noch sein Herz erreicht.
Dies ist kein „großer Roman“, wie es der Klappentext verheißt. Manchmal schrammt die Großmuttergeschichte knapp an einer gewissen Betulichkeit vorbei; überhaupt herrscht nicht gerade Mangel an Erinnerungsliteratur über die fatale erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. So weiß man anfangs als Leser nicht recht, warum man sich nun auch noch für Peter Henischs Vorfahrenrecherche und die Wanderungen seines Alter Egos durch Wien, seine eingesprengten Bemerkungen zur aktuellen Weltlage oder über den Kollegen Thomas Bernhard interessieren soll.
„Du meine Güte, was mir so durch den Kopf ging. Auf den Stufen des Theseustempels sitzend hatte ich mein halbes Notizbuch voll geschrieben. Nun aber wollte mein Kugelschreiber nicht mehr.“
Klingt so große Prosa?
Andererseits ist das Buch auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gekommen, und es hat ja auch seine Momente. Anrührende Anekdoten wie die von den beiden Telefonbüchern, die die Großmutter, diese „sehr kleine Frau“, in ihrer Krankenschwestertasche mitschleppte, wenn sie ins Kino ging. Sobald das Licht ausging, holte sie die heraus und setzte sich darauf – und hatte nun die Größe, um über die Schultern der Vordermänner hinweg die Leinwand ins Auge zu fassen.
Aber ungeachtet solcher amüsanten Passagen und der melancholischen Milde des Tons – dies ist zugleich ein krasser Familienzerfallsroman. Lieblosigkeit, wohin man blickt, unerfüllte Sehnsüchte, Verfehlungen; die nächsten Angehörigen reden und fühlen ständig aneinander vorbei.
Gerade deshalb ist die gegenseitige Anhänglichkeit von Enkel und Großmutter ein Ersatz für viele andere Versäumnisse, eine Enklave des richtigen im rundum falschen Leben. Der Junge sei Omas „letzte Liebe“, spotten die anderen – und wenn die beiden Sommer für Sommer in Breitenstein am Semmering verbringen, dann schlafen sie in einem Zimmer, sogar im selben Bett.
Wie schon in seinem Roman „Die kleine Figur meines Vaters“ verschränkt Henisch auf angenehm lesbare Art die große mit der kleinen Geschichte, das Politische mit dem Privaten. Dass das 20. Jahrhundert unerhört viel menschliches Unglück mit sich gebracht hat, ist keine neue Einsicht.
Gut zu lesen aber, wie hier eine Frau der fortgesetzten Misere hartnäckig Glücksmomente abtrotzt – mit einem Klavier, mit vielen Romanen, im Umgang mit dem Enkel, der ihrer ebenso bedarf. Dass das Erzählen als Form der Kompensation immer eine tragische Grundierung hat, wird in diesem kleinen Roman so deutlich wie selten.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Peter Henisch: Eine sehr kleine Frau
Deuticke Verlag, Wien 2007, 286 Seiten, 19,90 Euro
Er beschließt, über seine Großmutter zu schreiben. War sie doch die entscheidende Portalfigur seines Lebens. Und er, als Kind, ihr wichtigster und einziger Zuhörer. Sie war eine Frau, die viel und gern erzählte, Erlebtes und vor allem Erlesenes. Ihr eigenes Leben war eine fortgesetzte Enttäuschung gewesen, sie hatte sich immer gerne in die Welt der Bücher geflüchtet, bevorzugt in die sogenannten Unterhaltungsromane.
Deren Handlung erzählt sie nach wie dringliche eigene Erfahrungen, auf langen Spaziergängen mit dem Jungen, der der Schriftsteller einst gewesen ist. Und der Schriftsteller, der nun über die Großmutter schreibt, erzählt nun auch noch einmal mit, was so vorgefallen ist in „Menschen im Hotel“ oder „Vom Winde verweht“.
So mischen sich die berühmten Melodramen mit der keinen, dramatischen Melodie des Großmutterlebens. Sie hat sich früh in eine Mesalliance gestürzt, weshalb sie von ihren Eltern verstoßen wurde. Aber die vermeintlich große Liebe, ein böhmischer Friseur, ließ sie sitzen, kaum dass sie schwanger war. Das Kind kam vorübergehend ins Heim. Die Großmutter schlug sich durch, arbeitete als Krankenschwester in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs und lernte dort einen Versehrten namens Wilhelm Prinz kennen, Postbeamter im Zivilleben, bald fanatischer Anhänger der Nazipartei im Nachbarland. Also Antisemit.
Es ist keine Liebesehe, die da auf den Weg kommt, denn die Großmutter ist Jüdin, und sie wird nun gewissermaßen zwangsarisiert von ihrem Gatten. Während die Frau des „alten Kameraden“ später, in den Jahren des Holocaust, eine gewisse Protektion genießt, hat Wilhelm Prinz selbst allerdings wenig Glück mit seiner politischen Leidenschaft. In den Jahren der Schuschnigg-Regierung wird er interniert; die Erfüllung seiner Träume, den „Anschluss“ Österreichs, erlebt er nicht mehr, weil er am Silvesterabend 1937 in den Armen einer Prostituierten stirbt – ein steckengebliebenes Projektil aus dem Ersten Weltkrieg hat nach zwanzig Jahren doch noch sein Herz erreicht.
Dies ist kein „großer Roman“, wie es der Klappentext verheißt. Manchmal schrammt die Großmuttergeschichte knapp an einer gewissen Betulichkeit vorbei; überhaupt herrscht nicht gerade Mangel an Erinnerungsliteratur über die fatale erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. So weiß man anfangs als Leser nicht recht, warum man sich nun auch noch für Peter Henischs Vorfahrenrecherche und die Wanderungen seines Alter Egos durch Wien, seine eingesprengten Bemerkungen zur aktuellen Weltlage oder über den Kollegen Thomas Bernhard interessieren soll.
„Du meine Güte, was mir so durch den Kopf ging. Auf den Stufen des Theseustempels sitzend hatte ich mein halbes Notizbuch voll geschrieben. Nun aber wollte mein Kugelschreiber nicht mehr.“
Klingt so große Prosa?
Andererseits ist das Buch auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gekommen, und es hat ja auch seine Momente. Anrührende Anekdoten wie die von den beiden Telefonbüchern, die die Großmutter, diese „sehr kleine Frau“, in ihrer Krankenschwestertasche mitschleppte, wenn sie ins Kino ging. Sobald das Licht ausging, holte sie die heraus und setzte sich darauf – und hatte nun die Größe, um über die Schultern der Vordermänner hinweg die Leinwand ins Auge zu fassen.
Aber ungeachtet solcher amüsanten Passagen und der melancholischen Milde des Tons – dies ist zugleich ein krasser Familienzerfallsroman. Lieblosigkeit, wohin man blickt, unerfüllte Sehnsüchte, Verfehlungen; die nächsten Angehörigen reden und fühlen ständig aneinander vorbei.
Gerade deshalb ist die gegenseitige Anhänglichkeit von Enkel und Großmutter ein Ersatz für viele andere Versäumnisse, eine Enklave des richtigen im rundum falschen Leben. Der Junge sei Omas „letzte Liebe“, spotten die anderen – und wenn die beiden Sommer für Sommer in Breitenstein am Semmering verbringen, dann schlafen sie in einem Zimmer, sogar im selben Bett.
Wie schon in seinem Roman „Die kleine Figur meines Vaters“ verschränkt Henisch auf angenehm lesbare Art die große mit der kleinen Geschichte, das Politische mit dem Privaten. Dass das 20. Jahrhundert unerhört viel menschliches Unglück mit sich gebracht hat, ist keine neue Einsicht.
Gut zu lesen aber, wie hier eine Frau der fortgesetzten Misere hartnäckig Glücksmomente abtrotzt – mit einem Klavier, mit vielen Romanen, im Umgang mit dem Enkel, der ihrer ebenso bedarf. Dass das Erzählen als Form der Kompensation immer eine tragische Grundierung hat, wird in diesem kleinen Roman so deutlich wie selten.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Peter Henisch: Eine sehr kleine Frau
Deuticke Verlag, Wien 2007, 286 Seiten, 19,90 Euro