Die deutsche Krankheit

Von Monika Zimmermann |
Wenn morgen ein Wirbelsturm über das Oderbruch hinwegfegen und diese Region zerstören würde, würden sich die Deutschen im Schulterschluss üben. Eine Welle der Hilfsbereitschaft würde über das Land rollen, das ist sicher. In der Not helfen wir einander vorbildlich. Wenn es darauf ankommt, sind wir Weltmeister in der kollektiven Beseitigung von Schäden.
Warum nur gelingt es uns dann nicht, jenen Schaden in den Griff zu bekommen, den die jahrzehntelange Fehlsteuerung des Sozialstaates angerichtet hat? Weil dies keine Naturkatastrophe ist? Weil wir alle irgendwie an der Ausbeutung beteiligt sind? Weil deren Folgen nicht sichtbar genug sind?

Es ist beinahe wie eine Blockade, die uns daran hindert, das zu tun, was nötig ist, um unseren Wohlstand endlich wieder zu mehren anstatt ihn sehenden Auges immer mehr schwinden zu lassen? Warum schaffen wir nicht, was Länder wie Großbritannien, Schweden, Kanada, Irland geschafft haben: uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen und gegen den erbitterten Widerstand von Interessenvertretungen die schmerzlichen, aber notwendigen Schnitte zu vollziehen?

Das Ergebnis der Bundestagswahl ist ein Dokument dieser Mutlosigkeit. Daran ändern auch die starken Worte wenig, mit denen die neue Bundeskanzlerin das Programm ihrer großen Koalition in der letzten Woche einläutete. "Mehr Freiheit wagen" – das klingt gut und wäre auch gut. Aber die Mehrheit der Deutschen will nun mal partout keine Radikalkur. Auch jetzt immer noch nicht, nachdem sich hinreichend erwiesen hat, dass die deutsche Krankheit mit Placebos nicht zu heilen ist.

Genau dies, Placebos nämlich, wurden schon viel zu lange ausgegeben. Statt Reformen tatsächlich zu machen, haben wir viel Kraft verbraucht, über Reformen zu reden und uns deren Folgen in den schwärzesten Farben an die Wand zu malen. So hat der Mut immer nur für Reförmchen gereicht. Die Wirkung ist entsprechend und das eigentliche Ziel der Operation wurde sowieso verfehlt: Der Staat wurde nicht von Kosten entlastet, sondern weiter belastet. Die Arbeitslosigkeit wurde nicht gesenkt, sondern ist anhaltend hoch geblieben.

Wozu also die ganze Aufregung? Muss man fragen. Reformen, die nichts bringen, sind nicht etwa umsonst, sie haben eine fatale Nebenwirkung: Sie schüren die Angst vor Veränderungen, ohne dass Veränderungen tatsächlich eintreten und heilsame Wirkung entfalten. Dabei weiß jeder wie das ist bei extremen Anstrengungen, die einem zugemutet werden: Sie sind vergessen, wenn am Ende der Lohn der Angst sichtbar wird. Wenn dieses Ergebnis ausbleibt, ermüdet man schnell und will umkehren.

Genau in diesem Zustand befindet sich das Land, jetzt, wo der Neustart begonnen hat: Es ist reformmüde, obwohl es mit dem Reformieren noch gar nicht recht begonnen hat. Es wurde in den letzten Jahren so viel von Zumutungen geredet, dass viele meinen, nun sei es aber genug damit.

Der richtigen Diagnose muss aber unverzichtbar die richtige Therapie folgen und die kann nur heißen: Das Verhältnis von staatlicher Fürsorge und Eigenverantwortung des Bürgers muss endlich wieder in ein gesundes Gleichgewicht gebracht werden.

In der Tat, Frau Merkel, wir müssen wieder mehr Freiheit wagen. Dafür muss aber auch mehr Geld beim Steuerzahler bleiben und weniger in die öffentlichen Kassen fließen. Genau dieses Ziel aber droht bei der neuen Regierung gleich wieder aus dem Auge verloren zu werden. Ohne eine Reformdividende für die Bürger aber wird es nichts mit der Genesung der deutschen Seele.

Monika Zimmermann, Journalistin. Sie ist promovierte Historikerin. Sie ging schon weit vor der Wende in die DDR, damals als Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Nach der Wende führte sie als Chefredakteurin verschiedene Tageszeitungen in Ost und West u.a. die Neue Zeit, den Tagesspiegel und den Münchner Merkur. Seit kurzem ist sie zurück in Berlin und vertritt hier als Chefkorrespondentin sowohl ein Ost- wie ein Westblatt, nämlich die Mitteldeutsche Zeitung und den Kölner Stadt Anzeiger.