"Die Deutschen haben sich schwergetan"

Nia Künzer im Gespräch mit Joachim Scholl |
"Ballkunst war das gestern von beiden Seiten nicht so wirklich", sagt Nia Künzer, die 2003 mit einem Golden Goal die Frauennationalmannschaft zum Titel schoß. Doch Künzer ist voller Hoffnung: "Das ist eine junge Mannschaft, die noch nicht lange so in der Form zusammenspielt und sich auch wirklich noch entwickeln kann".
Joachim Scholl: Es war knapp und leider nie richtig sicher. Erst als Mesut Özil in der 60. Minute endlich traf und die tapferen Australier parallel die Serben schlugen, atmete Deutschland kollektiv durch. Wir sind nicht rausgeflogen gestern Abend bei der Fußballweltmeisterschaft, sondern wir stehen im Achtelfinale, sogar zusammen mit Ghana. Thomas Wheeler mit Stimmen vom Spiel:

Radioreporter: "Der Ball ist drin! Tor! Tor! Tor für Deutschland! Özil macht es mit links, von rechts den Ball hinein!"
Mesut Özil: "Die Mannschaft hat mich toll unterstützt, hat gesagt: Kopf hoch, nächsten machste rein. Jetzt bin ich natürlich erleichtert, zweite Halbzeit einfach mal draufgeschossen, reingegangen und somit das Siegtor gemacht."
Jogi Löw: "Also das Spiel war insgesamt sehr, sehr offen. Es war eine Drucksituation für unsere junge Mannschaft, aber sie hat sie gut bewältigt."
Hans Sarpei: "Das gehört ja dazu, dass man am Anfang den Gegner ein bisschen nervös macht. Wir haben sehr viele Torchancen gehabt, haben auch defensiv sehr gut gestanden und haben glaub ich mit etwas Pech verloren."

Joachim Scholl: Der Ghanaer Sarpei, der sich aber trotzdem übers Weiterkommen freuen wird. So war es gestern.
Also, nach dem Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Ghana in Johannesburg. Im Stadion allerdings mittenmang war Nia Künzer, Fußball-Weltmeisterin 2003. Jetzt ist sie am Telefon. Guten Morgen, Frau Künzer!

Nia Künzer: Guten Morgen!

Scholl: Wie haben Sie denn das Spiel erlebt?

Künzer: Ja, ich durfte glücklicherweise im Stadion sein. Ich bin ja mit dem ARD-Morgenmagazin unterwegs in Südafrika, und da haben wir zufällig gestern in Johannesburg Stopp gemacht und waren im Stadion.

Scholl: Ja, und wie war es?

Künzer: Ja, fantastisch, also schon vor dem Spiel, muss ich sagen. Das Stadion ist schon eine Augenweide, und während des Spiels und vor dem Spiel, ja, tolle Atmosphäre, Vuvuzelas ohne Ende, aber genau richtig!

Scholl: Wie war denn so die Einstellung im Stadion der Fans? Die Einheimischen waren ja wohl eher doch ja für die Mitafrikaner aus Ghana, oder?

Künzer: Ja, aber es waren gerade in unserer Ecke doch relativ viele Deutsche, und von daher war die Unterstützung für die Deutschen eigentlich doch recht gut. Natürlich haben sich jetzt viele Südafrikaner Ghana angeschlossen, aber das war okay. Also insgesamt war die Stimmung superfriedlich und toll, also tolles Erlebnis.

Scholl: Was hat denn nun die Fußbällerin Künzer angesichts der Ballkunst der männlichen Kollegen gedacht? Ich meine, oi, oi, oi, es hat ja zwischendurch gewaltig geknirscht im Gebälk.

Künzer: Ja absolut. Ballkunst war das, glaube ich, gestern von beiden Seiten nicht so wirklich. Man hat sich doch sehr beharkt, und auf beiden Seiten ist nicht alles geglückt. Ghana hat sehr gute Torchancen gehabt, allerdings ist es nach wie vor so, dass sie abschlussschwach sind und auch nur mit zwei Elfmetertoren quasi ins Achtelfinale einziehen. Ja, die Deutschen haben sich schwergetan, hinten ungewohnt unsicherer Mertesacker. Ja, also, wie gesagt, war nicht die große Fußballkunst.

Scholl: Ja, man leidet als Spielerin da vermutlich noch mehr beim Zusehen, oder nicht?

Künzer: Ja, wobei in so einem Stadion und vorm Fernseher sind ja alle Bundestrainer und wissen es alle besser oder wie es geht und wie man es nicht machen sollte. Von daher, klar, wenn man mal selbst aktiv und auch so wichtige Spiele bestritten hat, weiß man so ungefähr, was los ist, auch dass natürlich so junge Spieler nervös sind, das muss man natürlich auch entschuldigend sagen. Das ist eine junge Mannschaft, die noch nicht lange so in der Form zusammenspielt und sich auch wirklich noch entwickeln kann. Von daher war das, glaube ich, völlig okay. Und letztendlich zählt ja nur, dass man das Achtelfinale erreicht hat, und das als Gruppenerster.

Scholl: Was muss denn besser werden Ihrer Meinung nach?

Künzer: Ja, wie gesagt, die Viererkette hat nicht immer den sichersten Eindruck gemacht, da wird aber, denke ich, nächstes Mal Mertesacker wieder die normale Leistung abrufen. Er ist ja ansonsten eine Bank. Vor der Abwehr war Khedira nicht so stark, hat auch mir ein bisschen zu ängstlich gespielt. Und vorne war einfach zu wenig Bewegung. Das war mir zu wenig Druck. Cacau hat teilweise ein bisschen verloren da vorne gewirkt. Ich weiß nicht, ob der Trainer da vielleicht doch noch mal umschwenkt und Gomez ...

Scholl: Soll Klose wiederkommen, gegen England?

Künzer: Ja, also soll ist schwierig zu sagen. Er hat natürlich mit seinem Tor einiges schon bewiesen. Cacau hat gestern nicht so überzeugen können, obwohl es nicht nur an ihm selbst lag. Von daher, so wie ich jetzt Löw einschätze, weil er ja auch vor dem Turnier schon sich recht früh auf Klose festgelegt hat, kann ich mir gut vorstellen, dass er wieder reinkommt, zumal er natürlich auch ein erfahrener Spieler ist.

Scholl: Sie, Frau Künzer, wissen, was ein Spieler in dieser Situation, wenn es also wirklich so um ein Entscheidungsspiel geht, durchmacht. Wie geht man damit eigentlich um? Werden einem da die Beine nicht automatisch schwerer und das Herz pocht noch mehr wegen des immensen Drucks, unter dem man steht?

Künzer: Doch, also so in der Art muss man sich das schon vorstellen. Man traut sich natürlich auch nicht mehr so viel zu. Man hat bei einigen Spielern ja gesehen – Khedira habe ich genannt –, dann spielt man lieber noch mal den sicheren Pass, der aber das Spiel langsam macht. Oder Boateng, der reingekommen ist auf der linken Seite für Badstuber, der hat sich auch nicht so arg viel zugetraut und konnte nicht den Druck entwickeln über die linke Seite. Das ist natürlich eine ungewohnte Situation, und da spielt man halt eher mal den sicheren Pass, was das Spiel nicht unbedingt belebt.

Scholl: Nia Künzer hier im Deutschlandradio Kultur, sie hat 2003 das Siegtor im Finale der Frauenfußball-Weltmeisterschaft geschossen. Jetzt ist sie in Südafrika und für uns am Telefon. Frau Künzer, es ist ja schon bemerkenswert, was für eine Spannung in der Öffentlichkeit durch solch ein Spiel erzeugt wird. Also der Moderator, der ARD-Moderator Gerhard Delling brachte das gestern im Fernsehen auf dieses schöne Bonmot. Er sagte: "Man könnte den Eindruck gewinnen, als ginge es um Leben oder Tod, aber das stimmt nicht, es geht um viel mehr, nämlich um alles oder nichts". Ich meine, spinnen wir Deutschen eigentlich ein bisschen, wenn es um Fußball geht?

Künzer: Ja, aber da sind wir ja nicht die Einzigen. Also ich glaube, wenn wir jetzt das nächste Spiel betrachten, spinnt England auch. Es ist einfach so, dass natürlich auch so ein bisschen die Stimmung in Deutschland gedrückt ist, jetzt aus anderen Gründen, aus wirtschaftlichen und politischen Gründen, und das Volk, glaube ich, auch Erfolgserlebnisse sucht und auch natürlich es genießt, wieder drei, vier Wochen Public Viewing und andere Gesprächsthemen zu haben. Und da hilft natürlich Sport und Fußball als Sportart Nummer eins in Deutschland schon sehr, auch so ein bisschen abzulenken und ein bisschen Spaß am Leben zu haben. Von daher fiebern natürlich viele mit, dass die deutsche Mannschaft so lange wie möglich im Turnier bleibt.

Scholl: Aber die Fallhöhe ist ja immer so enorm, wissen Sie. Also riesige Euphorie, wenn Deutschland gut spielt – erinnern wir uns nach dem 4:0 – und sofortige Depression nach dem Serbien-Spiel. Ich meine, Sie kennen das ja auch so ein wenig aus Ihrer Profikarriere, Frau Künzer, alsodass immer sozusagen zu Tode, jauchzend und zu Tode betrübt. Also erst bist du der Star, am nächsten Tag bist du irgendwie der letzte Kicker.

Künzer: Ja. Das ist, glaube ich, den Sportlern nicht ganz unbekannt, das ist ja im Verein ähnlich, muss man ganz ehrlich sagen, dass das ganz schnell geht. Da haben natürlich Medien eine ganz wichtige Rolle, die natürlich auch so nach dem 4:0 gerade die Mannschaft sehr hochgelobt haben, sage ich mal so. Experten haben natürlich auch gesagt, hier, macht mal langsam, haltet mal den Ball flach. Das war Australien, und da ist alles wirklich perfekt gelaufen. Das kann ... so wird es nicht weitergehen. Also das hat man ja schon gesagt, dass man, wenn man so ins Turnier startet, das nicht immer so weitergehen kann.

Von daher, die Sportler wissen damit umzugehen und wissen, dass es täglich anders sein kann. Andererseits finde ich auch das Schöne am Sport, dass es eben so viele Emotionen auslösen kann. Wenn es alles im Rahmen bleibt und jetzt nicht persönlich wird, ganz ehrlich, finde ich es auch noch okay. Wenn natürlich dann einzelne Spieler irgendwie persönlich angegangen und attackiert werden, ich glaube, dann ist eine Grenze überschritten.

Scholl: Jetzt ist die Hinrunde erst mal erledigt, und jetzt geht es richtig los, und ab jetzt geht es ja immer um Sein oder Nichtsein. Ich meine, Sie kennen das, Frau Künzer, bei der WM der Frauen 2003. Wird das dann eigentlich immer schlimmer eigentlich so, wenn man morgens aufsteht vor so einem Spiel, oder schöpft man da dann von Sieg zu Sieg mehr Kraft?

Künzer: Also das Team entwickelt sich ja auch. Man bekommt so ein Mannschaftsgefühl hin, und ich glaube, dass die deutsche Mannschaft auf einem guten Weg ist, weil sie jung ist, weil sie wirklich viel Spaß miteinander hat und vielleicht auch die Zeit braucht, um zusammenzuwachsen. Und das kann so eine Eigendynamik bekommen, dass man vielleicht auch zu mehr imstande ist, als man vielleicht Potenzial hat.

Von daher steht man vor jedem K.o.-Spiel natürlich auf und ist angespannt, aber dass man jetzt Richtung Finale angespannter ist, es geht immer quasi um alles. Von daher ist die Anspannung ähnlich und man versucht, sich halt so lange wie möglich auch abzulenken. Also man steht jetzt nicht drei Tage oder heute Morgen auf und denkt schon permanent an das Spiel gegen England, also das muss man ganz ehrlich sagen.

Da gibt es erst mal die Regeneration und die Behandlungen, die jetzt von den Physios vorgenommen werden, und trainiert wieder und versucht dann wieder erst mal runterzukommen von diesem doch anstrengenden Spiel. Und dann Richtung Freitag, Samstag beginnt die Spielvorbereitung, man schaut sich den Gegner an – also wie gesagt, das ist so ein Spannungsbogen, der eigentlich vor jedem Spiel ist.

Scholl: Frau Künzer, Hand aufs Herz jetzt, wie weit kommt Deutschland Ihrer Meinung?

Künzer: Na ja, ist jetzt schwierig, ich habe natürlich auch vor dem Turnier schon Interviews gegeben und habe da Viertelfinale gesagt, und ich stehe dementsprechend auch noch dazu.

Scholl: Ja, also die Briten schlagen wir, ne? Das muss, glaube ich, sein aus ...

Künzer: Müssten wir dann theoretisch.

Scholl: Deutschland–Ghana, ein Tag danach. Das war Nia Künzer, Fußballweltmeisterin der deutschen Nationalmannschaft 2003. Frau Künzer, vielen Dank für das Gespräch und Ihnen ...

Künzer: Ich danke auch!

Scholl: ... eine gute Zeit und schöne Spiele in Südafrika!

Künzer: Danke schön, ja, ciao!
Jubel nach dem Golden Goal - die Torschützin Nia Künzer (Nr. 4)
2003 schoß Nia Künzer (Nr. 4) das Golden Goal für die Fußball-Nationalmannschaft der Frauen.© AP