"Die deutsche Staatsanwaltschaft kann nicht im Ausland ermitteln"

Constanze Stelzenmüller im Gespräch mit Susanne Führer · 10.11.2009
Hat Bundeswehroberst Georg Klein bei dem angeordneten Angriff auf einen Tanklaster bei Kundus seine Kompetenzen überschritten und falsch gehandelt? Über rechtliche Fragen in diesem Zusammenhang äußerte sich die Juristin Constanze Stelzenmüller vom German Marshall Fund.
Susanne Führer: 4. September 2009. Bundeswehroberst Klein ordnet an, zwei Tanklastzüge, die von den Taliban gekapert worden waren und dann in Kundus feststeckten, zu bombardieren. Viele Menschen starben bei diesem Bombenangriff, auch Zivilisten. Höchstwahrscheinlich – denn wie viele gestorben sind, ist bis heute unklar, der NATO-Bericht nennt 17 bis 142.

War das nun rechtens, diese Bombardierung oder nicht? Und wer hat das zu klären? Und rechtens nach welchem Recht? Muss das deutsche Strafgesetz angewandt werden oder das Völkerrecht? Brauchen wir also eine eigene Staatsanwaltschaft für Soldaten oder gar eine eigene Militärgerichtsbarkeit?

Der Vorfall aus Kundus wirft eine ganze Menge Fragen auf, die uns hoffentlich die Juristin Constanze Stelzenmüller vom German Marshall Fund beantworten wird. Guten Morgen, Frau Stelzenmüller!

Constanze Stelzenmüller: Guten Morgen, Frau Führer!

Führer: Fangen wir mal ganz vorne an: Wie ist es eigentlich jetzt, wann nimmt die oder eine Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen deutsche Soldaten auf?

Stelzenmüller: Das ist relativ klar geregelt, und das und zwar richtet sich nach dem letzten innerdeutschen Wohnort des Soldaten, gegen den ermittelt wird. Das heißt, wenn der Soldat aus der Kaserne Ulm kommt, dann wird die Ulmer Staatsanwaltschaft ermitteln.

Führer: Die ist zuständig, aber in welchem Fall ermittelt sie überhaupt, also bei welchen Vorfällen?

Stelzenmüller: Wenn vermutet wird, dass der Soldat sich nach deutschem Recht und Gesetz strafbar gemacht hat. Die Fälle, die in der Öffentlichkeit bekannt geworden sind, sind Fälle von vorsätzlichen Tötungen. Meistens waren das sozusagen, passiert so was bei Wachen, der Fall Klein fällt natürlich auch in diesen Bereich.

Führer: Im Dezember vergangenen Jahres, da gab es das erste Mal Ermittlungen gegen einen Soldaten in Afghanistan, der eine Frau und zwei Kinder erschossen hatte. Aber ich verstehe nicht so recht, wie wird denn dann überhaupt ermittelt, denn die deutsche Staatsanwaltschaft darf ja nicht in Afghanistan ermitteln.

Stelzenmüller: Ja, das ist alles doch, sagen wir mal, sehr umständlich geregelt und im Grunde genommen ist das sozusagen, ist die Konstruktion eine, die nur in Maßen funktioniert. Also die deutsche Staatsanwaltschaft kann in der Tat nicht im Ausland ermitteln, sie muss dann Instanzen der Bundeswehr – das sind im Zweifelsfall dann die Feldjäger – um Amtshilfe bitten, die dann für sie sozusagen die Recherchen vor Ort machen. Das ist eigentlich eine unsaubere Lösung.

Führer: Also eine unsaubere Konstruktion, sagen Sie, insofern nehme ich an, dass Sie Verständnis haben für die Forderung der FDP, eine zentrale Staatsanwaltschaft einzurichten, die dann also für alle Militäreinsätze zuständig wäre?

Stelzenmüller: Dafür habe ich eine ganze Menge Verständnis, muss ich sagen, aus verschiedenen Gründen. Erstens, weil zwar in der Tat bei möglichen Straftaten deutscher Soldaten im Ausland das deutsche Strafrecht anwendbar ist. Wir haben kein eigenes Militärstrafrecht im Sinne eines eigenen Militärstrafgesetzbuchs, wie es beispielsweise die Amerikaner haben mit dem Uniform Code of Military Justice.

Bei uns gilt das allgemeine Strafrecht, allerdings mit Ergänzungsbestimmungen, und diese Ergänzungsbestimmungen kommen aus dem Wehrrecht beziehungsweise möglicherweise aus dem Völkerrecht. So. Um die richtig anwenden zu können, muss ein Staatsanwalt erst doch mal was auch von militärischen Einsätzen verstehen, also nicht nur von den Einsatzbedingungen vor Ort, sondern auch von den besonderen rechtlichen Regelungen, den sogenannten Einsatzregeln, die das Verhalten von Soldaten vor Ort bestimmen.

Führer: Aber ist es denn nicht immer so, dass Staatsanwälte mit Materien befasst sind, wo sie nicht unbedingt Experten sind? Ein dpa-Kommentar lautete: Es gibt sicher mehr Verfahren, in denen Klempner pfuschen, und trotzdem gibt es keine eigene Klempner-Staatsanwaltschaft.

Stelzenmüller: Also Entschuldigung, das halte ich nun wirklich für einen völlig abwegigen Vergleich. Erstens ist es in Wirklichkeit so, dass die deutsche, nicht nur die deutsche Strafjustiz, sondern gerade bei Schadensersatzklagen, die ja sozusagen in Deutschland sehr gerne betrieben werden, gibt es eine hoch spezialisierte Gerichtsbarkeit, zumindest de facto, weil das inzwischen so ausgereizt ist, dass man teilweise das gar nicht mehr versteht.

Also gerade bei Arzthaftung zum Beispiel, das ist der klassische Fall, der würde sich also, das sind dann immer spezialisierte Anwälte und auch Staatsanwaltschaften, das geht gar nicht anders. Man muss wirklich was von der Materie verstehen, und ich würde sagen, das ist bei Auslandseinsätzen genauso.

Es ist eigentlich einem normalen Staatsanwalt nicht zuzumuten, sich durch diese Dinge durchzuquälen, das ist auch sehr schwer zu verstehen, und es ist auch nicht wirklich gut für die sozusagen, wie soll ich sagen, die ordentliche Rechtspflege, wenn man sich vor Ort auf Angehörige der Bundeswehr, die möglicherweise Kameraden des eventuell Angeklagten, also des Menschen, gegen den ermittelt wird, verlassen muss.

Führer: Gut, Frau Stelzenmüller, kommen wir noch mal zurück zu dieser Forderung, eine zentrale Staatsanwaltschaft in Deutschland – also vorgeschlagen wurde die in Potsdam – soll dann immer die Ermittlung führen. Wäre das dann schon eine eigene Gerichtsbarkeit, ein eigenes Militärgericht?

Stelzenmüller: Nein. Also wie schon gesagt, es geht hier zunächst mal um Ermittlungsinstanzen, die was verstehen von dem, was sie da tun, und die sozusagen die Bedingungen vor Ort verstehen und die auch die besonderen rechtlichen und taktischen Regeln, unter denen Soldaten operieren müssen, verstehen und deshalb sozusagen angemessen urteilen können. Es geht ja nicht darum, dass sie besonders streng oder besonders freundlich urteilen können sollen, sondern zunächst mal, dass sie verstehen, wie solche Verhaltensformen oder wie solche schrecklichen Unfälle wie der in Kundus entstehen können.

Führer: Deutschlandradio Kultur, ich spreche mit Constanze Stelzenmüller über die Frage, welches Gericht und welches Recht für deutsche Soldaten im Auslandseinsatz zuständig ist. Welches Recht, Frau Stelzenmüller, denn die Bundeswehrsoldaten – Sie haben es eingangs gesagt –, die unterstehen dem deutschen Recht und dem Völkerrecht. Jetzt hat in diesem aktuellen Fall Kundus ja die Dresdner Staatsanwaltschaft das erst mal an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe abgegeben, das ist alles kompliziert, und da geht es um die Frage, ob es sich in Afghanistan um einen bewaffneten Konflikt handelt, dann wäre das Völkerrecht zuständig. Warum ist das so entscheidend?

Stelzenmüller: Ach, da sind wir auf einem ganz komplizierten Gebiet - all diese Sachen sind kompliziert.

Führer: Vielleicht kann man es doch leicht verständlich erklären. Frau Stelzenmüller, Sie können das.

Stelzenmüller: Ja, das sagen Sie so, das ist tatsächlich gar nicht so leicht.

Führer: Kann man also – darf ich es mal ganz platt sagen – kann man sagen, dass das deutsche Strafrecht, das ist ja sozusagen nicht für bewaffnete Konflikte ausgedacht worden, dass das sozusagen strengere Regeln hat, wann ich von der Schusswaffe Gebrauch machen darf, wie es so schön heißt, also sozusagen als das Völkerrecht?

Stelzenmüller: Nein, es ist umgekehrt …

Führer: Oh!

Stelzenmüller: … das stimmt beides nicht ganz. Es ist eigentlich so, dass die Einsatzregeln der deutschen Soldaten vor Ort strengere Regeln vorsehen für den Gebrauch der Schusswaffe als beispielsweise für einen Polizisten in Deutschland gelten würden. Der Polizist darf sozusagen auf den Flüchtenden schießen, um ihn zu stoppen. Der Soldat darf, wenn der Angriff als solcher beendet ist, nicht mehr schießen. Und es hat deshalb Vorschläge gegeben, unter anderem von der FDP, diese Einsatzregeln deshalb auszuweiten.

Das ist etwas übrigens, worüber sich auch unsere Alliierten immer wieder beschwert haben, nicht nur in diesem, sondern auch im Zusammenhang - unsere Einsatzregeln sind in der Tat besonders rigide. Dafür kann man eine ganze Menge Verständnis haben, das hat, glaube ich, historische Gründe, das ist eine Rücksichtnahme auf die großen Empfindlichkeiten des deutschen Publikums. Das ist ein Versuch letztlich der Militärführung in Deutschland sozusagen, auf die Sorgen und die Ängste der deutschen Öffentlichkeit Rücksicht zu nehmen. …

Führer: Gut, das sind die …

Stelzenmüller: Sehr ehrenwert, aber möglicherweise problematisch für die Soldaten in ihrer täglichen Arbeit.

Führer: Ja, das sind die Einsatzregeln für deutsche Soldaten, aber bei der Frage, ob jetzt Karlsruhe zuständig ist, geht es um die Frage, ob das Völkerrecht angewandt werden sollte, und das ist ja …

Stelzenmüller: Ich muss Ihnen sagen, das ist eine wirklich ganz komplexe Frage, die so einfach und auch durch mich in diesem Radiogespräch nicht zu klären ist. Das ist etwas, was möglicherweise mit den Juristen des Bundesverteidigungsministeriums zu verhandeln ist und woran dann auch ziemlich diffizile politische Erwägungen hängen.

Führer: Dann kommen wir noch mal zurück zu der Forderung nach den eigenen Militärgerichten. Das erlaubt das Grundgesetz laut Artikel 96 ja. Der zentrale Satz dort lautet: "Der Bund kann Wehrstrafgerichte für die Streitkräfte als Bundesgerichte einrichten." Glauben Sie, dass das zurzeit in Deutschland politisch durchsetzbar wäre?

Stelzenmüller: Ich glaube nicht, dass man das nicht als ein politisches Problem betrachten sollte. Es geht hier letztlich darum – das sollte man nicht vergessen –, den Notwendigkeiten des Einsatzes und den Interessen und auch Nöten der Soldaten vor Ort gerecht zu werden. Es geht darum, dass das, was immer sie tun in möglicherweise einer tragischen Notlage, gerecht und angemessen beurteilt wird.

Dazu muss der ermittelnde Staatsanwalt, dazu muss der Richter eventuell besondere Kenntnisse haben, und zwar faktische Kenntnisse und juristische Kenntnisse, die von einem sozusagen durchschnittlichen deutschen Landstrafrichter einfach nicht zu erwarten sind und nicht verlangt werden können. Das heißt, angesichts der Tatsache, dass wir uns eingerichtet haben – eigentlich schon in den letzten zehn Jahren – auf eine Bundeswehr, für die der Normalfall der Einsatz ist, ist es möglicherweise angemessen, es ist auf jeden Fall bedenkenswert, entsprechend eine Strafgerichtsbarkeit zu finden, zu konstruieren, wo das Grundgesetz, wie Sie selber sagen, erlaubt ist.

Führer: Also auf jeden Fall spiegelt ja die aktuelle Diskussion die tatsächliche Lage wider, dass eben, wie Sie gesagt haben, in den letzten zehn Jahren immer mehr deutsche Soldaten im Ausland eingesetzt werden und auch in Kampfeinsätzen eingesetzt werden. In anderen Staaten wie zum Beispiel den USA, ist vollkommen klar, da gibt es ein Militärgericht. Ein aktueller tragischer Fall ist ja der des Militärpsychiaters, der in Fort Hood 13 Soldaten erschossen hat, und der wird dann vor ein Militärgericht gestellt. Heißt das dann, dass dort eigene Gesetze gelten, oder ist das dann die übliche amerikanische Strafjustiz, die zur Anwendung kommt?

Stelzenmüller: Nein, wie schon gesagt, die Amerikaner haben den sogenannten Uniform Code of Military Justice, das ist ein für das Militär geschriebenes Strafgesetzbuch, das ist Anfang der 50er-Jahre entstanden. Das ist im Grunde genommen, sagen wir mal … dessen Kern ist natürlich das allgemeine amerikanische Strafrecht, aber ergänzt durch die besonderen Regeln des Völkerstrafrechts und des Wehrstrafrechts.

Wir sind bewusst – und ich glaube aus guten historischen Gründen – einen anderen Weg gegangen damals, wir haben keine eigenen Wehrstrafgerichte eingerichtet und kein eigenes Wehrstrafgesetz. Die Frage, die sich uns heute stellt, ist, ob das unter den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen der Bundeswehr wirklich noch sinnvoll ist und ob unsere Geschichte uns nötigt, von etwas Abstand zu nehmen, was das Grundgesetz sogar erlaubt. Und da würde ich sagen nein. Wie schon gesagt, es geht darum, mehr Gerechtigkeit, bessere Gerechtigkeit zu bewirken und nicht etwa darum, ein Sondergericht aufzustellen, das außerhalb des Grundgesetzes steht – davon redet hier niemand.

Führer: Die Juristin Constanze Stelzenmüller, Senior Transatlantic Fellow am German Marshall Fund – ich hoffe, ich habe das richtig ausgesprochen. Danke Ihnen herzlich für das Gespräch, Frau Stelzenmüller!

Stelzenmüller: Danke Ihnen, tschüss!