"Die Deutschen haben Angst vor der Freiheit"
Der Berliner Publizist und Schriftsteller Richard Wagner hat der deutschen Gesellschaft in Ost und West Angst vor der persönlichen Freiheit unterstellt. Er beobachte allenthalben die Neigung zum Korporatismus und zur Harmonie. Der offene Konflikt werde sofort als problematisch angesehen. Als Beispiel nannte er Auseinandersetzungen auf dem Arbeitsmarkt, die immer in Schlichtungen endeten.
Meyer: Bevor wir über das bessere Deutschland reden, sollten wir vielleicht über die Probleme reden, die Sie ja auch sehen und die Sie in Ihrem Buch gründlich ausbreiten. Schauen wir uns mal das Problem der Freiheit an, das ist für Sie ein ganz grundlegendes. Sie schreiben in Ihrem Kapitel über das lange Leben der DDR, dass die deutsche Gesellschaft in Ost und West Angst hätte, Angst vor der persönlichen Freiheit, mehr Angst vor der Freiheit als vor der Vormundschaft. Wo beobachten Sie diese Angst vor der Freiheit?
Richard Wagner: Ja, das kann man allenthalben beobachten, im Alltag, im ganzen Verhalten, also die Gesellschaft neigt dazu, zu einem Korporatismus, zu einer Harmonie, man merkt es in allen Lebenslagen, dass der offene Konflikt sofort als problematisch angesehen wird, also z.B. die Verhandlungen auf dem Arbeitsmarkt, die immer in Schlichtungen und Verhandlungen enden. Man ist in allem immer darauf aus, einen Konsens so rasch wie möglich zu finden, Kompromisse zu finden und wenn irgendwo eine Debatte auftaucht, die aus dem Ruder zu laufen scheint, dann ist man sofort nervös.
Meyer: Sie hätten lieber, dass es richtig kracht, wie gerade in Frankreich z.B.?
Wagner: Ja, ich meine, dass eine Konfliktkultur sehr hilfreich sein kann. Ich gehe natürlich von mündigen Bürgern aus, wenn ich das sage, nicht von einem Rowdytum. Aber ich meine die Dinge sollten auf den Tisch und dadurch würden die Interessen auch viel deutlicher und scharf formuliert werden. Und wenn die Interessen richtig deutlich auf dem Tisch sind, dann kann man auch besser sehen, was die Probleme sind.
Meyer: Es sprechen ja Viele von diesem deutschen Modell der Sozialpartnerschaft. Sie haben es gerade beschrieben, wo sich die verschiedenen Seiten Arbeitgeber, Arbeitnehmer mit ihren Verbänden dann untereinander einigen. Was ist denn für Sie der Nachteil dieses Systems?
Wagner: Ja, dieses System kommt ja aus dem Kaiserreich letzten Endes und hatte in einer Monarchie einen gewissen Sinn, wo eine hierarchische Struktur, eine Pyramide der Gesellschaft existiert hat. Das ganze System ist aber ein Selbstläufer geworden, das heißt es ist mittlerweile viel teurer als der Konflikt, wenn man das mal durchrechnet. All diese Institutionen und Scheininstitutionen, die damit geschaffen wurden und die davon leben. Die gesamten Aufsichtsräte und Kontrollmechanismen, Expertengremien und all das, das kostet ja auch eine Menge Geld. Wenn man das durchrechnet, dann wird man sehen, dass der Konflikt, der direkte Konflikt vielleicht günstiger wäre.
Meyer: Das sind ja viele Organisationen, die man dazurechnen müsste: Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Handwerkskammern, Kassenärztliche Vereinigung, usw. Was empfehlen Sie denn als Medizin gegen den Ständestaat? Wollen Sie all diese Organisationen auflösen?
Wagner: Ja, also ich spreche sogar von parasitären Systemen, die existieren und das viel zu wenig in der eigentlichen Wertschöpfung geleistet wird. Also eine ganze Menge an Energie geht ja darin verloren. Ich glaube, dass man da reduzieren sollte. Z.B. könnte man ja etwas weniger Kassen haben, also wenn wir jetzt von der Gesundheit sprechen, Krankenkassen. Wenn wir 300 Kassen haben, heißt das ja nicht nur einfach, dass wir 300 Organisationen haben, sondern die haben ja alle Führungen, die haben alle einen Aufsichtsrat, die haben alle irgendwelche Gremien, die haben Autos und Büros usw. und das geht ja alles vom Geld, das eingezahlt wird, weg.
Meyer: Ihnen ist Deutschland zu unbeweglich, das ist deutlich zu merken. Ich habe vor einer Stunde hier an dieser Stelle mit Sebastian Turner gesprochen. Er ist der Chef einer der größten deutschen Kommunikationsagenturen Scholz & Friends. Die Agentur betreut zurzeit diese Kampagne "Land der Ideen". Und ich habe ihn gefragt, was für ihn am typischsten ist für Deutschland heute:
Turner: "Es könnte die Kreativität, der Einfallsreichtum der Deutschen sein, das ist zumindest unser Ergebnis, nachdem wir uns intensiv damit befasst haben. Wir haben festgestellt, dass das nicht nur von uns selber so gesehen und praktiziert wird, sondern es wird auch vom Ausland ganz stark so wahrgenommen. Deswegen haben wir uns dazu entschlossen, 'Land der Ideen' über alle Aktivitäten zu schreiben und auch dieses Merkmal herauszuheben."
Meyer: Ja, das sagt Sebastian Turner, Deutschland, das Land der Ideen. Was Ihnen gar nicht so vorkommt. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Wagner: Ja, die Deutschen leben ja sehr von den Klischees ihrer Vergangenheit und vor allem die Ausländer leben von den Klischees über die Deutschen. Geben wir mal ein ganz einfaches Beispiel: Microsoft-Chef Bill Gates ist der reichste Mann Amerikas. Wer ist der reichste Mann Deutschlands? Das ist Aldi-Süd-Chef, Karl Albrecht. Der Unterschied zwischen Microsoft und Aldi-Süd mag interessant sein in dem Zusammenhang, wie innovativ wir sind.
Meyer: Deutschlandradio Kultur zu Gast ist der Publizist und Schriftsteller Richard Wagner für ein Gespräch über sein Buch "Der Deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes". Ich fand einen Punkt besonders interessant in Ihrem Buch, in letzter Zeit ist in vielen Medien die Rede, auch hier bei uns im Deutschlandradio, von der neuen Bürgerlichkeit in Deutschland. Sie beschreiben ein ganz anderes Phänomen in ihrem Buch, nämlich die Proletarisierung Deutschlands. Sie schreiben, wir treiben in eine Infantilgesellschaft und Sie sagen eine "Entproletarisierung" wäre dringend nötig. Das ist ja interessant auch im Blick auf die Bildungsdebatte, die wir haben. Wie stellen Sie sich eine Entproletarisierung vor?
Wagner: Ja, das ist vor allem eine Bildungsangelegenheit. Ich meine, dieses bürgerliche Ideal, dem man da feuilletonistisch nachgeht, das ist eine Sache der Vergangenheit, das lässt sich so nicht wieder beleben. Wir haben ja auch gar nicht diese Verhältnisse mehr, weder diese Klassenverhältnisse noch Eigentumsverhältnisse, es geht vor allem um Schule und was Bildung und Ausbildung heute darstellen können, um das Niveau in den Medien. Also das, was man als Unterschichtenfernsehen mittlerweile bezeichnet und all diese Phänomene der Spaßgesellschaft, das drückt ja auch mächtig auf das Niveau. Also, von einer Bildung sind wir herunter zu einem Quiz gekommen. Wir sind so eine Wissensgesellschaft, die sich mit "Wetten, dass ..." beschäftigt.
Meyer: Aber wie könnte es aussehen, der Weg zu einer Entproletarisierung?
Wagner: Dieser Weg geht über Arbeit, also man muss in den Schulen was tun, also man muss zurückgehen zu, ja, vielleicht Methoden, die man fälschlicherweise aufgegeben hat. Zuerst einmal muss ein Kanon und eine Autorität wieder her, auch in den Schulen eine Autorität, in unserer Kultur ein Kanon sein, also man muss wieder wissen, was verbindlich ist. Man hat ja alles in den letzten 30 Jahren zerredet, man hat sich lustig darüber gemacht, das ist ja alles irgendwie ein Witz.
Meyer: Zur Bildung gehört auch das Verhältnis zur eigenen Geschichte, zur eigenen Vergangenheit, und da gibt es einen Punkt, an dem man, wenn man über deutsches Selbstbewusstsein nachdenkt, nie vorbeikommt, das ist die nationalsozialistische Geschichte in Deutschland. Und jetzt schreiben Sie an einer Stelle in der Einleitung Ihres Buches, ich reiße das jetzt aus dem Zusammenhang, das ist mir bewusst: "Eine Nation lässt sich nicht am Massengrab aufstellen, jedenfalls nicht mit dem Gesicht zur Zukunft". Was wollen Sie damit sagen, heißt das, kümmert euch weniger um die Nazi-Vergangenheit?
Wagner: Ich sage nicht, kümmert euch weniger, sondern ich bin gegen diese Drittes-Reich-Industrie, die inzwischen entstanden ist. Es ist ja über das Dritte Reich wirklich schon längst alles gesagt worden, und wer es bisher noch nicht begriffen hat, der wird es auch nie begreifen. Und wir können nicht noch 20 Jahre lang jedem Dummkopf das noch mal erklären. Also Auschwitz ist Auschwitz und wer das nicht weiß, der wird es nie lernen. Aber indem wir uns ständig darauf konzentrieren, sind wir, steigen wir aus unserer Geschichte aus und wir nehmen uns jede Perspektive, weil wir versuchen ja mit all diesen Diskussionen immer wieder in diesen Krater einzusteigen, und uns immer wieder zu erklären, warum das passiert ist. Man kann das nicht erklären. Wir werden aus diesem Phänomen nicht herauskommen, wir werden das Dritte Reich nicht los.
Meyer: Wie kann man eine andere Geschichte begründen? Sie denken auch über Gründungsmythen nach, aber mit vielen Fragezeichen versehen. Also Sie schreiben: "Was könnte ein neuer Gründungsmythos sein, der Kölner Karneval oder Friedrich Schiller, Marlene Dietrich oder die Familie Weizsäcker, lauter Fragezeichen". Das heißt, Sie wissen es auch nicht, was ein neuer Mythos sein könnte?
Wagner: Nein, ich bin ja hier nicht jemand, der Lösungen parat hat, sondern ich bin jemand, der sich Gedanken macht, in diesem Land über den Zustand und frage mich, wie können wir weiter kommen und ich beobachte, was die Leute auch so interessiert. Und es ist ja auch immer interessant, sehen Sie zum Beispiel, was Erfolge sind, und was für Sehnsüchte damit verbunden sind, wenn in den Medien die Manns zum Beispiel so zelebriert werden, wenn diese Filme über die Familie Mann einen solchen Erfolg haben. Und da sehe ich, dass die Leute ja auch nach Vorbildern aus der Geschichte schauen, oder zumindest schielen, und dass sie versuchen etwas Positives zu finden. Ohne eine positive Begründung können wir keine stabile Gesellschaft für die Zukunft haben.
Richard Wagner: Ja, das kann man allenthalben beobachten, im Alltag, im ganzen Verhalten, also die Gesellschaft neigt dazu, zu einem Korporatismus, zu einer Harmonie, man merkt es in allen Lebenslagen, dass der offene Konflikt sofort als problematisch angesehen wird, also z.B. die Verhandlungen auf dem Arbeitsmarkt, die immer in Schlichtungen und Verhandlungen enden. Man ist in allem immer darauf aus, einen Konsens so rasch wie möglich zu finden, Kompromisse zu finden und wenn irgendwo eine Debatte auftaucht, die aus dem Ruder zu laufen scheint, dann ist man sofort nervös.
Meyer: Sie hätten lieber, dass es richtig kracht, wie gerade in Frankreich z.B.?
Wagner: Ja, ich meine, dass eine Konfliktkultur sehr hilfreich sein kann. Ich gehe natürlich von mündigen Bürgern aus, wenn ich das sage, nicht von einem Rowdytum. Aber ich meine die Dinge sollten auf den Tisch und dadurch würden die Interessen auch viel deutlicher und scharf formuliert werden. Und wenn die Interessen richtig deutlich auf dem Tisch sind, dann kann man auch besser sehen, was die Probleme sind.
Meyer: Es sprechen ja Viele von diesem deutschen Modell der Sozialpartnerschaft. Sie haben es gerade beschrieben, wo sich die verschiedenen Seiten Arbeitgeber, Arbeitnehmer mit ihren Verbänden dann untereinander einigen. Was ist denn für Sie der Nachteil dieses Systems?
Wagner: Ja, dieses System kommt ja aus dem Kaiserreich letzten Endes und hatte in einer Monarchie einen gewissen Sinn, wo eine hierarchische Struktur, eine Pyramide der Gesellschaft existiert hat. Das ganze System ist aber ein Selbstläufer geworden, das heißt es ist mittlerweile viel teurer als der Konflikt, wenn man das mal durchrechnet. All diese Institutionen und Scheininstitutionen, die damit geschaffen wurden und die davon leben. Die gesamten Aufsichtsräte und Kontrollmechanismen, Expertengremien und all das, das kostet ja auch eine Menge Geld. Wenn man das durchrechnet, dann wird man sehen, dass der Konflikt, der direkte Konflikt vielleicht günstiger wäre.
Meyer: Das sind ja viele Organisationen, die man dazurechnen müsste: Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Handwerkskammern, Kassenärztliche Vereinigung, usw. Was empfehlen Sie denn als Medizin gegen den Ständestaat? Wollen Sie all diese Organisationen auflösen?
Wagner: Ja, also ich spreche sogar von parasitären Systemen, die existieren und das viel zu wenig in der eigentlichen Wertschöpfung geleistet wird. Also eine ganze Menge an Energie geht ja darin verloren. Ich glaube, dass man da reduzieren sollte. Z.B. könnte man ja etwas weniger Kassen haben, also wenn wir jetzt von der Gesundheit sprechen, Krankenkassen. Wenn wir 300 Kassen haben, heißt das ja nicht nur einfach, dass wir 300 Organisationen haben, sondern die haben ja alle Führungen, die haben alle einen Aufsichtsrat, die haben alle irgendwelche Gremien, die haben Autos und Büros usw. und das geht ja alles vom Geld, das eingezahlt wird, weg.
Meyer: Ihnen ist Deutschland zu unbeweglich, das ist deutlich zu merken. Ich habe vor einer Stunde hier an dieser Stelle mit Sebastian Turner gesprochen. Er ist der Chef einer der größten deutschen Kommunikationsagenturen Scholz & Friends. Die Agentur betreut zurzeit diese Kampagne "Land der Ideen". Und ich habe ihn gefragt, was für ihn am typischsten ist für Deutschland heute:
Turner: "Es könnte die Kreativität, der Einfallsreichtum der Deutschen sein, das ist zumindest unser Ergebnis, nachdem wir uns intensiv damit befasst haben. Wir haben festgestellt, dass das nicht nur von uns selber so gesehen und praktiziert wird, sondern es wird auch vom Ausland ganz stark so wahrgenommen. Deswegen haben wir uns dazu entschlossen, 'Land der Ideen' über alle Aktivitäten zu schreiben und auch dieses Merkmal herauszuheben."
Meyer: Ja, das sagt Sebastian Turner, Deutschland, das Land der Ideen. Was Ihnen gar nicht so vorkommt. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Wagner: Ja, die Deutschen leben ja sehr von den Klischees ihrer Vergangenheit und vor allem die Ausländer leben von den Klischees über die Deutschen. Geben wir mal ein ganz einfaches Beispiel: Microsoft-Chef Bill Gates ist der reichste Mann Amerikas. Wer ist der reichste Mann Deutschlands? Das ist Aldi-Süd-Chef, Karl Albrecht. Der Unterschied zwischen Microsoft und Aldi-Süd mag interessant sein in dem Zusammenhang, wie innovativ wir sind.
Meyer: Deutschlandradio Kultur zu Gast ist der Publizist und Schriftsteller Richard Wagner für ein Gespräch über sein Buch "Der Deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes". Ich fand einen Punkt besonders interessant in Ihrem Buch, in letzter Zeit ist in vielen Medien die Rede, auch hier bei uns im Deutschlandradio, von der neuen Bürgerlichkeit in Deutschland. Sie beschreiben ein ganz anderes Phänomen in ihrem Buch, nämlich die Proletarisierung Deutschlands. Sie schreiben, wir treiben in eine Infantilgesellschaft und Sie sagen eine "Entproletarisierung" wäre dringend nötig. Das ist ja interessant auch im Blick auf die Bildungsdebatte, die wir haben. Wie stellen Sie sich eine Entproletarisierung vor?
Wagner: Ja, das ist vor allem eine Bildungsangelegenheit. Ich meine, dieses bürgerliche Ideal, dem man da feuilletonistisch nachgeht, das ist eine Sache der Vergangenheit, das lässt sich so nicht wieder beleben. Wir haben ja auch gar nicht diese Verhältnisse mehr, weder diese Klassenverhältnisse noch Eigentumsverhältnisse, es geht vor allem um Schule und was Bildung und Ausbildung heute darstellen können, um das Niveau in den Medien. Also das, was man als Unterschichtenfernsehen mittlerweile bezeichnet und all diese Phänomene der Spaßgesellschaft, das drückt ja auch mächtig auf das Niveau. Also, von einer Bildung sind wir herunter zu einem Quiz gekommen. Wir sind so eine Wissensgesellschaft, die sich mit "Wetten, dass ..." beschäftigt.
Meyer: Aber wie könnte es aussehen, der Weg zu einer Entproletarisierung?
Wagner: Dieser Weg geht über Arbeit, also man muss in den Schulen was tun, also man muss zurückgehen zu, ja, vielleicht Methoden, die man fälschlicherweise aufgegeben hat. Zuerst einmal muss ein Kanon und eine Autorität wieder her, auch in den Schulen eine Autorität, in unserer Kultur ein Kanon sein, also man muss wieder wissen, was verbindlich ist. Man hat ja alles in den letzten 30 Jahren zerredet, man hat sich lustig darüber gemacht, das ist ja alles irgendwie ein Witz.
Meyer: Zur Bildung gehört auch das Verhältnis zur eigenen Geschichte, zur eigenen Vergangenheit, und da gibt es einen Punkt, an dem man, wenn man über deutsches Selbstbewusstsein nachdenkt, nie vorbeikommt, das ist die nationalsozialistische Geschichte in Deutschland. Und jetzt schreiben Sie an einer Stelle in der Einleitung Ihres Buches, ich reiße das jetzt aus dem Zusammenhang, das ist mir bewusst: "Eine Nation lässt sich nicht am Massengrab aufstellen, jedenfalls nicht mit dem Gesicht zur Zukunft". Was wollen Sie damit sagen, heißt das, kümmert euch weniger um die Nazi-Vergangenheit?
Wagner: Ich sage nicht, kümmert euch weniger, sondern ich bin gegen diese Drittes-Reich-Industrie, die inzwischen entstanden ist. Es ist ja über das Dritte Reich wirklich schon längst alles gesagt worden, und wer es bisher noch nicht begriffen hat, der wird es auch nie begreifen. Und wir können nicht noch 20 Jahre lang jedem Dummkopf das noch mal erklären. Also Auschwitz ist Auschwitz und wer das nicht weiß, der wird es nie lernen. Aber indem wir uns ständig darauf konzentrieren, sind wir, steigen wir aus unserer Geschichte aus und wir nehmen uns jede Perspektive, weil wir versuchen ja mit all diesen Diskussionen immer wieder in diesen Krater einzusteigen, und uns immer wieder zu erklären, warum das passiert ist. Man kann das nicht erklären. Wir werden aus diesem Phänomen nicht herauskommen, wir werden das Dritte Reich nicht los.
Meyer: Wie kann man eine andere Geschichte begründen? Sie denken auch über Gründungsmythen nach, aber mit vielen Fragezeichen versehen. Also Sie schreiben: "Was könnte ein neuer Gründungsmythos sein, der Kölner Karneval oder Friedrich Schiller, Marlene Dietrich oder die Familie Weizsäcker, lauter Fragezeichen". Das heißt, Sie wissen es auch nicht, was ein neuer Mythos sein könnte?
Wagner: Nein, ich bin ja hier nicht jemand, der Lösungen parat hat, sondern ich bin jemand, der sich Gedanken macht, in diesem Land über den Zustand und frage mich, wie können wir weiter kommen und ich beobachte, was die Leute auch so interessiert. Und es ist ja auch immer interessant, sehen Sie zum Beispiel, was Erfolge sind, und was für Sehnsüchte damit verbunden sind, wenn in den Medien die Manns zum Beispiel so zelebriert werden, wenn diese Filme über die Familie Mann einen solchen Erfolg haben. Und da sehe ich, dass die Leute ja auch nach Vorbildern aus der Geschichte schauen, oder zumindest schielen, und dass sie versuchen etwas Positives zu finden. Ohne eine positive Begründung können wir keine stabile Gesellschaft für die Zukunft haben.