"Die Deutschen gehören nicht zu meinen Favoriten"
Fußball-Legende Günter Netzer beklagt, dass es einen Mangel an Persönlichkeiten im deutschen Profi-Fußball gibt. Die Fußballer heute seien ihm zu brav, sagte Netzer. Ein Grund sei, dass es dem Fußball und den Spielern so gut gehe wie noch nie zuvor.
Joachim Scholl: Willkommen zum "Radiofeuilleton" am Vormittag, das wir sportlich beginnen in der Vorfreude auf die Fußball-Weltmeisterschaft mit einem früheren Superstar am Ball: Günter Netzer. Er war in den 1970er-Jahren bei Mönchengladbach die Figur, ein Typ, der nicht nur auf dem Platz mal querschoss. Und solche Typen vermisst Günter Netzer heute.
Er kommentiert wieder bei der WM fürs Fernsehen, und wir haben Günter Netzer vor seiner Abreise nach Südafrika erwischt.
Morgen beginnt sie nun endlich, die Fußball-Weltmeisterschaft, und einer, den wir dann allabendlich bei der ARD im Fernsehen auftreten sehen werden, wird Günter Netzer sein, als Experte und Kommentator.
Als Fußballer ist er eine Legende. Er war einer der besten deutschen Spieler in der Liga bei Borussia Mönchengladbach, dann bei Real Madrid und, wenn auch nur kurz, in der Nationalmannschaft. Vor seiner Abreise nach Südafrika hatten wir die Gelegenheit, mit Günter Netzer zu sprechen, und ich habe ihn zunächst gefragt, wie groß die physischen wie psychischen Belastungen sind, die ein Spieler heutzutage auszuhalten hat. Sind diese Belastungen auch größer als früher?
Günter Netzer: Der Druck auf die Spieler und die physischen Anstrengungen sind immens geworden im Verhältnis zu unserer Zeit, das ist aber nicht legitim, dass man das generationsübergreifend miteinander vergleicht. Wir haben ganz andere Bedingungen vorgefunden, als es heute der Fall ist. Wenn ich allein an die medizinische Abteilung denke, dann kann man das ja gar nicht mehr miteinander vergleichen.
Die Operationsmethoden allein für einen Meniskus waren derartig unterschiedlich, dass es heute 14 Tage dauert und bei uns war schon das Karriereende vorauszusehen. All dieses hat sich zugunsten der heutigen Generation natürlich enorm verändert. Natürlich ist vieles anders geworden, der Druck der Öffentlichkeit, der Medien ist ein erhöhter geworden, aber das gehört einfach zu der Qualität der Spieler dazu, dass sie dem standhalten, dass sie dem gewachsen sind und dass sie trotzdem gute Leistungen bringen.
Scholl: Physisch wie psychisch stark soll, muss ein Spieler sein, und dann wünscht man sich ja auch immer noch eine Persönlichkeit, ein Profil, so den individuellen Charakter. Oliver Kahn war so ein Typ, Sie auch, Günter Netzer, in Ihrer Zeit. Ich meine, in der heutigen Nationalmannschaft sucht man eigentlich vergeblich nach solch kantigen Figuren. Sind die Ihnen nicht alle zu brav?
Netzer: Ja. Ich bemängele seit einiger Zeit, dass wir einen Mangel an Persönlichkeit haben. Das ist vorhanden seit längerer, längerer Zeit in unserer Nationalmannschaft, dass es Vorreiter gibt, dass es Spieler gibt, die sich verantwortlich machen für das ganze Gebilde, die vorangehen, auch Widrigkeiten in Kauf nehmen, gegen den Strom schwimmen.
All diese Dinge gibt es heute weniger, weil man doch sehr zufrieden sein kann mit dem, was man Tag für Tag im Alltag erlebt. Sie leben in einer Phase, wo sie durch die Vereine großartig bezahlt werden, wo sie ein wunderschönes Fußballerleben haben. Dem Fußball geht es so gut, und den Spielern geht es so gut wie zu keiner Zeit.
All dieses fordert das nicht heraus, was noch zu unserer Zeit notwendig war: Auseinandersetzungen mit dem Trainer sachlicher Natur, fachlicher Natur, sich zu behaupten tatsächlich auch auf dem Platz, wenn irgendwas nicht stimmt. Das ist etwas so in Vergessenheit geraten.
Das empfinden die Spieler der heutigen Zeit wahrscheinlich nicht mehr so, wie wir das empfunden haben. Deswegen gibt es auch da nicht so große Unterschiede in der Darstellung der Spieler. Sie präsentieren sich auch nicht als solche. Selbst die großen Stars, die wir haben, treten nicht so prägnant auf, wie es schon mal gewesen ist, und das macht eigentlich den großen Unterschied zu der damaligen Zeit.
Scholl: Bleiben wir noch mal bei den Typen, Günter Netzer. Sie wurden zur Legende, nicht nur weil Sie ein genialer Spieler waren, sondern auch durch den Lebensstil, den Sie damals verkörperten in den Siebzigern, Sie waren so etwas wie ein Rockstar-Fußballer. Sie hatten lange Haare in einer Zeit, als man Schüler deswegen noch von der Schule verwies, Sie fuhren tolle Sportwagen, zeigten sich mit eleganten Frauen. Würde Sie Jogi Löw Sie heute überhaupt noch mitnehmen zur WM?
Netzer: Hochinteressant! Meine Daseinsberechtigung in der damaligen Zeit war auch nur die, dass ich erstklassig Fußball gespielt habe. Alle haben gesagt, das ist ein Verrückter, der hat nicht alle beisammen, aber wir müssen ihn akzeptieren, weil er vernünftig Fußball spielt. Das war meine Eintrittskarte eigentlich dafür, dass mir vieles gestattet wurde, was man eigentlich auch nicht tut. Das ist so gewesen, ich habe das so empfunden, dass ich so leben möchte.
Das hat keinen großen Schaden angerichtet, es gab einige Ausraster natürlich auf diesem Sektor, die man hätte nicht dulden sollen, aber wie gesagt, die Leistungen unter dem Strich waren entscheidend. Der wirklich sehr, sehr konsequente und harte Hennes Weisweiler, der hätte das nicht geduldet.
Wenn er nicht gewusst hätte, da habe ich einen Spieler, der macht sich für vieles verantwortlich, der ist der unbedingte Kopf meiner Mannschaft, der hat eine Qualität als Fußballspieler, die außergewöhnlich ist, der bringt mir, von Spiel zu Spiel bringt er mir so viel, lass ihn ein wenig verrückt sein, ich kann damit leben, und die Mannschaft kann auch damit leben.
Scholl: Wenn Ihr Name fällt, Herr Netzer, erzählt jeder Fußballkenner, wie Sie sich 1973 beim Pokalfinale in Ihrem allerletzten Spiel für Mönchengladbach gewissermaßen selbst einwechselten und prompt das Siegtor schossen. War das eigentlich wirklich so, haben Sie zu Hennes Weisweiler gesagt, dem Trainer, ich geh’ jetzt rein?
Netzer: Ja, es war ganz genau so. Das ist eine Geschichte eigentlich, die ja am Spieltag beginnt, von der Nichtberücksichtigung bis zu dem Gedanken, dass ich nach Hause fahren wollte. Das ist eigentlich eine Story für einen schlechten Film, für einen kitschigen Film, wo man sagt: Oh Gott noch mal, das ist ja furchtbar, jetzt geht das auch noch gut aus, und der Held, der verletzte Held, der missverstandene Held schießt jetzt auch noch das Siegtor und zeigt diesem bösen, alten Trainermann da, der kriegt die gerechte Strafe. Nein, es ist Realität gewesen, es ist wirklich Realität gewesen, das was nie passiert ist, was in den nächsten 100 Jahren auch nie passieren wird, alle Dinge sprachen gegen mich.
Es ist bis zum heutigen Tag für mich nicht erklärlich, wieso ich mir aus heiterem Himmel die Trainingsjacke ausgezogen habe, aus heiterem Himmel an der Trainerbank vorbeigelaufen bin, dem Weisweiler ganz lapidar mitgeteilt habe, ich spiele dann jetzt, ich meine, und dann in der Phase nach 20 Sekunden auch noch ein Tor schieße.
Ich sage Ihnen, ich habe mit dem Rainer Bonhof, auch ein Nationalspieler, junger Bursche damals, mit dem habe ich jahrelang Doppelpässe geübt, der hat noch nie in seinem Leben einen Doppelpass mit mir hingebracht. In der Sekunde spielt er den Doppelpass seines Lebens, ich treffe den Ball mit der völlig falschen Seite, wenn ich ihn richtig schulbuchmäßig treffe, wird es ein harmloser Roller. Er rutscht mir irgendwo ab, der Ball landete auch wirklich im Tor.
All diese Glücksumstände, die in diesem Augenblick vorhanden waren, das kann es einfach nicht mehr geben, aber es passt zu dieser Geschichte. Und deswegen sage ich, wir sind arm in der heutigen Zeit an Geschichten. Die Spieler haben nicht mehr so viel zu erzählen, wie wir eigentlich in unserer Zeit jeder eine Geschichte zu erzählen hatte. Das ist ein wenig schade.
Scholl: Wenn Sie sich die heutige Szenerie im Profifußball anschauen, Herr Netzer, wären Sie eigentlich noch gerne als Spieler dabei?
Netzer: Ist hochinteressant, diese Frage. Ich sitze immer mit dem Franz Beckenbauer zusammen, und wir sagen unisono, wir würden nicht gerne in der heutigen Zeit leben. Wir würden gern das nehmen, was die heute verdienen, selbstverständlich, blöd sind wir ja nicht, aber wir würden nicht gerne in der heutigen Zeit spielen, weil wir haben Fußball anders erlebt, das kann uns keiner mehr nehmen, was wir da erlebt haben. Heutige Zeit unmöglich, weil alles transparent ist, weil man sich viele Dinge natürlich auch, fast alle Dinge nicht mehr erlauben kann, die wir uns erlaubt haben.
Scholl: Zum Schluss, Günter Netzer, muss natürlich noch diese Frage an den Kommentator und Experten kommen: Was erwarten Sie von der deutschen Mannschaft in Südafrika?
Netzer: Die Deutschen gehören nicht zu meinen Favoriten. Ich sage immer, wenn Brasilien mitspielt, ist Brasilien Favorit. Die Spanier, eine bemerkenswerte Mannschaft, die ganz oben in der Favoritenliste steht, zu Recht, weil sie haben das beibehalten, was sie in bravouröser Art und Weise 2008 gespielt haben, in dem sie Europameister wurden. Aber zum ersten Mal denke ich an die Engländer.
Es ist nicht meine Art, an die Engländer zu denken, weil die spielen immer noch so ein bisschen einen primitiven Fußball. Engländer sind nicht die Mannschaften, die großen Mannschaften, die da spielen, Arsenal hat überhaupt keinen Engländer in seiner Mannschaft und Chelsea auch gespickt mit ausländischen Spielern, die die Qualität ausmachen, also nicht typisch englisch.
Ich denke da eher an Fabio Capello, den Trainer, der großartige Arbeit leistet da drüben, sie getrimmt hat auf Erfolg als typischer Italiener, getrimmt hat auf Erfolg. Und ich kann den Deutschen nur raten, dass sie nicht im Achtelfinale schon auf die Engländer treffen sollten, weil da sind sie in ganz, ganz großer Gefahr.
Scholl: Aber die Deutschen gewinnen immer gegen die Engländer, Herr Netzer!
Netzer: Nur alles hat irgendwann mal ein Ende, ich hoffe nicht, dass es diesmal der Fall ist, dass wir wieder, trotz unserer schlechten Leistungen in den letzten zwei Jahren in diesen Freundschaftsspielen, außer zwei guten Spielen gegen die Russen, zwei Halbzeiten, dass wir wieder mal auf den Knopf drücken können und sagen, jetzt ist Weltmeisterschaft, jetzt kann man das alles vergessen, was man vorher gesehen hat, wir Deutschen sind eine Turniermannschaft, wir sind steigerungsfähig, wir werden bis ins Finale marschieren, dann sind wir alle glücklich.
Scholl: Und Ihr Entschluss, Herr Netzer, dass diese WM Ihre letzte sein wird, die Sie mit Gerhard Delling für die ARD kommentieren, steht unwiderruflich fest?
Netzer: Absolut. Ich weiß auch, dass es die richtige Entscheidung ist. Ich habe das immer in meinen verschiedenen Karrieren gemacht, dass ich den richtigen Zeitpunkt gefunden habe - für mich persönlich, es geht nur um mich persönlich, nicht dass - wie das draußen empfunden wird - dass ich gesagt habe, ja, es ist der richtige Zeitpunkt aufzuhören. Glauben Sie mir, ich kokettiere wirklich nicht damit, ich kann mich auch nicht mehr hören. Ich habe so viel erzählt über Fußball, ich kann mich wirklich nicht mehr hören. Es muss jetzt wirklich eine Pause entstehen.
Scholl: Aber, Herr Netzer, Sie werden eine Menge Bettelpost bekommen von vielen, vielen Zuschauern, die Sie sich zurückwünschen.
Netzer: Ist das nicht schön, wenn man das nicht will, dass ich aufhöre? Das ist doch wirklich eine Bestätigung dessen, dass ich da wirklich richtig liege. Ich habe es auch wunderbar genossen, ich habe diese, 13 Jahre sind es ja inzwischen her, das ist ja fantastisch, dass es so lange gehalten hat, habe ich wirklich bei jedem Länderspiel genossen. Es war nie eine Tortur, sonst hätte ich es auch nie machen können. Das ist eine wunderschöne Zeit gewesen, die jetzt auch richtigerweise abgeschlossen wird.
Scholl: Dann freuen wir uns auf Ihren finalen Auftritt und wünschen Ihnen spannende und schöne Wochen in Südafrika, Günter Netzer! Herzlichen Dank für das Gespräch!
Netzer: Ich danke Ihnen!
Er kommentiert wieder bei der WM fürs Fernsehen, und wir haben Günter Netzer vor seiner Abreise nach Südafrika erwischt.
Morgen beginnt sie nun endlich, die Fußball-Weltmeisterschaft, und einer, den wir dann allabendlich bei der ARD im Fernsehen auftreten sehen werden, wird Günter Netzer sein, als Experte und Kommentator.
Als Fußballer ist er eine Legende. Er war einer der besten deutschen Spieler in der Liga bei Borussia Mönchengladbach, dann bei Real Madrid und, wenn auch nur kurz, in der Nationalmannschaft. Vor seiner Abreise nach Südafrika hatten wir die Gelegenheit, mit Günter Netzer zu sprechen, und ich habe ihn zunächst gefragt, wie groß die physischen wie psychischen Belastungen sind, die ein Spieler heutzutage auszuhalten hat. Sind diese Belastungen auch größer als früher?
Günter Netzer: Der Druck auf die Spieler und die physischen Anstrengungen sind immens geworden im Verhältnis zu unserer Zeit, das ist aber nicht legitim, dass man das generationsübergreifend miteinander vergleicht. Wir haben ganz andere Bedingungen vorgefunden, als es heute der Fall ist. Wenn ich allein an die medizinische Abteilung denke, dann kann man das ja gar nicht mehr miteinander vergleichen.
Die Operationsmethoden allein für einen Meniskus waren derartig unterschiedlich, dass es heute 14 Tage dauert und bei uns war schon das Karriereende vorauszusehen. All dieses hat sich zugunsten der heutigen Generation natürlich enorm verändert. Natürlich ist vieles anders geworden, der Druck der Öffentlichkeit, der Medien ist ein erhöhter geworden, aber das gehört einfach zu der Qualität der Spieler dazu, dass sie dem standhalten, dass sie dem gewachsen sind und dass sie trotzdem gute Leistungen bringen.
Scholl: Physisch wie psychisch stark soll, muss ein Spieler sein, und dann wünscht man sich ja auch immer noch eine Persönlichkeit, ein Profil, so den individuellen Charakter. Oliver Kahn war so ein Typ, Sie auch, Günter Netzer, in Ihrer Zeit. Ich meine, in der heutigen Nationalmannschaft sucht man eigentlich vergeblich nach solch kantigen Figuren. Sind die Ihnen nicht alle zu brav?
Netzer: Ja. Ich bemängele seit einiger Zeit, dass wir einen Mangel an Persönlichkeit haben. Das ist vorhanden seit längerer, längerer Zeit in unserer Nationalmannschaft, dass es Vorreiter gibt, dass es Spieler gibt, die sich verantwortlich machen für das ganze Gebilde, die vorangehen, auch Widrigkeiten in Kauf nehmen, gegen den Strom schwimmen.
All diese Dinge gibt es heute weniger, weil man doch sehr zufrieden sein kann mit dem, was man Tag für Tag im Alltag erlebt. Sie leben in einer Phase, wo sie durch die Vereine großartig bezahlt werden, wo sie ein wunderschönes Fußballerleben haben. Dem Fußball geht es so gut, und den Spielern geht es so gut wie zu keiner Zeit.
All dieses fordert das nicht heraus, was noch zu unserer Zeit notwendig war: Auseinandersetzungen mit dem Trainer sachlicher Natur, fachlicher Natur, sich zu behaupten tatsächlich auch auf dem Platz, wenn irgendwas nicht stimmt. Das ist etwas so in Vergessenheit geraten.
Das empfinden die Spieler der heutigen Zeit wahrscheinlich nicht mehr so, wie wir das empfunden haben. Deswegen gibt es auch da nicht so große Unterschiede in der Darstellung der Spieler. Sie präsentieren sich auch nicht als solche. Selbst die großen Stars, die wir haben, treten nicht so prägnant auf, wie es schon mal gewesen ist, und das macht eigentlich den großen Unterschied zu der damaligen Zeit.
Scholl: Bleiben wir noch mal bei den Typen, Günter Netzer. Sie wurden zur Legende, nicht nur weil Sie ein genialer Spieler waren, sondern auch durch den Lebensstil, den Sie damals verkörperten in den Siebzigern, Sie waren so etwas wie ein Rockstar-Fußballer. Sie hatten lange Haare in einer Zeit, als man Schüler deswegen noch von der Schule verwies, Sie fuhren tolle Sportwagen, zeigten sich mit eleganten Frauen. Würde Sie Jogi Löw Sie heute überhaupt noch mitnehmen zur WM?
Netzer: Hochinteressant! Meine Daseinsberechtigung in der damaligen Zeit war auch nur die, dass ich erstklassig Fußball gespielt habe. Alle haben gesagt, das ist ein Verrückter, der hat nicht alle beisammen, aber wir müssen ihn akzeptieren, weil er vernünftig Fußball spielt. Das war meine Eintrittskarte eigentlich dafür, dass mir vieles gestattet wurde, was man eigentlich auch nicht tut. Das ist so gewesen, ich habe das so empfunden, dass ich so leben möchte.
Das hat keinen großen Schaden angerichtet, es gab einige Ausraster natürlich auf diesem Sektor, die man hätte nicht dulden sollen, aber wie gesagt, die Leistungen unter dem Strich waren entscheidend. Der wirklich sehr, sehr konsequente und harte Hennes Weisweiler, der hätte das nicht geduldet.
Wenn er nicht gewusst hätte, da habe ich einen Spieler, der macht sich für vieles verantwortlich, der ist der unbedingte Kopf meiner Mannschaft, der hat eine Qualität als Fußballspieler, die außergewöhnlich ist, der bringt mir, von Spiel zu Spiel bringt er mir so viel, lass ihn ein wenig verrückt sein, ich kann damit leben, und die Mannschaft kann auch damit leben.
Scholl: Wenn Ihr Name fällt, Herr Netzer, erzählt jeder Fußballkenner, wie Sie sich 1973 beim Pokalfinale in Ihrem allerletzten Spiel für Mönchengladbach gewissermaßen selbst einwechselten und prompt das Siegtor schossen. War das eigentlich wirklich so, haben Sie zu Hennes Weisweiler gesagt, dem Trainer, ich geh’ jetzt rein?
Netzer: Ja, es war ganz genau so. Das ist eine Geschichte eigentlich, die ja am Spieltag beginnt, von der Nichtberücksichtigung bis zu dem Gedanken, dass ich nach Hause fahren wollte. Das ist eigentlich eine Story für einen schlechten Film, für einen kitschigen Film, wo man sagt: Oh Gott noch mal, das ist ja furchtbar, jetzt geht das auch noch gut aus, und der Held, der verletzte Held, der missverstandene Held schießt jetzt auch noch das Siegtor und zeigt diesem bösen, alten Trainermann da, der kriegt die gerechte Strafe. Nein, es ist Realität gewesen, es ist wirklich Realität gewesen, das was nie passiert ist, was in den nächsten 100 Jahren auch nie passieren wird, alle Dinge sprachen gegen mich.
Es ist bis zum heutigen Tag für mich nicht erklärlich, wieso ich mir aus heiterem Himmel die Trainingsjacke ausgezogen habe, aus heiterem Himmel an der Trainerbank vorbeigelaufen bin, dem Weisweiler ganz lapidar mitgeteilt habe, ich spiele dann jetzt, ich meine, und dann in der Phase nach 20 Sekunden auch noch ein Tor schieße.
Ich sage Ihnen, ich habe mit dem Rainer Bonhof, auch ein Nationalspieler, junger Bursche damals, mit dem habe ich jahrelang Doppelpässe geübt, der hat noch nie in seinem Leben einen Doppelpass mit mir hingebracht. In der Sekunde spielt er den Doppelpass seines Lebens, ich treffe den Ball mit der völlig falschen Seite, wenn ich ihn richtig schulbuchmäßig treffe, wird es ein harmloser Roller. Er rutscht mir irgendwo ab, der Ball landete auch wirklich im Tor.
All diese Glücksumstände, die in diesem Augenblick vorhanden waren, das kann es einfach nicht mehr geben, aber es passt zu dieser Geschichte. Und deswegen sage ich, wir sind arm in der heutigen Zeit an Geschichten. Die Spieler haben nicht mehr so viel zu erzählen, wie wir eigentlich in unserer Zeit jeder eine Geschichte zu erzählen hatte. Das ist ein wenig schade.
Scholl: Wenn Sie sich die heutige Szenerie im Profifußball anschauen, Herr Netzer, wären Sie eigentlich noch gerne als Spieler dabei?
Netzer: Ist hochinteressant, diese Frage. Ich sitze immer mit dem Franz Beckenbauer zusammen, und wir sagen unisono, wir würden nicht gerne in der heutigen Zeit leben. Wir würden gern das nehmen, was die heute verdienen, selbstverständlich, blöd sind wir ja nicht, aber wir würden nicht gerne in der heutigen Zeit spielen, weil wir haben Fußball anders erlebt, das kann uns keiner mehr nehmen, was wir da erlebt haben. Heutige Zeit unmöglich, weil alles transparent ist, weil man sich viele Dinge natürlich auch, fast alle Dinge nicht mehr erlauben kann, die wir uns erlaubt haben.
Scholl: Zum Schluss, Günter Netzer, muss natürlich noch diese Frage an den Kommentator und Experten kommen: Was erwarten Sie von der deutschen Mannschaft in Südafrika?
Netzer: Die Deutschen gehören nicht zu meinen Favoriten. Ich sage immer, wenn Brasilien mitspielt, ist Brasilien Favorit. Die Spanier, eine bemerkenswerte Mannschaft, die ganz oben in der Favoritenliste steht, zu Recht, weil sie haben das beibehalten, was sie in bravouröser Art und Weise 2008 gespielt haben, in dem sie Europameister wurden. Aber zum ersten Mal denke ich an die Engländer.
Es ist nicht meine Art, an die Engländer zu denken, weil die spielen immer noch so ein bisschen einen primitiven Fußball. Engländer sind nicht die Mannschaften, die großen Mannschaften, die da spielen, Arsenal hat überhaupt keinen Engländer in seiner Mannschaft und Chelsea auch gespickt mit ausländischen Spielern, die die Qualität ausmachen, also nicht typisch englisch.
Ich denke da eher an Fabio Capello, den Trainer, der großartige Arbeit leistet da drüben, sie getrimmt hat auf Erfolg als typischer Italiener, getrimmt hat auf Erfolg. Und ich kann den Deutschen nur raten, dass sie nicht im Achtelfinale schon auf die Engländer treffen sollten, weil da sind sie in ganz, ganz großer Gefahr.
Scholl: Aber die Deutschen gewinnen immer gegen die Engländer, Herr Netzer!
Netzer: Nur alles hat irgendwann mal ein Ende, ich hoffe nicht, dass es diesmal der Fall ist, dass wir wieder, trotz unserer schlechten Leistungen in den letzten zwei Jahren in diesen Freundschaftsspielen, außer zwei guten Spielen gegen die Russen, zwei Halbzeiten, dass wir wieder mal auf den Knopf drücken können und sagen, jetzt ist Weltmeisterschaft, jetzt kann man das alles vergessen, was man vorher gesehen hat, wir Deutschen sind eine Turniermannschaft, wir sind steigerungsfähig, wir werden bis ins Finale marschieren, dann sind wir alle glücklich.
Scholl: Und Ihr Entschluss, Herr Netzer, dass diese WM Ihre letzte sein wird, die Sie mit Gerhard Delling für die ARD kommentieren, steht unwiderruflich fest?
Netzer: Absolut. Ich weiß auch, dass es die richtige Entscheidung ist. Ich habe das immer in meinen verschiedenen Karrieren gemacht, dass ich den richtigen Zeitpunkt gefunden habe - für mich persönlich, es geht nur um mich persönlich, nicht dass - wie das draußen empfunden wird - dass ich gesagt habe, ja, es ist der richtige Zeitpunkt aufzuhören. Glauben Sie mir, ich kokettiere wirklich nicht damit, ich kann mich auch nicht mehr hören. Ich habe so viel erzählt über Fußball, ich kann mich wirklich nicht mehr hören. Es muss jetzt wirklich eine Pause entstehen.
Scholl: Aber, Herr Netzer, Sie werden eine Menge Bettelpost bekommen von vielen, vielen Zuschauern, die Sie sich zurückwünschen.
Netzer: Ist das nicht schön, wenn man das nicht will, dass ich aufhöre? Das ist doch wirklich eine Bestätigung dessen, dass ich da wirklich richtig liege. Ich habe es auch wunderbar genossen, ich habe diese, 13 Jahre sind es ja inzwischen her, das ist ja fantastisch, dass es so lange gehalten hat, habe ich wirklich bei jedem Länderspiel genossen. Es war nie eine Tortur, sonst hätte ich es auch nie machen können. Das ist eine wunderschöne Zeit gewesen, die jetzt auch richtigerweise abgeschlossen wird.
Scholl: Dann freuen wir uns auf Ihren finalen Auftritt und wünschen Ihnen spannende und schöne Wochen in Südafrika, Günter Netzer! Herzlichen Dank für das Gespräch!
Netzer: Ich danke Ihnen!